Читать книгу: «Des Rates Schreiber - Chemnitzer Annalen», страница 6

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„Kindskopf, was verstehst du schon davon? Hast noch keine Frau gesehen und kennst nicht die Qual des Versagens im Bett. Da mussten schon ganz andere Kerle klein beigeben. Vielleicht kommst du aber auch nach deinem Vater, der war diesbezüglich immer bestens orientiert. Das brauchst du mir aber morgen nicht zu berichten, das will ich gar nicht wissen.“

Ruprecht schüttelt den Kopf. „Mein Gott, Mutter! Solche Worte kenne ich gar nicht aus deinem Munde! Aber im Augenblick habe ich andere Sorgen. Ich muss von hier fort, ohne dass es auffällt. Irgendetwas sagt mir, dass ich oben auf dem Katzberg gebraucht werde. Eben hatte ich das Gefühl, als hätte mich die Mutter Mechthild gerufen. Ich soll auf den Katzberg kommen zu den drei alten Ulmen mit Haselstrauch, du weißt schon, dort, wo wir immer im Sommer Verstecken gespielt haben.“

Prüfend blickt Magdalena ihrem Sohn ins Gesicht. „Sag, Großer, hast du bisher nie solche Erscheinungen gehabt? Ich meine, dir muss es doch geläufig sein, dass wir hin und wieder Sachen erleben, die anderen Leuten nicht widerfahren. Dafür entstammen wir den weisen Frauen unseres Volkes – was aber eben niemand wissen sollte. Du aber bist für noch ganz anderes vorgesehen, wenn die Mutter Mechthild recht hat.“

„Nun mach halb lang, Mutter“, wehrt Ruprecht entschieden ab. „Von der alten Mechthild bin ich derartige Bemerkungen gewohnt, aber von dir?! Na klar wissen wir von deiner Berufung und der Rolle unserer Schwestern. Unsere Aufgabe als eure Beschützer ist uns mehr als bewusst. Aber wieso sollte ich etwas Besonderes sein? Ich kann schlecht als weise Frau durchgehen – oder als Hexe, wenn du den Herrn Pfarrer hörst.“

Magdalena lässt einen gequälten Seufzer hören. „Nun, dann wird es höchste Zeit, dich in Kenntnis zu setzen. Komm mit mir und lass die Hochzeitsgesellschaft eine kleine Weile allein feiern. Sie werden unser Fehlen gar nicht wahrnehmen. Wir haben das gleiche Ziel und unterwegs kann ich dir alles erklären.“

Unentschlossenheit schleicht zaghaft in Ruprechts Gesicht, lässt ihn verwirrt auf seine Mutter sehen und fast schon mechanisch schließt er sich ihr an. Parallel zur Gasse führt ein gewundener Pfad durch die brachen Grundstücke und trifft neben Stanges Anwesen auf die Gasse „Uff der Bach“. Eiligen Schrittes wenden sie sich der langen Gasse zu und verlassen die Stadt schließlich durch das Nikolaitor. Als sie die Häuser jenseits des Flüsschens hinter sich gelassen haben und den Hang zum Katzberg hinauf erklimmen, beginnt Magdalena endlich, ihrem ältesten Sohn die versprochene Erklärung zu liefern.

„Ich will hoffen, dass uns hier niemand belauscht, während wir den Anstieg hinaufkraxeln. Du hast ganz richtig gesagt, wir Frauen unserer Familie gehören zu den weisen Frauen unseres Volkes seit uralten Zeiten. Wir haben die Aufgabe, unser Volk vor Unglück zu schützen, Kranke zu heilen und die uralten Kenntnisse unserer Vorfahren zu bewahren und zum Wohle unserer Leute anzuwenden. Nein, zaubern können wir nicht – falls du das fragen wolltest – und hexen auch nicht. Aber wir können Dinge wahrnehmen, die anderen Menschen verborgen bleiben. Dazu gehört auch, dass wir das zweite Gesicht haben und unsere Gedanken über große Entfernungen ohne Worte weitergeben können. Allerdings können wir, genau wie jeder andere, nicht das Denken der Menschen beeinflussen, es bedarf unseres aktiven Tuns. Deshalb ist es ein deutliches Zeichen für dein besonderes Wesen, wenn du den Ruf Mechthilds vernommen hast. Seit jeher vertritt sie die Meinung, dass du der Hüter der Stadt wärst. Das ist der Nachfolger des Rudolf in direkter Linie, den die heilige Hildburga an ihre Seite gewählt hat, das Schicksal der Stadt vor Unbilden zu bewahren.“

