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Читать книгу: «Hann Klüth: Roman», страница 2

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III

Es war am Abend nach dem Begräbnis.

Da begab sich folgendes:

Die leidtragenden Fischer und Lotsen, die so altertümlich in ihren weit abstehenden, schwarzen Gehröcken und den unförmigen, pudligen Zylindern aussahen, waren nach einem reichlichen Leichenschmaus abgezogen. In dem Stübchen, in dem der Kranke so lange gelegen, blieben nur seine beiden Ältesten zurück, um in einem alten Rollpult nach Papieren zu suchen, die der Verstorbene vielleicht hinterlassen. Es sollte eine Verschreibung des Magistrats auf eine Pension vorhanden sein.

Wenigstens hatte sich oll Kusemann während des Leichenschmauses bei einem Glase Kirschlikör urplötzlich darauf besonnen.

Wenn das wirklich ausnahmsweise kein Geflunker war! Wenn das Wahrheit wäre! —

Fast ohne zu sprechen suchten die beiden.

Das Fenster stand offen. Man wollte auslüften. Unterdes befanden sich die andern Trauernden auf dem Hofe hinter dem Häuschen.

Es war ein kleiner, ungepflasterter Hof. Rings herum ein Bretterzaun, an dem rote Johannisbeersträucher in die Höhe rankten. In der Mitte ein niedriges, grünmoosiges Rohr, die Pumpe. Ganz in der Ecke, auffallend niedrig, mit Moos und Schindeln gedeckt, ein Stall für drei Kühe und daneben, nicht größer als eine Hundehütte, ein hölzerner Schweinekoben.

Aus ihm drang Schnuppern und Schnaufen den ganzen Tag. Auf dem schrägen Dach jenes Kobens saßen an diesem Abend Hann und Line.

Beide in ihren schwarzen Traueranzügen.

Der Junge ungeschlacht, wie ein verzauberter kleiner Schornsteinfeger; das Mädchen vornehm, wie die Prinzessin, die den Schweinehirten heiratet.

In dem Kuhstall aber weilte noch ein anderes Paar. Ein älteres. Hier saß die Witwe, die kleine Frau Klüth, mit ihrem vergrämten Gesicht auf einem Schemel und verrichtete langsam und trauervoll ihr abendliches Werk. Sie melkte ihre wohlgenährten, glänzenden Kühe.

An der Schwelle, leicht an den Pfosten angelehnt, sah Dietrich Siebenbrod, gleichfalls im Trauerrock, diesen Geschäften nachdenklich zu.

Er hatte eine kleine Pfeife in der Hand. Aber er rauchte nicht. Er hielt das in diesen Augenblicken für unschicklich.

Ein wundervoller Herbstabendglanz lag auf dem Fischerdörfchen.

Bäume und Dächer leuchteten einen unbestimmten matten Schimmer. Am Himmel zogen lichtrosige Wolken dahin. Rosig durchleuchtet ringelte sich Rauch aus den Schornsteinen. Überall tiefe Ruhe. Nur vom Bodden strich ab und zu ein leichter Windzug daher, und dann sah man fern durch die Bäume und Büsche, wie die See draußen ihre Farben änderte.

Ein Jagen von Grün und Zitterblau!

Dann wieder Stille.

Da regte sich Line auf dem Koben.

»Sprich was,« sagte sie zu Hann und stieß ihn leicht an den Arm. »Es ist so häßlich, das Stillsein.«

Sie fürchtete sich heimlich. Denn ununterbrochen, klammerfest wurde sie von diesem einen Bilde gefangengenommen, wie die Lotsen den Sarg heruntergelassen, die Erdklumpen hohl daraufgekollert, und wie oll Kusemann hinter ihr, scheinbar absichtslos, die Worte geflüstert: »Sieh, wenn die letzte Handvoll drauf liegt, dann macht sich die Seele auf ihren Weg.«

»Ja, dann macht sie sich auf den Weg,« ging es ebenfalls durch Hanns Gedanken, denn auch er hatte, ohne daß Line davon wußte, die Worte oll Kusemanns wohl vernommen.

Und zum erstenmal – an dem dunklen Grab – regte sich bei dem blöden Jungen, dem das Lernen versagt war, eine nachdenkliche Frage.

