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b) Der strafrechtliche Überschuldungsbegriff

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Aus dem Vorstehenden werden die Schwierigkeiten bei der Ermittlung einer im Sinne der §§ 283 ff. StGB rechtlich relevanten Überschuldung deutlich. Auch wenn der Gesetzgeber sich in § 19 Abs. 2 InsO a.F. gegen die früher herrschende modifizierte Prüfungsmethode[42] entschieden hat, musste die nunmehr geltende Legaldefinition auf das Strafrecht übertragen werden. Dabei war allerdings in Folge der bloßen funktionalen Akzessorietät die Wahrscheinlichkeit der Fortführung „schuldnerfreundlich“ zu beurteilen, so dass die Fortführungswerte bereits dann angesetzt werden sollten, wenn die Fortführung nach dem tatsächlichen Stand der Dinge nicht ausgeschlossen erschien.[43] Hierbei wird über die Überlebensfähigkeit der Gesellschaft entschieden, bei der auf die Interessen der Gläubiger und damit auf die Zahlungsfähigkeit abzustellen ist.[44] Berücksichtigt werden muss aber auch die Ertragsfähigkeit.[45] Beim Nachweis der der Prognose zugrunde liegenden Tatsachen ist entsprechend dem Grundsatz in dubio pro reo Rechnung zu tragen.[46] Die seit dem 18.10.2008 geltende Fassung des § 19 Abs. 2 InsO, nach der eine Überschuldung bei positiver Fortführungsprognose ausgeschlossen ist, beseitigt zumindest temporär dieses Problem. Was den Prognosezeitraum für die Überschuldung angeht, so ist aus strafrechtlicher Sicht auf einen überschaubaren Zeitraum – bis zum Ende des folgenden Geschäftsjahres – zu begrenzen, um den Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG zu genügen.[47]

Die Überschuldung kann nur anhand einer Bilanz (Überschuldungsstatus) festgestellt werden. Die Feststellung, ob das Vermögen des Schuldners die betreffenden Verbindlichkeiten deckt, erfordert eine Vermögensbilanz[48], die von der Handelsbilanz abweicht und Korrekturen erfordert. Gleichwohl kann die Handelsbilanz als Ausgangspunkt für den Überschuldungsstatus dienen. Anzusetzen sind alle vermögenswerten und verwertbaren Aktivposten und alle „echten“ Verbindlichkeiten.

Auf der Aktivseite[49] sind alle Vermögenswerte zu berücksichtigen, die im Insolvenzverfahren verwertbar sind. Daher dürfen – anders als in der Handelsbilanz – stille Reserven aufgedeckt werden.[50] Ein Firmen- oder Geschäftswert darf nur in Ansatz gebracht werden, wenn mit einer Veräußerung des Unternehmens als Ganzes zu rechnen ist. Ansprüche auf rückständige Einlagen und auf Schadensersatz gegen Gesellschafter sind zu berücksichtigen, sofern keine Zweifel an der Durchsetzbarkeit bestehen[51], nicht hingegen Ansprüche nach § 64 S. 1 und 3 GmbHG, da sie erst im Insolvenzverfahren bzw. nach Abweisung des Insolvenzverfahrens mangels Masse geltend gemacht werden können. Gegenstände, die der Gesellschaft nicht gehören oder an denen ein Aussonderungsrecht besteht, sind nicht auf der Aktivseite zu verbuchen.

Auf der Passivseite[52] sind alle Verbindlichkeiten der Gesellschaft grds. zum Nennwert anzusetzen. Bei streitigen Verbindlichkeiten ist eine Wertberichtigung vorzunehmen. Kosten des Insovenzverfahrens sind nicht zu berücksichtigen. Gleiches gilt für Gesellschafterdarlehen, es sei denn, es wurde ein qualifizierter Rangrücktritt vereinbart.