Wenn es vielleicht nicht unbedingt die aufgerissenen Augen sind, dann doch der offene Mund, der Ruprechts ungläubiges Staunen zum Ausdruck bringt. „Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“, bringt er schließlich hervor. „Du hast uns immer angehalten, nicht dem Aberglauben zu verfallen und immer den wahren Kern zu suchen. Jetzt offenbarst du mir so ganz nebenbei, dass ich der Sagenwelt entsprungen sein soll!“

Magdalena setzt sich auf einen Baumstumpf und bedeutet ihrem Sohn, es ihr gleich zu tun und so sitzen sie kurz darauf inmitten der bunten Blüten der Wildblumen, gedeckt vom stachelbewehrten Gesträuch der Brombeere. Bedeutungsvoll reibt sie sich die Nase und sieht dabei nachdenklich auf Ruprechts zerzaustes Haar. „Es ist alles nicht so eindeutig, wie es scheint. Richtig ist, dass die gute Mutter Mechthilde seit deiner Geburt behauptet, dass du der Wiedergänger wärst, was eine andere Bezeichnung für den Hüter der Stadt ist. Weil diese Vermutung aber niemals durch andere bestätigt werden konnte, haben wir sie einfach ignoriert, so oft die Alte sie auch wiederholte. Nun hat sie uns aber ein deutliches Zeichen gegeben, dass sie recht hat, denn du hast ihren Ruf verstanden und folgst ihm. Ein einfacher Mensch wäre durch Mechthilds Ruf nie erreicht worden oder besser: er hätte ihn nicht verstanden. Dass du aber genau wusstest, wer dich gerufen hat und wohin, zeigt mir, dass du tatsächlich der Hüter bist und nun die erste große Aufgabe auf dich wartet. Stell dich also deiner Pflicht und tu, was dir aufgetragen wird.“

Entschlossen erhebt sie sich und zieht Ruprecht hinter sich her. Der aber staunt noch immer. Endlich brummt er vor sich hin: „Das ist schon merkwürdig. Zum Tischler tauge ich nicht mit meinen ungeschickten Händen. Dann werde ich durch Gottes Fügung zum Stadtschreiber und nun soll ich gar der Hüter der Stadt sein? Ist das nicht alles ein wenig dick aufgetragen? Ich meine, kann ich nicht einfach der sein, der ich immer war?“

Die Mutter blickt ihn über die Schulter an. „Du bist doch der, der du schon immer warst. Seit deiner Kindheit tust du Dinge, die anderen Knaben deines Alters nicht im Traum eingefallen wären. Du suchtest immer Buchstaben und Zahlen zu erkennen, jede Gelegenheit hast du zum Zählen und Rechnen wie auch zum Schreiben genutzt und dein Ungeschick als Tischler ist dem geschuldet, dass du in deinen Gedanken immer hinter die Dinge zu sehen trachtest. All dies hat die Mutter Mechthilde in ihrer Auffassung bestärkt.“

„Das mag alles sein“, weigert er sich, zuzustimmen, „aber deswegen muss ich lange nicht zu diesen Schauergestalten gehören, die durch die fantastischen Geschichten in der Spinnstube geistern. Nicht jeder, der so viel Gefallen am Lesen und Rechnen gefunden hat, muss deswegen gleich von einem uralten Volk sein, aus dem die Weisen hervorgegangen sind.“

„Nun ist aber gut“, weist ihn Magdalena zurecht, „sind wir vielleicht Schauergestalten? Wir sind solche Menschen wie die anderen auch, nur haben wir einen Sinn mehr. Wir können uns besser mitteilen und haben ein feineres Gespür für die Zeitläufe, wodurch wir unsere Visionen haben. Deswegen sind wir doch keine Gespenster!“

Endlich schmunzelt der Jungvermählte. „Stimmt, Gespenster seid ihr nicht, wobei ich allerdings hin und wieder diesbezüglich Zweifel bei meinen Schwestern habe. So viel Blödsinn wie die verzapfen, kann nicht aus einem gesunden Menschenhirn kommen.“

Schmerzhaft trifft ihn der Ellenbogen der Mutter an der Rippe. „Untersteh dich, so von deinen Schwestern zu reden! So schwierig sie manchmal sind, so liebenswert sind sie auch.“

„Aber sicher doch und ich werde mich hüten, sie jemals in Gefahr zu bringen“, beruhigt sie ihr Sohn. Dann eilen sie schweigend den schmalen Pfad hinauf zum Kamm der langgezogenen Höhe. Immerhin wollen sie nicht gar so lange, und vor allem unbemerkt, von der Feier fernbleiben.