Jetzt sprach er sie aus. Langsam und stockend in den lichten Abend hinein, während unter ihm die Schweine schnüffelten und ganz nahe die Milch in den Eimer klatschte.

»Lining,« begann er, »hast gehört, was oll Kusemann sagte? – Weißt du, was 'ne Seel' is?«

»Nein – laß,« versetzte die Kleine ängstlich und zog an ihrem Kleid. »Aber oll Kusemann meinte ja vorgestern, sie säh' grau aus.«

»Ja, grau sieht sie aus,« nickte der Junge schwerfällig, »denn irgend 'ne Farb' muß sie haben. Schweine sehen gelb aus und Rosen rot, und Seelen werden dann woll grau sein.«

»Vaters Seel' is nu im Himmel«, – sagte Line geheimnisvoll. »Sieh, da oben, wo die rote Wolke geht, da oben sitzt er gewiß und sieht zu, wie hier das Vieh gefüttert wird. Das hat er sonst ja auch immer gemacht. – Meinst du nicht, daß er's da oben gut hat?«

»Das hat er,« bestätigte Hann ernsthaft.

»Woher weißt du das?« fragte Line rasch.

Hann rückte eine Weile hin und her, als getraue er sich nicht recht. Dann beugte er sich vor, warf einen spähenden Blick in den Kuhstall hinein und schob sich endlich ganz dicht an Line heran, so daß die beiden Köpfe sich eng berührten.

Sonst ließ ihn Line nie so nahe heranrücken, ohne die Hand gegen ihn zu erheben.

»Ich weiß, daß er's gut hat,« brachte der Junge scheu hervor und seufzte, als wenn ihn ein Geheimnis drücke. »Aber sieh, du mußt es Paul nicht sagen.«

»Was denn, Hann?«

Wieder ein schwerer Atemzug, dann rasch: »Ich hab neulich in den Himmel reingekuckt.«

»Du?«

»Ja, ich.«

»Womit?«

»Oll Kusemann hat in seinem Wetterhaus ein Rohr. Damit kann er in den Himmel kucken. Und da hat er es mir auch gezeigt.«

»Hann – Hanning, und was hast du da gesehn?«

»Lauter Glänzendes, das so hin und her zieht, und dann solche grauen Punkte, die fliegen überall herum. Das sind die Seelen. Oll Kusemann hat es mir ganz genau erklärt.«

»Hann – «

Line zögerte einen Moment. Dann schlang sie ihren Arm in den seinen. Die Frage war zu wichtig.

»Hast du auch den lieben Gott gesehn?«

Hann zögerte und seufzte wieder.

Es fiel ihm zu schwer.

»Hann, was tat der liebe Gott?«

»Line – ich darf nicht drüber sprechen. Oll Kusemann hat es mir direkt verboten. Aber« – er wälzte sich seine Last ab – »du sollst es wissen. Der liebe Gott sitzt an einem großen goldenen Tisch und um ihn herum lauter graue Seelen.«

»Und was machen sie da?«

»Da essen sie Mittag.«

»Mittag? Jemine, essen die da oben auch?«

»Jawoll – die Schüsseln und Gläser hab' ich genau erkannt. Oll Kusemann sagt, die wären all' von Sonnenschein.«

Line starrte ihn an.

»So schön is es da oben?« fragte sie endlich. Begierig hob sie die Augen zu den großen roten Flecken empor, die sich allmählich silbern ränderten.

Es wurde immer dunkler. – Plötzlich schrie Line auf.

»Line, was is?«

»O da oben!« rief sie und legte schaudernd den Kopf auf das Dach des Kobens. Sie zitterte.

Deutlich hatte sie den alten, toten Lotsen geschaut, wie er in seinem roten Schiff über sie hinfuhr. Dabei hatte er »Line« gerufen – ganz deutlich »Line«. Jetzt hob auch der Junge das Haupt. Dann nahm er die Mütze ab und grüßte nach oben.

»Ich hab' ihn auch gesehn,« flüsterte er dabei.

