Consuelo vermochte nicht länger ihre Verlegenheit zu ertragen. Sie sprang auf und gleichsam um sich mit Gewalt in ihre Heiterkeit zurückzuversetzen, fing sie an im Zimmer auf und abzugehen, verschiedene Opernsätze mit manierierter Übertreibung singend und den Gesang mit großen, tragischen Gebärden begleitend, als ob sie aus der Bühne wäre.
– Schau, das ist prachtvoll! rief Anzoleto voll Entzücken, als er sie einer Charlatanerie fähig sah, welche sie ihm nie gezeigt hatte.
– O, es ist gar nicht prachtvoll, sagte Consuelo, sich niedersetzend, und du hast das hoffentlich nur aus Spaß gesagt.
– Es würde prachtvoll auf der Bühne sein. Ich gebe dir mein Wort, nichts ginge darüber. Die Corilla würde vor Neid bersten, denn sie hat noch nichts schlagenderes gemacht in allen den Momenten, wo geklatscht wird, dass das Haus einbrechen möchte.
– Lieber Anzoleto, antwortete Consuelo, ich möchte nicht, dass um solche Gaukeleien die Corilla vor Neid bersten müsste, und vor einem Publikum, das mir applaudierte, weil ich ihr nachzuäffen wüsste, würde ich gewiss nicht wieder aufzutreten wünschen.
– Du wirst es also noch besser machen?
– Das hoffe ich, sonst wäre die Sache nicht wert, sich damit zu befassen.
– Wie wirst du es denn wohl machen?
– Ich habe mir’s noch nicht bedacht.
– Versuche doch.
– Nein, denn das alles ist nur erst ein Traum und bevor nicht entschieden ist, ob ich hässlich bin oder nicht, müssen wir solche schöne Luftschlösser gar nicht bauen. Vielleicht sind wir beide in diesem Augenblicke Toren, und die Consuelo, wie der Graf gesagt hat, ist abscheulich.
Diese letztere Hypothese gab dem Anzoleto die Kraft sich zu entfernen.
In dieser, den Biografen fast unbekannten Epoche seines Lebens, schmachtete Porpora, einer der besten Komponisten Italiens und der größte Gesanglehrer des 18. Jahrhunderts, Schüler Scarlatti’s und Lehrer Hasse’s, Farinelli’s, Caffarelli’s, Salimbeni’s, Hubert’s (genannt il Porporino), der Gabrielli, der Molteni, kurz der Vater der berühmtesten Sängerschule seiner Zeit, – schmachtete, sag’ ich, in Venedig, unbeachtet und in einem Zustande, welcher an Elend und Verzweiflung gränzte.
Er hatte jedoch früher in derselben Stadt dem Konservatorium dell’ Ospedaletto vorgestanden und diese Periode seines Lebens war eine glänzende gewesen. Er hatte seine besten Opern, seine schönsten Cantaten und seine vorzüglichsten Kirchenarbeiten damals geschrieben und aufführen lassen. Er war hierauf 1728 nach Wien berufen worden und hatte, nach einigen Kämpfen, sich die Gunst Kaiser Carls VI. erworben. Nachdem er auch am sächsischen Hofe in Gunst gestanden,3 war er einem Rufe nach London gefolgt und dort zu dem Ruhme gelangt, neun bis zehn Jahre lang mit Händel, dem Meister der Meister, dessen Stern um diese Zeit blich, zu wetteifern. Händels Genie hatte zuletzt den Sieg davongetragen und Porpora, in seinem Stolze verletzt, so wie in seinen äußeren Verhältnissen misshandelt, war nach Venedig zurückgekehrt, um hier geräuschlos und kummerfrei ein anderes Konservatorium zu leiten. Er schrieb nach dieser Zeit noch einige Opern, deren Aufführung er aber nur mit Mühe durchsetzen konnte; die letzte derselben, welche abermals in London gegeben wurde, hatte dort keinen Erfolg.
Von diesen harten Schlägen, welche sein Genie trafen, hätte er sich durch Glück und Ruhm wieder erholen können, allein die Undankbarkeit Hasse’s, Farinelli’s und Caffarelli’s, die ihn verleugneten, kam hinzu, um vollends sein Herz zu brechen, sein Gemüt zu verbittern, sein Alter zu vergällen. Es ist bekannt, dass er in seinem achtzigsten Jahre, verlassen und dürftig in Neapel starb.