Endlich erkennen sie die drei Ulmen inmitten der Lichtung auf der Höhe. Seit ewigen Zeiten sind sie markanter Punkt für spielende Kinder im Wald. Die sie umgebenden Buchen protzen mit ihrer silbernen, glatten Rinde, während die tiefen Furchen der braunen Ulmenstämme die Weisheit gleich der Stirn eines Greises widerspiegeln. Die gezackten Blätter wiegen sich sacht in ihren Zeilen an den Zweigen, während die Buchen nebenan die glattrandigen Blätter an den Zweigenden in ihren Büscheln leise tanzen lassen.

Unter den alten Bäumen haben einige Frauen inmitten eines Kreises aus Steinen Platz genommen und schauen den Ankömmlingen gespannt entgegen.

Als Ruprecht mit seiner Mutter die Wartenden erreicht, streckt ihm die alte Mechthild beide Hände entgegen. „Habe ich es nicht immer gesagt, dass er zu uns gehört? Du hast also meinen Ruf gehört?! Ein deutlicheres Zeichen kann es nicht geben, will ich meinen. Du bist ganz sicher der Rudolf und wirst uns helfen, die Stadt vor Unglück zu bewahren.“

Offensichtlich finden ihre Worte die Zustimmung der anderen Frauen und so schwappt ihm eine Woge der Sympathie entgegen.

„Nun übereilt nur nichts“, versucht Magdalena die Euphorie zu dämpfen, „noch wissen wir nicht, ob Mechthilde im Recht ist mit ihrer Vermutung und dann steht da noch die Frage, ob wir seiner Unterstützung heute tatsächlich bedürfen. Immerhin sollte er als eine Hauptperson des Festes seiner Braut zur Seite stehen.“

„Ach was“, kontert die Alte, „es ist keine Frage mehr, ob Ruprecht der Rudolf ist. Ich habe eine ganze Reihe von Untersuchungen angestellt und mein Ruf nach ihm war nur das letzte Glied einer langen Kette. Du kannst getrost davon ausgehen, dass in deinem Schoß der Hüter herangereift ist und sein ganzes Auftreten von Kindesbeinen an zeigt, dass er es tatsächlich ist. Nun soll er seine Aufgabe erfüllen.“

Entschlossen zieht sie den Jungen in den Kreis und Ruprecht ist keinesfalls geneigt, sich zu widersetzen. Es macht ihn neugierig, was man mit ihm vorhaben mag und interessant erscheint ihm die Gesellschaft der Frauen allemal.

Als diese ihr Ritual zur Eröffnung der Zusammenkunft abgehalten haben, erläutert Mechthilde ihre Vision während der Hochzeitsfeier und erfragt die Meinung der anderen.

„Es ist eindeutig der Hinweis auf einen bevorstehenden Krieg!“, bekräftigt die noch recht junge Martha aus Bernsdorf. „Allerdings haben wir bislang keinen anderen Hinweis auf einen Waffengang. Sollte sich da etwas am Horizont zusammenbrauen, wovon wir keine Ahnung haben?“

„Das scheint mir nicht so“, widerspricht Magdalena energisch, „wenn kein anderer Hinweis zu erkennen ist als diese Vision, dann geht es eher nicht um Krieg, dann geht es um etwas anderes. Meiner Meinung nach sollten wir dies sinnbildlich sehen und überlegen, was eine Rettung der Einwohner erforderlich machen könnte. Zeichnet sich vielleicht ein Stadtbrand ab oder droht eine neuerliche Flutkatastrophe?“

„Vielleicht sollten wir auch in Erwägung ziehen, dass sich einer der adligen Herren, wie anno 55 der edle Kunz von Kauffungen, daneben benimmt und gar einen Krieg mit dem Landesherrn vom Zaune bricht?“, wirft die alte Bertha aus Ebersdorf ein, die das Drama um die beiden Prinzen damals aus nächster Nähe miterlebt hat.