Für eine Weile herrschte tiefe Stille zwischen den Kindern. Erst nach einiger Zeit nickte Hann ernsthaft vor sich hin und legte den Zeigefinger an seine plumpe Nase: »Ich hab's mir gleich gedacht,« sprach er, »daß er nun da oben als Schiffer angestellt is. Ich möcht' auch gern einmal in solch schönem roten Schiff fahren.«

»Möchtest du denn auch schon dahin?« fragte Line frierend vor Furcht und schüttelte die schmalen Schultern.

»Da kommen alle Menschen hin, die hier unten nicht gesessen haben.«

»Und die gesessen haben?«

»Die kommen zum Teufel. – Oll Kusemann hat ihn erst neulich in Stralsund getroffen. Er trug einen Zylinder.«

»Nein, nein,« zitterte Line und nahm rasch Hanns Hand in die ihre.

Sie hielt ihn ganz fest.

Aber nach ein paar Augenblicken sprach Hann nachdenklich weiter: »Das hat der liebe Gott schlecht gemacht.«

»Was, Hann?«

Immer näher drängte sie ihre zitternden Glieder an den Jungen heran.

»Daß er nicht gleich lauter Seelen gemacht hat. Dann brauchte man nicht erst in solch engen, schwarzen Kasten, und die Begräbniskosten wären auch nicht da – und man hätte gleich eine Anstellung in so einem feinen, roten Schiff.«

In diesem Moment ging ein Windstoß durch die Bäume. Altes Laub flog den Kindern um die Ohren, und eine der Kühe nebenan stieß ein wehklagendes Brüllen aus.

Da durchdrang das kleine Mädchen ein überwältigender Schrecken. Heftig, wie sie war, glaubte sie, Hann wäre an allem schuld. Und während sie ihn mit aller Kraft in den Arm kniff, so daß er einen heiseren Schmerzensruf ausstoßen mußte, schrie sie wild auf: »Du Dummerjahn – bloß hier unten bleiben – ich will nich solch ein Gespenst werden – nein, nein, ich will nich grau sein.«

Heftig sprang sie auf den zottigen Hofhund zu, den sie schutzsuchend umklammerte. Und Pluto, der Hann nicht leiden konnte, heulte wütend nach dem Dach des Schweinekobens hinauf und fletschte die Zähne nach dem Jungen.

* * *

So hob über den Schweinen die Geburtsstunde eines Philosophen an. In dem Kuhstall daneben aber wurde zu derselben Spanne Zeit das Schicksal entschieden, das alle, die sich jetzt in dem Lotsenhäuschen befanden, aneinanderketten, verwirren und dann auf ewig trennen sollte.

Im Abendglanz lachte dazu von fern die See, die sich doch einmal zwischen die Schuldigen legen sollte, unschuldig wie ein kleines Kind, das in azurner Wiege geschaukelt wird.

Der Bootsmann Dietrich Siebenbrod lehnte am Pfosten des Kuhstalles und beobachtete, wie die Witwe seines Brotherrn die Kühe melkte.

Der leichte Seewind spielte mit den Enden des ihm so ungewohnten Bratenrockes, und unter dem wolligen Zylinder, der noch immer sein Haupt bedeckte, fühlte sich Siebenbrod feierlich angeregt.

Deshalb sprach er auch kein Wort, sondern horchte mit Ernst auf das Einströmen der Milch.

»Strull – strull,« ging es gleichmäßig fort.

Da schlug vom nahen Kirchturm die Uhr, deren goldene Buchstaben in der Abendsonne gleißten und funkelten.

Die entscheidende Unterhaltung begann. Erst harmlos und ungewollt, wie fast alle großen Ereignisse.

»Acht,« sagte Dietrich Siebenbrod, und nachdem er seine sogenannte Warmbieruhr gezogen hatte, setzte er hinzu: »Nu is der Herr all sechs Stunden begraben.«

»Ach, Gott!« —

In das »Strull-strull« mischte sich ein Schlucken, man hörte das Rascheln des frischen Heus, das von den Kühen aus den Raufen gezogen wurde, und dann rann die Milch wieder stoßweise in den Holzeimer.

Nach einer Pause der Sammlung fuhr Siebenbrod fort: »Der Lotsenkapitän aus Göhren war auch beim Begräbnis.«

Und die melkende Witwe antwortete seufzend: »Ja, ja, sie haben meinem sel'gen Mann alle viel Ehr' angetan.«

Darauf zog sie mit der Linken ihr Taschentuch hervor und führte es an ihre weinenden Augen, mit der Rechten melkte sie fürbaß.