Zu jener Zeit, als Graf Zustiniani die Corilla zu ersetzen suchte, deren Abfall er voraussah und fast wünschte, war Porpora eine Beute heftiger und finsterer Stimmungen, und sein Ärger war nicht immer ohne genugsamen Grund; denn es wurde zwar in Venedig die Musik eines Jomelli, Lotti, Carissimi, Gasparini und anderer trefflicher Meister geliebt und gesungen, jedoch unterschiedlos schätzte man daneben die Buffostücke eines Cocchi, Buini, Salvator Apollini und anderer mehr oder minder einheimischer Komponisten, deren gemeiner und trivialer Styl den Geschmack mittelmäßiger Geister kitzelte. Hasse’s Opern konnten seinem mit Recht erzürnten Lehrer nicht lieb sein.
So verschloss nun der ehrwürdige und unglückliche Porpora sein Herz und seine Ohren der Musik der Neueren, die er unter dem Ruhm und Ansehen der Alten zu zermalmen suchte. Er ging so weit in seiner allzu großen Strenge, dass er sogar die graziösen Kompositionen Galoppi’s und die originellen Fantasien Chiozetto’s, des volkstümlichsten Komponisten Venedigs verwarf. Man durfte ihm zuletzt von Keinem reden als vom Pater Martini, von Durante, Monteverde, Palestrina; ob Marcello und Leo Gnade vor ihm fanden, weiß ich nicht.4
Daher geschah es, dass er die ersten Eröffnungen des Grafen Zustiniani in Betreff seines unbekannten Zöglings frostig und missmutig aufnahm, obgleich ihm Glück und Ruhm der armen Consuelo am Herzen lagen, denn er war ein viel zu erfahrener Lehrer, um nicht ihren Wert und ihr Verdienst ganz zu ermessen. Allein bei dem Gedanken, dass dieses so reine und mit dem heiligen Manna der alten Meister so kräftig genährte Talent entweiht werden könnte, ließ er sein Haupt sinken und sprach in sichtlicher Bestürzung zu dem Grafen:
– O, nehmt sie, nehmt sie nur hin, diese makellose Seele, diesen unbefleckten Geist; werft ihn den Hunden vor und gebt ihn den wilden Tieren zum Raube, denn das ist das Schicksal des Genies in unseren Tagen.
Dieser Schmerzensruf, halb ernst und halb komisch, gab dem Grafen einen Maßstab, um das Verdienst einer Schülerin zu schätzen, deren Wert ein so strenger Lehrer so hoch anschlug.
– Wie denn, teurer Meisters rief er aus, ist das euere aufrichtige Meinung? Ist diese Consuelo wirklich ein so außerordentliches, ein so himmlisches Wesen?
– Ihr werdet sie hören! sagte Porpora, mit der Miene der Ergebung, und setzte wiederholend hinzu: es ist ihr Schicksal!
Es gelang indessen dem Grafen, die gesunkenen Lebensgeister des Meisters wieder aufzurichten, indem er ihm auf eine gründliche Reform in der Wahl der Opern für das Repertoir von San Samuel Hoffnung machte. Er verhieß ihm, schlechte Werke gänzlich auszuschließen, sobald er nur erst die Corilla los sein würde, auf deren Eigensinn und Grillen er die Zulassung und günstige Aufnahme solcher Werke schob. Er ließ sogar geschickt die Absicht durchblicken, auch mit Hasse künftig sehr sparsam zu sein, und sagte zum Schlusse, wenn Porpora eine Oper für Consuelo schriebe, wenn eines Tages dann die Schülerin ihren Lehrer mit zwiefachem Ruhme kränzte, seine Gedanken in seiner eigensten Auffassung wiedergebend, so würde dieser Tag ein Tag des Triumphes für San Samuel und der schönste Tag in des Grafen Leben sein.
Porpora war bezwungen; er fing an sich zu besänftigen und sogar im Geheimen den Auftritt seiner Schülerin eben so sehr zu wünschen als er ihn zuvor gefürchtet hatte, gefürchtet, weil dadurch den Werken seines Nebenbuhlers ein neuer Aufschwung in der Gunst des Publikums verschafft werden konnte. Da der Graf nunmehr noch seine Bedenklichkeiten über Consuelo’s Äußere zu erkennen gab, so weigerte sich Porpora entschieden, das Mädchen in einer Privatzusammenkunft und unvorbereitet vor ihm singen zu lassen.