Aufgrund der Schwierigkeiten bei der Erstellung des Überschuldungsstatus konzentrieren sich in der Praxis die Strafverfolgungsorgane bei ihren Ermittlungen häufig auf solche Unternehmen, bei denen die wirtschaftlichen Probleme offensichtlich sind. Im Zweifel kommt in der Praxis eine Überschuldung – die negative Fortführungsprognose vorausgesetzt – nur dann in Frage, wenn die Passiva die Aktiva eindeutig und erheblich übersteigen.[53] Hinreichende Grundlage für eine Verurteilung ist in aller Regel die Feststellung einer gravierenden Überschuldung schon nach der Handelsbilanz. Infolge der schwierigen Beweiswürdigung fokussieren die Strafverfolgungsbehörden ihren Blick vielfach auf das Merkmal der Zahlungsunfähigkeit.[54] Dieser Insolvenzgrund zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass er wesentlich leichter nachweisbar ist und bereits beim Vorliegen eines Krisenmerkmals angenommen werden kann.[55]

3. Zahlungsunfähigkeit

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Der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit ist neben der Überschuldung ein weiterer Grund für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer natürlichen Person bzw. eines Unternehmens.[56] Nach § 17 Abs. 2 S. 1 InsO ist der Schuldner zahlungsunfähig, wenn er nicht in der Lage ist, seine fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen. Damit ist die Zahlungsunfähigkeit zunächst als stichtagsbezogenes Liquiditätsdefizit zu verstehen, das durch die Tatsache des Nichtzahlenkönnens der Verbindlichkeiten mangels verfügbarer finanzieller Mittel festzustellen ist. Es geht also um eine Illiquidität finanzieller Mittel; vorhandene liquidierbare Vermögensgegenstände sind nur insofern von Belang, als sie kurzfristig liquidiert werden können.[57]

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Der insolvenzrechtliche Begriff der Zahlungsunfähigkeit ist, wie gleich darzulegen sein wird, durch die zivilrechtliche Rechtsprechung hinreichend konkretisiert. Daher soll im Folgenden zunächst der Inhalt der insolvenzrechtlichen Zahlungsunfähigkeit nach § 17 Abs. 2 S. 1 InsO dargelegt werden,[58] um im Anschluss auf dessen strafrechtliche Auslegung einzugehen.[59] Die strafrechtliche Rechtsprechung und mit ihr Teile der Literatur haben sich eine strenge zivilrechtsakzessorische Auslegung zu eigen gemacht,[60] von der ein gewichtiger Teil der Literatur allerdings abweicht und auf eine bloß funktionale Akzessorietät des strafrechtlichen Krisenbegriffs der Zahlungsunfähigkeit abstellt.

a) Die insolvenzrechtliche Zahlungsunfähigkeit

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Nach § 17 Abs. 2 S. 2 InsO ist Zahlungsunfähigkeit in der Regel anzunehmen, wenn der Schuldner seine Zahlungen eingestellt hat. Eine Zahlungseinstellung[61] begründet insofern eine gesetzliche Vermutung für eine Zahlungsunfähigkeit, die entsprechend im Prozess widerlegt werden muss.[62] Zur Zahlungseinstellung führt der BGH in Zivilsachen in einer Entscheidung aus dem Jahr 2007 Folgendes aus:[63]

„Zahlungseinstellung ist dasjenige äußere Verhalten des Schuldners, in dem sich typischerweise eine Zahlungsunfähigkeit ausdrückt. Es muss sich also mindestens für die beteiligten Verkehrskreise der Eindruck aufdrängen, dass der Schuldner nicht in der Lage ist, seine fälligen Verpflichtungen zu erfüllen.[64] […] Die tatsächliche Nichtzahlung eines erheblichen Teils der fälligen Verbindlichkeiten reicht für eine Zahlungseinstellung aus.[65] Das gilt selbst dann, wenn tatsächlich noch geleistete Zahlungen beträchtlich sind, aber im Verhältnis zu den fälligen Gesamtschulden nicht den wesentlichen Teil ausmachen.“[66]

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Im Gegensatz zur früheren Rechtslage nach der KO kommt es nunmehr für das Unvermögen des Schuldners, fällige Zahlungspflichten zu erfüllen, weder darauf an, dass die schuldnerischen Zahlungspflichten auf Dauer und im Wesentlichen unbefriedigt bleiben,[67] noch darauf, dass der Gläubiger die Erfüllung der Zahlungspflichten ernstlich einfordert.[68]

Dies macht allerdings die Abgrenzung der Zahlungsunfähigkeit von der so genannten Zahlungsstockung, also dem kurzfristig behebbaren Mangel an flüssigen Mitteln, nicht obsolet.[69] Gleiches gilt auch für die Abgrenzung der Zahlungseinstellung nach § 17 Abs. 2 S. 2 InsO zu einer Zahlungsstockung,[70] da der Gesetzgeber eine Zahlungsstockung nicht als Zahlungsunfähigkeit ansieht. Was die Dauer angeht, so versteht es sich ausweislich der Gesetzesbegründung „von selbst, dass ein Schuldner, dem in einem bestimmten Zeitpunkt liquide Mittel fehlen (…), der sich die Liquidität aber kurzfristig wieder beschaffen kann“, nicht zahlungsunfähig i. S. d. § 17 Abs. 2 InsO ist.[71] Der BGH in Zivilsachen hat unter Hinweis auf die Insolvenzantragsfrist des § 64 Abs. 1 S. 1 GmbHG a.F. für die Annahme von Zahlungsstockungen in der Regel maximal 3 Wochen[72] zugelassen, weil sich in dieser Zeit eine kreditwürdige Person die erforderlichen Mittel zur Zahlung fälliger Verbindlichkeiten beschaffen könne.[73]