„Solch eine Auseinandersetzung gefährdet zwar die Dörfer, vermag aber keine Stadt so zu bedrohen, dass die Einwohner flüchten müssen“, bemerkt Mechthilde und fügt hinzu: „Vielleicht erhebt sich aber auch die Bürgerschaft gegen den Rat wie seinerzeit im Jahre 1414. Also irgendetwas in dieser Art wird es wohl sein, was Chemnitz bedroht.“

„Nun, ich will hoffen, dass uns kein Krieg droht. Seit über hundert Jahren mussten wir keinen mehr erleben und es wäre wünschenswert, dass dies auch weitere hundert Jahre so bliebe“, meldet sich ungefragt Ruprecht zu Wort. „Wenn es keine weiteren Anzeichen einer derartigen Gefahr gibt, dann sollten wir uns eher fragen, ob die gute Mechthilde nicht an Stelle der Vision eine Halluzination hatte. Vielleicht hat jemand Vogelbeeren auf die Hochzeitstafel gebracht? Ich meine, es wäre ganz und gar nicht in eurem Interesse, wenn falsche Warnungen die Stadt erreichten!“

Die Alte ist deswegen keineswegs missgestimmt. „Deswegen kommen wir bei solchen Erscheinungen zusammen. Der Grat zwischen Hellsehen und Halluzinieren ist sehr schmal, insbesondere, wenn mit diversen Mittelchen nachgeholfen wird. Allerdings habe ich auf derartige Unterstützung in diesem Falle nicht zurückgegriffen und so prüfen wir den Wahrscheinlichkeitsgehalt in Gemeinschaft.“

Die Frauen wägen die Möglichkeiten ab und beschließen, sehr ernsthaft die nächsten Visionen zu beobachten. Vielleicht droht doch Gefahr. Dann trennen sie sich und begeben sich auf den Weg nach Hause.

Ruprecht hakt seine Mutter und die alte Mechthild unter und gemeinsam wandern sie den Weg talwärts, den Windungen des Pfades im hochgewölbten Gras folgend, die sie um die Hindernisse am Boden herumführen. Im warmen Licht der Sonne tanzen die Bienen und Schmetterlinge von Blüte zu Blüte und metallisch glänzen die Körper der Libellen im Wechsel des Verhaltens auf der Stelle und dem pfeilschnellen Davonhuschen. Sichtlich genießerisch lassen sich die zwei Frauen von ihrem jungen Begleiter stützen und der gibt ihnen gern das Gefühl des Geborgenseins.

Es ist eine geraume Zeit vergangen, seit Ruprecht sich mit seiner Mutter von der Hochzeitstafel davongeschlichen hat und so eilen sie, nachdem sich Mutter Mechthild vor dem Nikolaitor verabschiedet hat, flinken Fußes in die heimatliche Gasse. Sie haben noch nicht das Bretgässchen erreicht, da hören sie einen gewaltigen Lärm aus dem hinteren Teil der Langgasse, die da Hinter der Bach genannt wird und ihr Zuhause darstellt.

Die ganze Hochzeitsgesellschaft hat sich von den Bänken und Schemeln erhoben und allesamt blicken sie hinüber zu der Stelle, wo vorhin noch der Herr Pfarrer mit der Mechthilde debattiert hatte. Hans steht ratlos an der Hecke des brachliegenden Grundstücks neben seinem Anwesen und kratzt sich den zerzausten Schopf. Die Roselers stehen etwas weiter zu ihrem Hause zu und blicken verstört auf die Gesellschaft, während die Gäste eher sensationslüstern zu sein scheinen.

Über all dieser merkwürdigen Anordnung aber liegt ein Geschrei sondergleichen. Es ist die hektische Stimme des Pfarrers, die sich mit dem ruhigen Bass des Bürgermeisters misst. „Und ich sage noch einmal deutlich, dass hier der Teufel seine Hand im Spiel hat!“, geifert der Pfarrer. „Wie kann es sein, dass eine Hexe plötzlich von der Hochzeitstafel aufspringt und Zeter und Mordio schreit? Und dann auf einmal ist sie verschwunden, mit ihr der Bräutigam und seine Mutter! Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen!“

„Nun haltet die Luft an, Hochwürden!“, brummt der Bürgermeister. „Vielleicht hat der Bräutigam mit seiner Mutter etwas herbeizuschaffen, dass es uns nicht dürstet? Eventuell ist die Mechthilde auch allein nach Hause gegangen, weil ihr Euer Gezänk zu viel wurde?“

Eben will der Pfarrer in aller Giftigkeit antworten, da gibt sich Magdalena zu erkennen. „Nur keinen Streit, Herr Pfarrer und Herr Bürgermeister. Eben brachten wir die Mutter Mechthild aus der Stadt, denn ihr ist ein kleines Unglück passiert. Ihr wurde mächtig schlecht und unheimlich. Mir scheint, hier sind Vogelbeeren auf die Tafel gekommen und wenn mich nicht alles täuscht, dann steht dort drüben eine Schale mit diesen Früchten.