– Ich kann sie nicht, erwiderte er auf die Fragen und Bitten des Grafen, für eine Schönheit ausgeben. Ein Mädchen, so ärmlich gekleidet, und schüchtern, wie es ein Kind aus der Volksklasse, das nie die mindeste Beachtung gefunden, vor einem vornehmen Herrn und Richter eures Standes wohl sein muss, bedarf durchaus einiger Toilette und Vorbereitung. Zudem ist Consuelo eine von denen, welche der Ausdruck des Genies schöner macht. Man muss sie zugleich sehen und hören. Lasst mich gewähren. Wenn ihr nicht zufrieden seid, so lasset sie mir, und ich werde Mittel und Wege finden, aus ihr eine wackere Nonne zu machen, welche zum Ruhme der Schule Eleven unter ihrer Leitung bildet.
In der Tat war dies die Zukunft, welche Porpora bisher für Consuelo im Sinne gehabt hatte.
Als er seine Schülerin wiedersah, kündigte er ihr an, dass sie von dem Grafen gehört und beurteilt werden würde. Und da sie ihm ehrlich gestand, wie sehr sie fürchte, hässlich gefunden zu werden, so versicherte er ihr, sie würde gar nicht sichtbar sein, sie würde hinter dem Gitter der Orgeltribüne singen, denn der Graf wollte sie beim Gottesdienste in der Kirche hören. Nur riet er ihr, sich schicklich zu kleiden, weil sie nachher diesem Herrn auch vorgestellt werden müsste, und obgleich selbst arm, schenkte ihr der großmütige Meister dennoch einiges Geld zu diesem Behufe.
Ganz bestürzt, ganz aufgeregt, zum ersten male mit der Sorge für ihre Person beschäftigt, setzte Consuelo in der Eile ihre Toilette und ihre Stimme in Bereitschaft; die letztere nämlich versuchte sie geschwind, und als sie dieselbe so frisch, so stark, so biegsam fand, sagte sie wiederholt zu Anzoleto, welcher ihr bewegt und entzückt zuhörte: Ach! warum braucht doch ein Sängerin noch mehr als singen zu können?
Am Tage vor dem Feste fand Anzoleto Consuelo’s Tür verriegelt und musste wohl eine Viertelstunde auf der Treppe warten; endlich ward er eingelassen, um seine Freundin in ihrem Festputze zu sehen, den sie vor ihm probieren wollte. In einem hübschen Kleide von großblumigem Zitz, im Spitzentuch und Puder, sah sie so fremd aus, dass Anzoleto einige Augenblicke unbeweglich stand und nicht wusste, ob sie bei dieser Verwandlung gewonnen oder verloren habe. Sein Schwanken war für Consuelo, die in seinen Augen las, ein Dolchstoß.
– Ach! rief sie, ich sehe es wohl, dass ich dir so nicht gefalle. Wem sollte ich wohl erträglich scheinen, wenn selbst dem, der mich liebt, mein Anblick nicht erfreulich ist?
– Nur ein klein wenig Geduld! entgegnete Anzoleto. Vor der Hand bin ich noch ganz erstaunt, wie schön deine Taille in diesem langen Leibchen ist, und was für ein vornehmes Aussehen dir die Spitzen geben. Die reichen Falten an dem Rocke stehen wunderschön. Nur um dein schwarzes Haar ist mir’s leid … mir däucht wenigstens … es ist aber einmal der Brauch, und du musst morgen eine Signora sein.
– Warum muss ich eine Signora sein! Ich ich hasse diesen Puder, der die Schönsten fad und alt macht. Ich bin nicht ich selbst unter diesen Falbalas. Und kurz, ich gefalle mir nicht, und ich sehe dass du meiner Meinung bist. Da war ich heute früh in der Probe und sah die Clorinda, die auch ein neues Kleid anversucht hatte. Sie sah darin so geputzt, so stattlich, so schön aus (o die ist glücklich, die braucht man nicht erst zweimal anzusehen, um sich von ihrer Schönheit zu überzeugen), dass mir ganz Angst ist, neben ihr vor dem Grafen zu erscheinen.
– Und sie hat schlecht gesungen?