»Den Lotsenposten bekomm' ich nich,« sprach Siebenbrod ruhig weiter – »Der Kapitän hat gesagt, es is wegen …«

»Den Schnaps,« tönte es aus dem Stall – »ja, ja Siebenbrod, das is nich recht von Ihnen.«

»Jetzt gewöhn' ich mir ihn aber ab,« unterbrach der Bootsmann mit festem Entschluß.

»Is das sicher?«

»Ganz sicher.« —

Die Witwe setzte den vollen Eimer beiseite, jedoch bevor sie den andern heranzog, wandte sie ihr ältliches, vergrämtes Gesicht der Stallöffnung zu. Dann betrachtete sie den Bootsmann aufmerksam, brach aber sofort, kopfschüttelnd, in ein leises Weinen aus: »Ne – ne, – es is zu slimm.«

»Was? – Frau Klüth.«

»O nix nich – Siebenbrod – ich meinte man so.«

Damit machte sie sich an die letzte Kuh.

»Strull – strull.«

Siebenbrod rührte sich. Er hatte sich in der Nacht vorher alles überlegt. Es ging nicht anders. Er mußte es tun.

»Frau,« begann er und nahm vor der Wichtigkeit des Moments den Hut in beide Hände: »Ich wollt' nun noch fragen, wie es mit mir wird?«

»Mit Ihm?«

»Ja, da ich ja nun den Lotsenposten nich bekomm, und da das mit der Pension wohl auch man dumm's Zeug von oll Kusemann is, so wollt ich man fragen, wie ich mich von nu an gehaben soll?«

»Je, Siebenbrod, wie mein lieber Mann gesagt hat – dann wollen wir es in Gott's Namen mit der Fischerei versuchen. Man muß doch leben. Und vier Kinder sind auch nich leicht durchzubringen.«

»Je, das sag' ich man. Aber – aber, Frau, nehmen's nich übel – ich bin doch nu auch all siebenunddreißig Jahr alt.«

»Je, was meint Er damit?«

Die Witwe melkte hastiger, so daß die Kuh ein wehklagendes, mißbilligendes Brummen ausstieß.

Siebenbrod überzählte noch einmal die Kühe, dann sagte er ruhig: »Je, es is man wegen den Zesnerfischern.«

»Was wollen die, Siebenbrod?«

»Strull – strull.«

»Je, Madamming, nehmen's nich übel – aber sie nehmen keinen Unverheirateten auf.«

»Huch,« rief die Witwe tief erschrocken.

Was der Bootsmann da vorbrachte, bedeutete ja eine Gefahr für das verwaiste Häuschen. Ein Fremder würde sich ihrer sicher nicht annehmen, und die paar Groschen, die ihr armer seliger Mann erübrigt hatte, ja, du lieber Gott, die reichten gerade für ein halbes Jahr.

»Strull – strull.«

Und dann das Studium von Paulen – und Bruno mußte erst Kaufmannslehrling werden (Ladendiener nannte es Frau Klüth). Gott – o Gott, die offenste Angst sprach sich in dem ältlichen, so merkwürdig glatten, ausdruckslosen Weiberantlitz aus. Und wenn nun Siebenbrod sie auch noch im Stich ließ? Vielleicht besaß er bereits eine Braut? Ja, dann saß sie ja ganz hilflos mit zwei alten Booten und vier unversorgten Menschen da!

Was war hier zu tun? Sie wurde sehr nervös, und ihre Gedanken schwenkten immer rechnender von dem Toten zu dem Heute zurück.

»Hat Er denn schon eine?« begann sie plötzlich überstürzt, und als Siebenbrod ein wenig verlegen vor sich hinnickte, setzte sie halb weinend hinzu, warum er das denn nicht schon früher geäußert hätte.

An der Kuh wurde lebhaft gerissen. Schmerzlich brüllte das Tier auf. —

»Muh!«

»Je, Madamming,« sagte Siebenbrod schon etwas sicherer, »ich dacht mich auch, es hätt' bis nach dem Begräbnis Zeit.« Und während er den wolligen Zylinder etwas langsamer drehte, fügte er noch ehrbarer bei: »Denn vorher schickt sich das doch wohl nich gut?«

»Ach, mein Gott!« murmelte die Witwe.