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Was das entfallene Merkmal der Wesentlichkeit angeht, so ist der Gesetzgeber dennoch davon ausgegangen, dass „ganz geringfügige Liquiditätslücken außer Betracht bleiben müssen“.[74] Dem hat sich der BGH angeschlossen[75] und, um dieses Kriterium in der Praxis handhaben zu können, eine Unterdeckung von 10 % der insgesamt bestehenden Verbindlichkeiten als angemessenen Schwellenwert angesehen.[76] Allerdings ist dieser Wert aufgrund der Tatsache, dass der Gesetzgeber sich explizit gegen die Einführung einer starren prozentualen Grenze der unerfüllten Schuldnerverbindlichkeiten zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit entschieden hat,[77] nur als ein Indizwert zur Operationalisierung der als tatbestandsmäßig zu qualifizierenden Liquiditätslücke anzusehen. Die Erreichung dieses Schwellenwertes bedeutet entsprechend eine widerlegbare Vermutung der Zahlungsunfähigkeit.[78]

Entsprechend soll nach Auffassung des BGH von dem Grundsatz abgewichen werden: Bei einer Liquiditätslücke von 10 % sei Zahlungsunfähigkeit anzunehmen, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, „dass die Liquiditätslücke demnächst vollständig oder fast vollständig beseitigt werden wird und den Gläubigern ein weiteres Zuwarten nach den besonderen Umständen des Einzelfalls zuzumuten ist“.[79]

Hinsichtlich der Beweislast führt der BGH aus, dass der Schuldner bei einem Fehlbetrag von 10 % und mehr darzutun habe, dass eine zumindest fast vollständige Beseitigung der Lücke mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit demnächst zu erwarten sei. Bei einer Lücke von weniger als 10 % obliege es dagegen dem Gläubiger zu beweisen, dass der Fehlbetrag demnächst mehr als 10 % erreichen wird.[80]

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Mit der o.g. Ausnahme bei demnächst zu erwartender Beseitigung der Deckungslücke bestätigt der BGH aber nicht nur, dass es sich bei den 10 % Unterdeckung nicht um einen starren Grenzwert für die Zahlungsunfähigkeit handelt, sondern er dehnt zugleich die 3-Wochen-Frist aus, indem er sich des Wortes „demnächst“ bzw. in den Entscheidungsgründen der Formulierung „in überschaubarer Zeit“ bedient, was wegen der Unbestimmtheit seines Inhalts in der Literatur auf berechtigte Kritik gestoßen ist.[81] Nach Fischer[82] soll man – wenn auch „mit aller Vorsicht“ – davon ausgehen können, dass grds. Verzögerungen von bis zu drei Monaten in Betracht kommen können.[83]

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Was das unter der Geltung der Konkursordnung geforderte Merkmal der ernstlichen Einforderung der Verbindlichkeitserfüllung durch den Gläubiger angeht, so bleibt zu beachten, dass nach Ansicht des BGH solche fälligen Verbindlichkeiten bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit außer Betracht bleiben müssen, die – rein tatsächlich – gestundet sind.[84] Entsprechend muss auch bei der Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit entschieden werden, ob einzelne Forderungen vom entsprechenden Gläubiger stillschweigend gestundet worden sind.[85]