Ganz bleich wird der Pfarrer und nunmehr stotternd bringt er hervor: „Bei Gott, dann habe ich wohl halluziniert, denn ich habe davon reichlich genossen. Dachte ich doch, es seien Preiselbeeren und die esse ich für mein Leben gern. Ich werde mich sofort hinlegen. Hoffentlich habe ich mich nicht vergiftet und gehe heim zu unserem Vater!“

„Ach woher denn, Herr Pfarrer, sie können sich höchstens den Magen verdorben haben, so giftig ist das Zeug nun auch wieder nicht“, beruhigt ihn der Bürgermeister. „Da hilft nur reichlich trinken, dass der Körper gut durchgespült wird!“ Mit Elan schiebt er seinem Widerpart den Bierkrug zu. Der nimmt ihn nur zu gern auf und lässt das Nass glucksend durch die Kehle rinnen, erhöht doch das Wissen um die heilende Wirkung solchen Tuns enorm das Selbstbewusstsein.

Die Gesellschaft scheint dies als Aufforderung zu verstehen. Im Nu schlagen die Krüge im Takt auf die Tafel und lautstark wird Nachschub verlangt. Diesem Begehren kommen die Gastgeber nach dem Schreck nur zu gern nach, denn ein Streit an der Hochzeitstafel – das schreit doch geradezu nach Unglück in der Ehe.

Indes haben sich die Brautleute zurückgezogen. Eng umschlungen haben sie sich auf Vaters Bank im Prescherchen Garten niedergelassen. Eigentlich wären sie hier ja um diese Tageszeit nicht ungesehen, jedoch ist heute alles anders, denn jedermann ist draußen auf der Gasse und genießt das Hochzeitsmahl.

„Wo warst du denn nun wirklich so lange?“, will Martha drängend wissen. „es hat mindestens eine Stunde gedauert, die du weg warst, wenn nicht noch viel länger.“

Verlegen dreht Ruprecht den Kopf zur Seite, denn es bereitet ihm Unbehagen, an einem Tag wie diesem seine junge Gattin anzulügen. „Frage mich lieber nicht“, bringt er schließlich hervor, „der Mutter Mechthild ging es noch schlechter als eben dem Pfarrer. Sie hatte Halluzinationen und so brachten wir sie nach Hause. Daher wusste meine Mutter auch sofort von den falschen Preiselbeeren.“

„Und geht es ihr jetzt wieder besser?“, will Martha wissen. „Ja, sicher, wir sind mit ihr langsam gelaufen und so konnte sie sich erholen“, lautet die gestotterte Antwort.

Prüfend blickt Martha ihm ins Gesicht. „Warum nur habe ich das Gefühl, dass du mir nicht die Wahrheit sagst? Lass nicht zu, dass ich dieses Gefühl öfter habe, denn dann werde ich Mittel und Wege wissen, die Wahrheit zu erfahren!“

Während er stumm den Kopf schüttelt, kuschelt sie sich an ihn und flüstert: „Lass uns den Tag so richtig genießen!“

STADTSCHREIBERS MÜHE

In breiter Bahn tanzen die tausenden Staubpartikel auf dem durch das weit geöffnete Fenster hereinfallenden Sonnenstrahl und verhindern den neugierigen Blick in die dunklen Ecken der Schreibstube. Auf dem Fensterbrett breitet sich in einem bauchigen Krug ein gewaltiger Strauß bunter Wiesenblumen weit ausladend aus und lädt die Insekten zum Festmahl.

Nachdenklich richtet sich Ruprecht Preschers Blick auf den idyllischen Anblick, während seine Hände mechanisch die Federkiele zurechtschneiden, welche dabei ohne das nötige Augenmerk dennoch exakt in die richtige Form geraten, die ein flüssiges Schreiben erst ermöglicht. Hierbei zeigt sich, dass die Stelle des Schreibers durch genau den rechten Mann besetzt wurde.

Es mag für einen Mann nicht unbedingt das wahrhaftige Merkmal sein, aber Ruprecht liebt Blumen über alle Maßen und so gibt es kaum eine Zeit, wo nicht ein Strauß die Fensterbank ziert. Eine besondere Freude ist ihm dann, wenn die Bienen und Schmetterlinge in der Schreibstube um die bunten Blüten tanzen und damit ihr Oratorium an das Leben darbieten.