Dann trat Stille ein.

Eine lange, feierliche Schweigsamkeit, während welcher das Strull-strull immer langsamer auftönte, um endlich ganz zu verstummen. Auch Siebenbrod versank wieder in seine würdige Ruhe. Nur daß er jetzt den Zylinder aufsetzte, als hätte dieser seine Dienste verrichtet, und daß er aufmerksam in die Ecke des Kuhstalls hinüberlauschte, von wo einige schwere Seufzer laut wurden. Auf einmal sprach aus der Dunkelheit eine traurige Stimme: »Siebenbrod, will Er sich denn wirklich das Trinken abgewöhnen?«

»Je, Madamming, seit drei Tagen all keinen Tropfen mehr. Nich rühr an.«

»Das is gut,« lobte die Witwe und fiel wieder in ihr früheres Grübeln.

»Ja,« fuhr Siebenbrod nun schon beruhigter fort, »und die beiden Ältesten gehen ja nun aus dem Haus, und Hann lern' ich an, und wenn dann die lütte Dirn auch erst in die Stadt kommt, je, dann werden wir ganz gut fertig werden, Madamming.« Und die Witwe nickte in ihrer festeren Ecke und murmelte in sich hinein: »Ja, ja, Siebenbrod, das is ja soweit ganz richtig.«

»Je, Madamming, und dann freu' ich mich auch, daß alles so schön in Ordnung is. – Denn ich bin nu auch all in die Jahren. Lassen Sie man, ich werd' Sie die Eimers raustragen helfen.«

Von der Dorfuhr schlug es neun. Ein weiches Abenddunkel sank auf Moorluke. Auf den beiden schlanken Pappeln vor dem Häuschen hatte sich eine schwarze Wolke junger Stare niedergelassen und zwitscherte hundertstimmig Braut-, Wander- und Jugendlieder.

Und der alte Klüth ruhte jetzt doch bereits die siebente Stunde.

IV

An einem der nächsten Tage – noch wußten die Kinder nicht, was im Kuhstall beschlossen war – wurde Hann ins bürgerliche Leben eingeführt.

Er lag gerade mit Line auf einer der schönen grünen Wiesen, auf denen Moorluke gebaut ist, und die sich bis zum Meer hinunterziehen. Die letzten Gräser biegen und wiegen sich über den sanften Wassern und flüstern mit den Stichlingen. Manchmal schießt auch ein rotkäppiger Barsch heran, beißt vor Lebenswonne in die schwanken Halme und saust wieder in die schillernde Weite zurück. Hann wußte das alles.

Er fühlte es, wenn er es auch nicht sah. Seine Umgebung war das einzige, was er gelernt hatte, und was ihm vertraut war.

Da, wo das Gras am höchsten und üppigsten grünt, da liegen die beiden Kinder.

Line ruht auf dem Rücken. Um sie herum wehen wunderbar feine, seidig-graue Gespinste. Es sind die zarten Heringsnetze, die aus meerblauer Seide geknüpft sind, damit sie mit der Seefarbe übereinstimmen und den scheuen Silberflößler nicht erschrecken. Jetzt sind sie zum Trocknen aufgehängt. Wenn der leichte Seewind zuweilen an sie rührt, dann zittern sie so seltsam um das Dirnchen, wie ungeheure, phantastische Spinnenwebe, in denen sich ein Nixenkind gefangen.

Es ist Vormittag.

Ringsherum Sonnenschein.

Das Meer funkelt wie ein weißgedeckter Tisch, auf dem eine Million in Goldstücken aufgezählt liegt.

»Line,« sagt Hann, der in seinem abgetragenen, blauen Drillichanzug in einiger Entfernung von ihr liegt und, den plumpen Kopf in beide Hände gestützt, aufmerksam einen wimmelnden Ameisenhaufen betrachtet: »Hast du wohl acht gegeben – «

»Still,« unterbricht Line unwillig.