– Wie immer … Ach, mein Freund! diese Nebenbuhlerei verdirbt recht das Herz. Wenn noch vor kurzem die Clorinda, die bei aller ihrer Eitelkeit ein gutes Kind ist, vor irgend einem Richter Fiasko gemacht hätte, ich würde sie von ganzer Seele bedauert haben, ich würde ihren Kummer und ihre Beschämung geteilt haben. Und nun ertappe ich mich darauf, dass das mich freut. Kämpfen, neidisch sein, sich gegenseitig zu vernichten suchen! und das alles für einen Mann, den man nicht liebt, den man nicht kennt. Entsetzlich traurig macht mich das, mein liebes Herz! und ich glaube, ich fürchte mich eben so sehr vor dem Erfolg, als vor dem Misslingen! Mir ist zu Mute, als ob es mit unserem Glücke nun aus wäre, als ob ich morgen nach der Probe, wie sie auch ausfalle, in dieses arme Zimmer ganz anders wiederkehren müsste, als ich darin bis jetzt gelebt habe.
Zwei große Tränen rollten über Consuelo’s Backen.
– Nun gar! Jetzt wirst du weinen! rief Anzoleto. Was fällt dir ein? dir die Augen trüben und die Augenlieder anschwellen? Deine Augen, Consuelo! verdirb dir ja die Augen nicht, denn die sind an dir das Schönste.
– Oder das am wenigsten Hässliche! sagte sie, die Augen trocknend. Nun wohl, wenn man sich in die Welt begibt, so hat man nicht einmal mehr das Recht zu weinen.
Ihr Freund bemühete sich, sie zu trösten, aber sie war den ganzen Tag über bitter betrübt, und am Abend, als sie allein war, wischte sie sorgfältig ihren Puder ab, entkräuselte und glättete ihre schönen, pechschwarzen Haare, versuchte ein noch frisches Kleidchen von schwarzer Seide, das sie Sonntags zu tragen pflegte und gewann wieder Vertrauen zu sich selbst, als sie sich vor ihrem Spiegel so wiederfand, wie sie sich kannte. Dann betete sie mit Inbrunst, gedachte an ihre Mutter, wurde traurig und schlief weinend ein.
Als Anzoleto am anderen Morgen kam, um sie in die Kirche abzuholen, fand er sie an ihrem Spinett, gekleidet und gekämmt wie alle Sonntage und ihr Probestück durchgehend.
– Was, rief er aus, noch nicht coiffiert, noch nicht geputzt! Die Zeit rückt heran, was hast du denn im Kopfe, Consuelo?
– Mein Freund, erwiderte sie fest, ich bin geputzt, ich bin coiffiert, ich bin ruhig. Ich will so bleiben. Jene schönen Kleider stehen mir nicht. Dir sind meine schwarzen Haare lieber als der Puder. Dieses Leibchen lässt meinen Atem ungehindert. Widersprich mir nicht: mein Entschluss ist gefasst. Ich habe Gott um Eingebung gebeten, und meine Mutter, mir zu helfen, dass ich mich richtig betrage. Gott hat mir eingegeben, bescheiden und einfach zu sein. Meine Mutter ist mir im Traume erschienen und hat mir gesagt, was sie mir schon immer sagte. Denke darauf, gut zu singen, und überlasse der Vorsehung das andere. Ich sah sie mein schönes Kleid, meine Spitzen und Bänder nehmen und in den Schrank räumen, dann legte sie mir mein schwarzes Kleid und meine weiße Mousselin-Mantille auf den Stuhl an meinem Bette. Kaum war ich erwacht, so tat ich wie sie in meinem Traume getan, ich schloss meine Toilette ein und zog das schwarze Kleid und die Mantille an: ich bin also fertig. Mein Mut ist mir wieder gekommen, seitdem ich nicht mehr daran denke, durch Mittel zu gefallen, mit denen ich nicht Bescheid weiß. Da, höre einmal meine Stimme, es ist alles da, siehst du.
Sie machte einen Lauf.
– Gott im Himmel, wir sind verloren! rief Anzoleto, deine Stimme ist bedeckt und deine Augen sind rot. Du hast gestern Abend geweint, Consuelo. Nun, das ist eine schöne Geschichte. Ich sage dir, wir sind verloren, du bist toll mit deinem Eigensinn, dich an einem Festtage in Trauer zu kleiden: das bringt Unglück und macht dich hässlich. Geschwind, geschwind! zieh dein schönes Kleid wieder an, indes ich laufen will und dir Rot kaufen. Du bist bleich wie ein Gespenst.