Energisch schüttelt er den Kopf, um in die Wirklichkeit zurückzufinden. Es gibt genug Arbeit, die da auf ihn wartet. Vor wenigen Augenblicken brachte ein Bote des Bürgermeisters einen kurfürstlichen Brief, die Saigerhütte des Nickel Tyle betreffend. Seit Februar darf dort Kupfer und Silber gewonnen und frei verkauft werden und endlich ist die amtliche Urkunde eingetroffen. Der alte Tyle hat wieder einmal ein goldiges Händchen bewiesen. Es ist noch nicht so lange her, da der Landesherr alles Silber für die eigene Münze beanspruchte. Nun wird sich der alte Ratsherr ein silbernes Näschen verdienen.

„Was starrt der Schreiber da Löcher in den blauen Himmel?“ Unversehens ist der Bürgermeister in die Schreibstube getreten und mustert abwägend Ruprechts Gesicht. „Mir scheint, du machst dir so deine eigenen Gedanken. Sag schon, was überlegst du angesichts des kurfürstlichen Schreibens? Gönnst du dem Ratsherrn Tyle nicht den Erfolg?“

„Ach was, der Alte soll sich in seinem Erfolg baden. Nur glaube ich nicht so recht, dass die Idee auf seinem Mist gewachsen ist. Er zeichnet im Namen von Gesellschaftern und da fällt mir vorrangig der Ulrich Schütz ein, der seit gut fünf Jahren drüben am Topfmarkt sein Haus hat. Er soll ein rechtes Schlitzohr sein und wenn ich richtig gehört habe, will er gar Tyles Tochter heiraten. Was für ein Wunder also, dass er alles Wissen der alten Bergbauherren Schütz in das Unternehmen des Tyle steckt. Der Hans Schütz hat ja wohl auch seine Hände mit im Spiel. Deutlicher können die Zeichen für den Erfolg und den Gewinn gar nicht stehen.“

„Na und“, schmunzelnd streicht sich Bürgermeister Stobener über den Bart, „das Glück kommt nicht von ungefähr, man muss schon etwas dafür tun. Übrigens ist der Tyle auch nicht unbeleckt im Bergbau. Sonst hätte er seine Unternehmungen in Geyer und bei Joachimsthal nicht. Ob die Hütte nun in der Hand des Nickel Tyle ist oder der Schütz-Brüder ist egal. Wichtig ist für die Stadt, dass Steuergelder in die Kasse fließen. Wenn da die Ratsherren gut verdienen, ist dies doch nur recht und billig.“

Abwehrend schüttelt Ruprecht den Kopf. „Wenn das mal nicht zu kurzsichtig gedacht ist. Die Stadt muss wachsam sein, dass die Bürgerschaft nicht wieder unzufrieden wird und gegen den Rat antritt, wie es in den letzten reichlich hundert Jahren dreimal geschehen ist.“

Das Stadtoberhaupt winkt energisch ab. „Male nicht zu schwarz, Schreiber! Die letzte innerstädtische Fete war anno 1414, also vor über einem halben Jahrhundert. Der Landesvater hat gut vorgesorgt, dass sich dies nicht wiederholt. Was meinst du, warum das Handwerk heute Plätze im Rat hat und warum wir, die Ratsherren bestimmen, welcher Handwerker diese Plätze besetzt?“

Geflissentlich taucht Ruprecht den Federkiel in das Tintenfass, denn wieso steht es ihm zu, mit dem Bürgermeister über die Stadtpolitik zu debattieren. Oft genug regt der zwar solche Gespräche an, ist aber danach stets sehr ungehalten, wenn man nicht seiner Meinung ist. Dennoch, ganz vermag er nicht seinen Standpunkt zu verleugnen. „Ich will nicht die landesherrliche Weitsicht in Frage stellen, Herr Bürgermeister, nur sehe ich Gefahren für den innerstädtischen Frieden und will dies zur Beachtung empfehlen. Ich erinnere an die Innungsordnung, die im letzten Jahr für die Tuchmacher erlassen werden musste, weil schlimmer Ärger ins Haus stand. Hier war es der Ratsherr Hans Neefe, dessen Geldstreben über die Maßen störte und zu Missstimmung führte. Weber feindeten die Schneider an, beide beschimpften die Verleger und die Ratsherren gierten nach dem Gewandhandel.“

„Ruprecht, du bist Schreiber und nicht Ratsherr. Zerbrich dir also nicht meinen Kopf. Um auf die Saigerhütte zurückzukommen, auch damit gelangt neben der Steuer weiteres Geld in unsere Kasse. Das gewonnene Kupfer wird im Kupferhammer des Jakob Kupferschmied verarbeitet, der wiederum Bürger der Stadt ist.“