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Schließlich hat der BGH die Frage, ob und wie die Zahlungsunfähigkeit beseitigt werden kann, dahingehend beantwortet, dass mit der allgemeinen Aufnahme von Zahlungen die Zahlungsunfähigkeit wegfällt.[86] Bei Stundungen von wesentlichen Verbindlichkeiten gegenüber einem der Gläubiger über einen längeren Zeitraum prüft der BGH, ob sich daneben eine allgemeine Aufnahme der Zahlungen gegenüber anderen Gläubigern feststellen lässt.[87]

b) Der strafrechtliche Krisenbegriff der Zahlungsunfähigkeit

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Unabhängig von den nunmehr in § 17 Abs. 2 InsO ausdrücklich normierten Voraussetzungen wirft der Begriff der Zahlungsunfähigkeit gerade in strafrechtlicher Hinsicht einige Probleme auf. Ein uneingeschränkter Transfer der insolvenzrechtlichen Grundsätze in das Strafrecht erscheint nicht tragbar[88] und birgt die Gefahr einer Vorverlagerung der wirtschaftlichen Krise i. S. d. § 283 StGB.[89] So zielt § 17 InsO zunächst auf die möglichst frühzeitige Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Im Gesetzgebungsverfahren wurde auf den Rückgriff auf einen bestimmten Verbindlichkeitsbruchteil verzichtet. Die in den §§ 283 ff. StGB geforderte Zahlungsunfähigkeit dient konkret der Findung der Grenze zwischen Strafwürdigkeit und wirtschaftlich notwendigem Verhalten. Es geht um die Unterscheidung zwischen noch nicht und schon strafbarem Verhalten in objektiver wie auch in subjektiver Hinsicht.[90] Zur Entwicklung forensisch verwertbarer Kriterien ist hierbei auf traditionelle Merkmale abzustellen. Abzugrenzen ist auch hier der Begriff der Zahlungsunfähigkeit von dem der Zahlungseinstellung[91] und dem der Zahlungsstockung[92]. Während die Zahlungseinstellung insolvenzrechtlich gem. § 17 Abs. 2 S. 2 InsO ein (widerlegbares) Indiz für die Zahlungsunfähigkeit darstellt, kommt ihm strafrechtliche Relevanz als objektive Bedingung der Strafbarkeit im Sinne des § 283 Abs. 6 StGB zu.[93] Die Zahlungsstockung als lediglich momentane Illiquidität ist infolge ihres zeitlich beschränkten Moments insolvenzstrafrechtlich irrelevant.

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Was die Übertragung der 3-Wochen-Frist zur Bestimmung der Zahlungsunfähigkeit angeht, so besteht für die strikte Anwendung fristgebundener Berechnungen nach § 17 Abs. 2 InsO in der Tat kein strafrechtliches Bedürfnis.[94] Die oben dargestellte insolvenzrechtliche Rechtsprechung mag zwar einem der gesetzlichen Zwecke der InsO, eine größtmögliche Massesicherung zu erreichen, folgen,[95] lässt aber zahlreiche kleinere und mittelgroße Handwerksunternehmen, Dienstleister für die öffentliche Hand sowie zahlreiche Unternehmen, die für wenige Großkunden arbeiten, unberücksichtigt, die binnen drei Wochen den Betrieb schließen müssten, obwohl sich über einen Zeitraum eines Jahres eine ausgewogene Zahlungsbilanz ergibt. Dass der Gesetzgeber nicht beabsichtigt hat, solche Unternehmen zu einem Insolvenzantrag (durch zivil- oder strafrechtliche Pflichten) zu zwingen, ergibt sich aus den Verzugsvorschriften der §§ 288, 648a BGB, die ausdrücklich auf die Verbesserung der Zahlungsbilanzen kleinerer und mittlerer Unternehmen zielen. Erst zum 1.7.2007 sind Verfahrenserleichterungen der InsO in Kraft getreten,[96] die ausdrücklich dem Ziel dienen, in einer Insolvenzantragsphase die wirtschaftliche Betätigung der Gemeinschuldnerin weiterhin zuzulassen. Auch das im Juni 2008 vom Bundestag verabschiedete Gesetz zur Modernisierung der GmbH (MoMiG)[97] zielt darauf ab, dass die Liquiditätssituation und die Ausstattung mit Eigenkapital gerade in Phasen des wirtschaftlichen Rückgangs nicht unmittelbar zur Insolvenz führen müssen.