Über diesen Gegenstand erhob sich unter ihnen ein ziemlich lebhafter Streit. Anzoleto wurde etwas grob. Der Kummer kehrte in die Seele des armen Mädchens zurück und ihre Tränen flossen wieder. Nun ärgerte sich Anzoleto noch mehr, und sie stritten noch, als sie den Stundenschlag vernahmen, den unglücklichen Stundenschlag, drei Viertel auf Zweie, die höchste Zeit, um noch nach der Kirche zu kommen, wenn man sich außer Atem lief. Anzoleto verwünschte den Himmel mit einem derben Fluche. Consuelo, bleicher als der Morgenstern, der sich im Wiederscheine der Lagunen beschaut, warf noch einen letzten Blick in ihr zerbrochenes Spiegelchen: dann wendete sie sich um und warf sich ungestüm in Anzoleto’s Arme.
– O mein Freund, rief sie, grolle mir nicht, verwünsche mich nicht. Küsse mich vielmehr, küsse mich recht, um meinen Backen diese gelbe Blässe zu benehmen. Dein Kuss sei mir wie das heilige Feuer auf den Lippen Isajas’, und möge uns Gott nicht strafen, dass wir an seiner Hilfe gezweifelt haben.
Mit Lebhaftigkeit warf sie ihre Mantille über den Kopf, griff nach ihren Noten, und ihren bestürzten Geliebten mit sich ziehend, eilte sie nach den Mendicanti, wo die Menge schon versammelt war, um Porpora’s schöne Musik zu hören. Anzoleto war mehr tot als lebendig; er begab sich auf die Tribüne des Grafen, wohin ihn dieser eingeladen hatte, Consuelo ging auf die Orgel, wo sie die Chöre schon in Schlachtordnung aufgestellt und den Professor vor seinem Pulte fand. Consuelo wusste nicht, dass man von der Tribüne des Grafen weniger in die Kirche als auf den Orgelchor sehen konnte, dass der Graf sie schon ins Auge gefasst hatte und dass er keine ihrer Bewegungen verlor.
Ihre Züge konnte er noch nicht unterscheiden, denn sobald sie eintrat, kniete sie nieder, verbarg ihren Kopf in den Händen und begann mit inbrünstiger Andacht zu beten. Mein Gott, sprach sie aus tiefstem Herzen, du weißt, dass ich mich über meine Nebenbuhlerinnen nicht zu erheben begehre, um sie zu demütigen. Du weißt, dass ich mich nicht der Welt und der profanen Kunst hingeben will, um deine Liebe zu verlassen und mich auf die Bahn des Lasters zu verlieren. Du weißt, dass meine Seele nicht von Stolz aufgebläht ist, und dass ich nur, um mit dem Manne leben zu können, den meine Mutter mir zu lieben erlaubt hat, um ihn nie zu verlassen, um ihm seine Freude und sein Glück zu sichern, zu dir flehe, stehe mir bei und adle meinen Vortrag und meine Gedanken, während ich dein Lob singen werde.
Als die ersten Orchestertöne Consuelo an ihren Platz riefen, erhob sie sich langsam: ihre Mantille fiel auf ihre Schultern zurück und ihr Gesicht zeigte sich endlich den erwartungsvollen und besorgten Zuschauern auf der benachbarten Tribüne. Aber welche wunderbare Verwandlung war mit diesem jungen Mädchen vorgegangen, welches eben noch so bleich und zaghaft, so aufgelöst von Ermattung und Furcht erschienen war. Während die sanften und edlen Züge ihres heiteren, freien Gesichtes sich noch in einem weichen Schmachten badeten, schien ihre hohe Stirn von einem himmlischen Glanze umflossen. Ihr ruhiger Blick verriet keine jener kleinen Leidenschaften, welche gemeinen Erfolg suchen und begleiten. Es lag in ihrem Wesen etwas Feierliches, Tiefes und Geheimnisvolles, welches Ehrfurcht und Rührung unwiderstehlich erweckte.
– Mut, meine Tochter, flüsterte ihr der Professor zu, du sollst ein Stück von einem großen Meister singen, und dieser Meister ist zugegen und hört dich.
– Wer? Marcello? rief Consuelo, als sie den Professor Marcello’s Psalmen auf dem Pulte aufschlagen sah.
– Ja, Marcello! antwortete Porpora. Singe nur wie immer, nichts mehr, nichts weniger, und es wird gut sein.