Der Schreiber blinzelt schalkhaft und murmelt: „Keine zehn Jahre wird es dauern, da wird ein Tylscher oder Schützscher Kupferhammer diese Aufgabe übernehmen und der Reichtum bleibt in der Familie.“

Eben will der Bürgermeister zu einer geharnischten Gegenrede ansetzen, da tritt der Ratsherr von Pirne in die Schreibstube und reibt sich die Hände. „Na, wenn das kein schöner Tag ist, Herr Bürgermeister! Die Sonne will offensichtlich den letzten Dreck aus der hintersten Ecke der Stadt herausbrennen und anstatt sich darüber zu freuen, streitet Ihr Euch mit dem Schreiber um Hundsfotts Seele. Guten Morgen auch dir, Ruprecht Prescher. Was ist es denn, das euch so gegeneinander treibt?“

„Ach was, uns treibt nichts gegeneinander“, wiegelt der Bürgermeister ab. „Der Ruprecht hat nur so seine Zweifel an der Redlichkeit des Nickel Tyle wie auch der Schützens. Mir scheint, er mag die Ratsherren an sich nicht sonderlich.“

„Aber woher denn, was sollte ich gegen die Ratsherren haben?“, wehrt sich der so beschuldigte Schreiber. „Ich warne nur davor, zu offensichtlich nur dem Gewinn zu frönen und das Stadtwohl aus den Augen zu verlieren. Wir müssen im Auge behalten, dass die Stadtkasse auf Dauer gut genährt bleibt. Es reicht, dass wir stets mit den Benediktinern Ärger haben, weil diese über die Maßen nach Wohlstand streben und der Stadt so manch üblen Streich spielen. Der Herr Caspar von Meckau, seines Zeichens Abt besagten Klosters, soll ganz ordentlich für eigene Rücklagen gesorgt haben. Da hat auch die Visitation vor ein paar Jahren nicht viel gebracht. Wir aber können nichts dagegen tun, dass im Kloster ein reger Getreidehandel getätigt wird und das Klosterbier uns ebenso Schaden bereitet. Überdies kommt es immer wieder zu Rachezügen gegen den Bierausschank innerhalb der Meile, weil unser städtisches Bier sonst nicht gekauft wird.“

Von Pirne nickt Ruprecht zu. „Das hast du ganz richtig erkannt, Schreiber. Es gibt eine Reihe von Einflüssen, die der Stadt zum Schaden gereichen. Gleichzeitig haben wir aber auch Sonderrechte, die andere nicht haben und eben daraus müssen wir Kapital schlagen. Wenn wir es als ungerecht empfinden, dass auf dem Kloster Markt betrieben wird und wenn in den Dörfern Bier gebraut und auch noch verkauft wird, wie sollen es die Leute dort als richtig empfinden, dass uns von Gesetzes wegen dieses Recht allein zusteht? Für diese Menschen ist das schreiendes Unrecht. Noch krasser ist die Situation für die Leineweber im weiten Kreis, denen der Betrieb einer Bleiche untersagt ist. Sie sind gezwungen, ihre Ware nach Chemnitz zu bringen und hier auf unseren Bleichen weiter zu veredeln, obwohl zum Beispiel in Mittweida die Wiesen an der Zschopau keine schlechteren Bleichpläne abgeben würden. Seien wir also etwas verhaltener in unseren Anschuldigungen und konzentrieren wir uns besser darauf, das gut zu nutzen, was uns zur Verfügung steht.“

Bürgermeister Stobener legt dem alten Ratsherrn die Hand wohlwollend auf die Schulter. „Das sind sehr weise Worte, von Pirne. Unser junger Freund erkennt derartige Zusammenhänge noch nicht so recht. Aber es ist wohl ein Vorrecht der Jugend, so ungestüm über die Umstände zu urteilen.“

„Nun verbiegt Eure Seele nicht, Herr Bürgermeister!“ wehrt der Alte ab. „Ganz so Unrecht hat der Ruprecht nicht, wenn er die verfluchte Geldgier einiger ehrenwerter Bürger anprangert, zumal, wenn sie der Stadt zum Schaden gereichen können.“

„Aber ganz so streng habe ich das nicht gemeint“, sucht Ruprecht das Gespräch zu relativieren, „es ging mir darum, dass man das Augenmerk auf die Geschäftsgebaren richten sollte, um der Stadt Schaden zu ersparen. Nicht alles ist so, wie es anfangs scheint. Weder den Tyle noch die Schützes wollte ich der Unredlichkeit bezichtigen. Aber Gedanken darf und muss man sich machen.“