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Zahlungsunfähigkeit im Sinne der §§ 283 ff. StGB liegt somit nur bei Ermittlung einer wesentlichen Liquiditätslücke vor. Die strafrechtliche Rechtsprechung des BGH und große Teile der Literatur folgen allerdings unter Annahme einer strengen Zivilrechtsakzessorietät[98] der zivilrechtlichen Rechtsprechung.[99] Zu beachten ist hier allerdings, dass der Beweislastregelung beim Kriterium einer zehnprozentigen Liquiditätslücke im Strafrechtprozess keine Geltung zukommen kann und zudem dem Grundsatzes „in dubio pro reo“ bei verbleibenden Zweifeln Rechnung getragen werden muss. [100]

Ein Teil der Literatur steht diesem Ansatz kritisch gegenüber, denn auch die Liquidität eines Unternehmens wird durch modernes Cashpooling, durch Konsignationslager und durch vertragswidriges Gläubigerverhalten u. U. dramatisch beeinflusst, so dass man bei einer schematischen Betrachtung auch für florierende Unternehmen schnell zur Annahme einer Zahlungsunfähigkeit kommen würde. Daher scheint es vertretbar, dass bei strafrechtlicher Betrachtung allenfalls eine Deckungslücke von 25 % wegen der Sonderfaktoren eines Einzelfalls tatbestandsmäßig sein kann.[101] Insgesamt herrscht Uneinigkeit in der Literatur über die Höhe einer tatbestandsmäßigen Deckungslücke.[102] Allerdings ist davon auszugehen, dass ab einer Deckungslücke von 25 % zumindest die Gefahr einer Strafverfolgung besteht.

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Allein die Überschreitung eines Grenzwertes genügt jedoch noch nicht für die Feststellung strafbaren Verhaltens. Vielmehr muss, als zweites Korrektiv, das Liquiditätsproblem von Dauer sein, um vorübergehende Zahlungsstockungen auszuschließen, wobei die Einzelheiten umstritten sind und die Ansichten zwischen Zeitpunktilliquidität[103] und Zeitraumilliquidität von vierzehn Tagen bis zu mehreren Monaten schwanken.[104] Richtigerweise ist auf eine Zeitraumilliquidität abzustellen.[105] Zunächst müssen die Strafverfolgungsbehörden prüfen, ob eine spürbare Besserung der Liquiditätslage in einem absehbareren Zeitraum von 6 Wochen[106] eintreten kann. Teilweise im Zivilrecht vertretene restriktivere Sichtweisen werden im Strafrecht wegen des Erfordernisses forensisch sicher verwertbarer objektiver wie subjektiver Kriterien abgelehnt.[107] In der zivilrechtlichen Rechtsprechung besteht die Tendenz, einen relativ kurzen Zeitraum, der die 3-Wochen-Frist nicht wesentlich übersteigt, anzunehmen.[108] Im Strafrecht dürfen jedenfalls keine höheren Anforderungen als im Zivilrecht gestellt werden. Von einer dauerhaften Zahlungsunfähigkeit kann daher unter Beachtung der Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles in der Regel ausgegangen werden, wenn über den gesamten Zeitraum von der Tathandlung bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine Deckungslücke vorhanden war.[109]

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In der Praxis gibt es mehrere Möglichkeiten zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit nach § 17 Abs. 2 InsO: Zum einen kommt eine betriebswirtschaftlich-mathematische Feststellung[110] in Frage, d. h. eine stichtagsbezogene Gegenüberstellung der fälligen Verbindlichkeiten und der zu deren Befriedigung zur Verfügung stehenden Mittel,[111] also die Erstellung eines sog. stichtagsbezogenen Liquiditätsstatus.[112] Auf dieser Grundlage kann in einem ersten Schritt eruiert werden, ob eine Liquiditätslücke vorliegt. Ist dies der Fall und überschreitet die Deckungslücke die strafrechtlich relevanten 25 %, so kann in einem zweiten Schritt anhand einer sog. Liquiditätsbilanz[113] festgestellt werden, ob der Schuldner in absehbarer Zeit in der Lage sein wird, die fälligen Verbindlichkeiten überwiegend[114] zu bedienen – bejahendenfalls läge keine Überschuldung vor. In der Liquiditätsbilanz werden dafür über die am Stichtag bestehenden Aktiva und Passiva hinaus die innerhalb eines 3-Wochen-Zeitraums fällig werdenden Verbindlichkeiten den vorhandenen und in diesem Zeitraum noch zu erwartenden finanziellen Mitteln gegenüber gestellt.[115] Diese sehr aufwändige Methode kommt allerdings in der Praxis in erster Linie nur dann in Betracht, wenn die Indizienlage keine Feststellung hinsichtlich der Zahlungsunfähigkeit zulässt.[116]

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Eine in der Praxis genutzte, einfachere Möglichkeit zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit besteht darin, vom Zeitpunkt des Insolvenzantrages ausgehend die älteste von der Höhe her maßgebliche offene Forderung zu ermitteln. Wenn diese Forderung über drei Wochen vor der Insolvenzantragsstellung fällig war, wird Zahlungsunfähigkeit angenommen.[117]