Wirklich war Marcello, der damals in seinem letzten Lebensjahre stand, nach Venedig gekommen, um noch einmal seine Vaterstadt zu sehen, deren Zierde er als Komponist, als Schriftsteller und als Magistratsperson geworden war. Er hatte dem Porpora alle Artigkeit erwiesen und die Einladung angenommen, dessen Schule zu hören; Porpora aber gedachte ihm die Überraschung zu, dass er zuerst seinen eigenen prachtvollen Psalm: I cieli immensi narrano von Consuelo, welche ihn vollkommen inne hatte, hören sollte. Kein Stück hätte besser der frommen Entzückung entsprochen, in welcher sich die Seele des edlen Mädchens befand. Kaum glänzten die ersten Worte dieses großen, freien Gesanges vor ihren Augen, so fühlte sie sich in eine andere Welt entrückt. Vergessen hatte sie den Grafen Zustiniani, die missgünstigen Blicke ihrer Nebenbuhlerinnen, Anzoleto sogar, an nichts dachte sie als an Gott und an Marcello, der ihr wie ein Dolmetsch vorkam zwischen ihr und den leuchtenden Himmeln, deren Schönheit sie feierte. Und kann es in der Tat einen schöneren Gegenstand, einen erhabeneren Gedanken geben?
I cieli immensi narrano
Del grande Iddio la gloria
Il firmamento lucido
All’ universo annuncia
Quanto sieno mirabili
Della sua destra le opere.5
Ihre Wangen glüheten und ihre großen, schwarzen Augen blitzten von himmlischem Feuer, als sie das Gewölbe mit ihrer unvergleichlichen Stimme erfüllte, mit dem siegreichen, reinen, großartigen Vortrag, der nur denen möglich ist, welche hellen Verstand und tiefes Gefühl in sich vereinigen.
Marcello hatte die ersten Takte gehört, und ein Strom von Freudentränen brach aus seinen Augen. Der Graf, unfähig sein Entzücken zu bemeistern, rief aus: Bei allem Blute Christi, dieses Weib ist schön! Es ist Santa Cäcilia, Santa Theresa, Santa Consuelo! Es ist die Poesie, die Musik, der Glaube in Person. Anzoleto war ausgestanden, er konnte sich auf seinen brechenden Knien nur mit Hilfe seiner Hände erhalten, mit welchen er sich an das Gitter der Tribüne klammerte; er fiel atemlos, einer Ohnmacht nah, wie berauscht von Freude und Stolz, auf seinen Sitz zurück.
Alle Scheu vor der heiligen Stätte war nötig, dass nicht die zahlreichen Dilettanti samt der Menge welche die Kirche erfüllte, in wahnsinnige Beifallsbezeigungen wie im Theater ausbrachen. Der Graf hatte nicht Geduld genug, das Ende des Gottesdienstes abzuwarten, sondern ging auf die Orgel, um Porpora und Consuelo seine Bewunderung auszudrücken. Unter der Psalmodie der Choristinnen musste Consuelo auf der Tribüne des Grafen die Lobsprüche und den Dank Marcello’s entgegennehmen. Sie fand Marcello so bewegt, dass er kaum reden konnte.
– Meine Tochter, sagte er mit abgebrochener Stimme, empfange den Dank und den Segen eines Sterbenden. Du hast mir einen Augenblick bereitet, welcher mich Jahre tödlicher Schmerzen vergessen ließ. Mich dünkt, als wäre ein Wunder an mir geschehen, als wäre dieses unablässige, schreckliche Leiden vor dem Klange deiner Stimme auf immer von mir gewichen. Wenn die Engel dort oben singen, wie du, so sehne ich mich, diese Erde zu verlassen, um die ewigen Freuden zu schmecken, deren Vorahnung du mir verschafft hast. Sei denn gesegnet, mein Kind, und sei glücklich auf dieser Welt, wie du es verdienst. Ich habe die Faustina gehört, die Romanina, die Cuzzoni und alle die größten Sängerinnen der Erde: sie reichen dir nicht an die Knöchel. Dir ist es aufbehalten, die Welt vernehmen zu lassen was sie nie vernommen hatte, und sie fühlen zu lassen, was noch kein Mensch gefühlt hat.
Vernichtet und wie zerbrochen unter diesem prächtigen Lob, senkte Consuelo das Haupt, beugte ihr Knie fast zur Erde, und führte, unfähig ein Wort zu sprechen, die falbe Hand des erlauchten Sterbenden an ihre Lippen: als sie sich aber erhob, ließ sie auf Anzoleto einen Blick fallen, welcher ihm zu sagen schien: du hattest mich nicht erraten, Undankbarer!