„Ist gut, Schreiber. Nur solltest du deine Gedanken nicht äußern, wenn du von Amts wegen deine Pflicht erfüllst. Dann gilt es, nur zu schreiben und nicht zu denken und auszulegen. Wenn wir unter uns sind, bin ich schon an deinen Gedanken und Ideen interessiert“, beruhigt ihn der Bürgermeister. „Scheinst mir ein ganz brauchbares Köpfchen zu sein. Man sollte nicht glauben, was so in einem Tischlerhaus heranwächst.“

„Oh ja, es geschehen Zeichen und Wunder, zumal wenn des Tischlers Weib die Magdalena Prescherin ist“, fügt der alte von Pirne leise lächelnd hinzu. „Aber ich schlage vor, wir gehen hinüber in die Ratsstube und erwarten dort die übrigen Ratsherren. Sie dürften schon sehr bald eintreffen.“

***

Während Ruprecht am Rande der Ratsstube an seinem Schreibpult eifrig die Feder über das Papier fliegen lässt, diskutieren die Ratsherren recht aufgeregt an dem großen ovalen Tisch in der Mitte des Raumes. Die schweren Armsessel entstammen allesamt der Prescherschen Tischlerei, wurden jedoch schon zu Großvaters Zeiten gefertigt. Die wuchtige Gestaltung der Sitzmöbel hindert den jungen Ratsherrn Ulrich Schütz nicht, durch eine enorme Beinanstrengung den Sessel auf den Hinterbeinen auszubalancieren und, gleich einem ungezogenen Kind, zu wippen, was ihm das mahnende Räuspern des Bürgermeisters einbringt. „Es ist der Situation nicht angemessen, das Ratsgestühl zur Schaukel umzufunktionieren!“, lautet der freundlich vorgetragene, aber umso ernster gemeinte Tadel.

Der Gemahnte lässt übermütig den Sessel auf alle vier Beine fallen und meint dazu: „Nur keine Angst, meine Herren, trotz des Kippelns fehlt es mir nicht an der nötigen Ernsthaftigkeit. Es ist nur so, wenn ich meine, zu schweben, dann fliegen mir die besten Gedanken zu. Freilich, als mein Vater diesen Stuhl voriges Jahr noch innehatte, da gab es das nicht. Aber mit mir ist das ein wenig anders. Allerdings gefiel diese Eigenart meinerseits bereits dem Schulmeisterlein an der Lateinschule keinesfalls, was mir manchen Ärger einbrachte. Nur habe ich dadurch bessere Ergebnisse erzielt und somit ließ er mir dann das Kippeln durchgehen.“

„Wie rührend diese Geschichte auch ist, Herr Schütz, ich will hoffen, dass Ihr geschäftlicher Erfolg nicht ausschließlich dem Schaukelstuhl zu verdanken ist“, bemerkt der Ratsherr von Pirne. „Soweit ich richtig gerechnet habe, seid Ihr längst den Kinderschuhen entwachsen und zählt über zwanzig Lenze. Da sollte man langsam solche Unartigkeiten abgelegt haben und ernsthaft werden.“

„Lassen wir diese unfruchtbare Diskussion“, wirft Ratsherr Tyle ein, „wenn der junge Herr Schütz meint, schaukeln zu müssen, dann lassen wir ihm doch das Vergnügen, wenn er nur für neue Bestuhlung sorgt, sollte diese zu Schaden kommen. Ich meine, wichtigere Dinge besprechen zu müssen, die unsere Stadt betreffen.“

„Womit wir beim Kernpunkt unserer Zusammenkunft angelangt sind“, bekräftigt Ulrich Schütz und im Handumdrehen ändert sich sein lausbübisches Verhalten in personifizierte Ernsthaftigkeit. „Ich schlage vor, dass wir drei wesentliche Punkte in die Tagesordnung aufnehmen, nämlich die Errichtung eines neuen Rathauses in steinerner Bauweise, die stärkere Ausnutzung des Berggeschreis für das städtische Wohlbefinden und letztendlich die Wahrung der städtischen Privilegien.“

Überrascht hebt der Bürgermeister den Kopf. „Da hat sich der Herr Schütz ganz hübsch den Kopf zerbrochen, wie er uns auf Trab bringen kann. Nur frage ich mich, ob all die Punkte unbedingt heute behandelt werden müssen. Ich erinnere daran, dass wir bereits eine Reihe von Punkten zur Beratung vorliegen haben. Wenn Ihr also bitte die Dringlichkeit der benannten Punkte erläutern wollt?“

399
477,84 ₽
Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
611 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783969405161
Издатель:
Правообладатель:
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