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Im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren wird außerdem zunächst regelmäßig versucht, die Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens[118] bereits anhand so genannter wirtschaftskriminalistischer Beweisanzeichen[119] zu bestimmen. Wichtige Indizien für das Vorliegen einer Zahlungsunfähigkeit hat der BGH[120] darin gesehen, dass der Schuldner nicht in der Lage ist, die Sozialversicherungsleistungen, Löhne oder sonst fälligen Verbindlichkeiten binnen 3 Wochen zu bezahlen,[121] wodurch die Einstellung der Zahlungen mangels erforderlicher Geldmittel auch nach außen erkennbar werde, da die Nichtzahlung bei diesen Verbindlichkeiten typischerweise nur deshalb erfolge. Dabei sei zu beachten, dass auch beträchtliche Zahlungen die Zahlungsunfähigkeit nicht ausschließen, wenn sie nicht den wesentlichen Teil der fälligen Verpflichtungen ausmachen.

Als weitere kriminalistische Beweisanzeichen sind zu nennen:


Verzicht auf Skonti, Mahnungen, Scheckvordatierungen, Wechselbegebungen und -verlängerungen;
die Suche nach Beteiligungsinteressenten und Kreditgebern;
Wechsel der Hausbank;
Eingänge geschäftlicher Zahlungen auf dem Privatkonto zwecks Verhinderung des Zugriffs von Gläubigern;
Zahlungsrückstände bei betriebsnotwendigen Aufwendungen, insbesondere bei Mieten, Versorgungsleistungen, Telefon, Löhnen, Gehältern, Steuern, Sozialabgaben;
die Zustellung von Mahn- und Vollstreckungsbescheiden;
(fruchtlose) Pfändungen;
Veräußerung von betriebsnotwendigem Anlagevermögen;
Ladungen und Haftbefehle zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung;
Scheck- und Wechselproteste.

Vom BGH[122] wurde diese – das konkrete Zahlenmaterial außer Betracht lassende – Methode ausdrücklich gebilligt. Wenn es angezeigt erscheint, sollte der Strafverteidiger im Falle einer Warnzeichenhäufung aber nicht auf eine betriebswirtschaftliche Aufarbeitung verzichten bzw. gegebenenfalls durch entsprechende Anträge im Sinne von § 244 StPO oder durch ein Privatgutachten versuchen, eine nach kriminalistischer Beweisanzeichenhäufung u. U. vorschnell unterstellte Zahlungsunfähigkeit im Einzelfall durch eine detaillierte betriebswirtschaftliche Aufarbeitung doch noch zu widerlegen oder zeitlich zu relativieren.[123]

Die ermittelten Krisenmerkmale werden häufig aus ermittlungstechnischen Gründen in einem chronologisch aufgebauten Warnzeichendiagramm zusammengefasst, aus dem Art und Zeitpunkt des jeweiligen Merkmals abgelesen werden können. Kumulieren zahlreiche Illiquiditätshinweise zu einem bestimmten Zeitpunkt, so wird dieser Termin für die Zahlungsunfähigkeit herangezogen, wobei die entsprechenden Feststellungen allerdings nicht zu pauschal ausfallen dürfen.[124] Wirtschaftskriminalistische Beweisanzeichen bedürfen insbesondere dann einer besonderen Darlegung, wenn die Summe der Erträge diejenige der Aufwendungen ausweislich des Sachverständigengutachtens übersteigt. Die in dieser Vorgehensweise zum Ausdruck kommende retrospektive Betrachtung stellt grds. für den Betroffenen keinen Nachteil dar. So kann Zahlungsunfähigkeit im insolvenzrechtlichen Sinne bereits vor der Anhäufung von Krisenmerkmalen vorliegen. Dies sollte den Strafverteidiger jedoch nicht davon abhalten, den u. U. tätergünstigen Ansatz kritisch zu überprüfen.

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Die Ermittlung äußerer (Beweis-)Anzeichen der Zahlungsunfähigkeit erfordert einen erheblichen Aufwand an personellen und sachlichen Ressourcen, wobei auf die Schwierigkeiten bei Prognoseentscheidungen hingewiesen werden muss.[125] Erschwerend kommt hinzu, dass sich Liquiditätsprobleme oftmals erst kurz vor oder sogar erst nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch offenbaren, zu dem die strafrechtlichen Ermittlungen regelmäßig in größerem zeitlichen Abstand stehen.

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9783811440494
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