»Ich mein', daß Dietrich Siebenbrod nun ümmer bei uns zu Tisch ißt?«

Wieder eine heftige Bewegung der kleinen Hand: »Sei ruhig.«

»Je, warum?«

»Weil ich da oben raufkuck.«

»Lining, siehst du was?«

»Nein – aber es is so häßlich, wenn du sprichst.«

»Oh, Lining, warum is das so?«

»Das weiß ich auch nich. Es is häßlich.«

»Je, dann kann ich ja auch ruhig sein.«

»Das tu. Dann kommt es wieder.«

»Was kommt?«

»Das Schöne.«

»Welches Schöne?«

»Dummer Jung. – Als wenn mich einer streichelt.«

»Oh, Lining – «

»Sei still.«

Und nun liegen sie beide wieder wie vorher. Die feinen blauen Maschen zittern und beben, und die fleißigen Ameisen rennen auf ihrem Hügel im Kreise.

Allmählich vergißt Hann, wie die kleine Pflegeschwester ihn schlechter als Pluto, den Hofhund, behandelt. Aber das ist ja schließlich auch so natürlich. Sie ist so viel vornehmer als er. Auf einer untergehenden schwedischen Bark ist sie gefunden worden. Vielleicht stellt sie wirklich was sehr Hohes vor. Am Ende gar eine Prinzessin. Ja, ja, und solch eine, die muß wohl so kurz angebunden sein. Das hat er ja immer gehört.

»Na, denn is es ja ganz in Richtigkeit,« meint Hann vor sich hin.

Damit wendet er sich wieder seinem Ameisenhaufen zu und beugt sich tiefer und tiefer darüber.

Wie die Tierchen alle beladen herumrennen. Ganze Züge in einer Richtung. Das ist sehr wunderbar. Der Junge denkt zum erstenmal darüber nach.

Da fällt unvermutet ein langer Schatten über den grünen Plan. Er gleitet langsam näher.

Line erhebt sich halb, blinzelt nach vorn und sagt wegwerfend: »Da kommt Dietrich Siebenbrod.«

»Ja, Lining,« antwortet Hann, »leiden kann ich ihn auch nicht recht.«

»Du auch nicht?«

»Ne, er spuckt ümmer in die Stuben.«

»Ja, ja – wollen ihn heute mal recht ärgern,« regt Line an.

Und Hann ist gänzlich damit einverstanden. Ganz selbstverständlich. Er ist immer nur der Gefolgsmann seiner Dame.

Der Bootsmann steht nun in seinen großen Wasserstiefeln vor ihnen.

Er hat ein gutmütiges, hageres, dunkelbraungebranntes Gesicht, glanzlose, schwarze Augen, eine große Menge schwarzer, schweißnasser Haare und eine glühende Adlernase.

Als er so vor ihnen steht, sieht er mit Vergnügen auf die schlanken, nackten Beinchen von Line herab, die in der Sonne seidig glänzen.

Die kleine Dirn findet er niedlich. Auch Hann mag er leiden. Nur hält er es an der Zeit, daß aus dem Jungen etwas wird. Überhaupt, seit aus dem Kuhstall die Zukunft ihn, wenn auch nur mit einem alten, unbeweglichen Weibsantlitz angelächelt, ist er von väterlichen Gefühlen beseelt.

Verwundert blickt er auf die beiden Kinder hinab, die so stumm daliegen, als wäre er gar nicht vorhanden. Nur Line schlenkert ein wenig mit dem rechten Bein hin und her, als schlüge sie damit den Takt zu einem Liedchen. Hann dagegen starrt unbeweglich in seinen Ameisenhaufen.

»Morgen,« beginnt Siebenbrod gemütlich, denn der Sonnenschein, die Kinder und das Gesumm der Käfer wecken Wohlgefallen in ihm.

»Aber ja nicht antworten,« »Man jo nich« – Auf keinen Fall; das ärgert den Säufer sicherlich.

Die kleinen Boshaften verhalten sich mäuschenstill.

Siebenbrod wundert sich, sperrt den Mund auf und faßt sich an die Nase.

Die Stille, das Schweigen, das seltsame Benehmen verwirren ihn sichtlich.

Wozu tun das die Jören?

»Was gibt's denn?« räuspert er sich endlich, indem er sich zusammennimmt. »Was is hier?«

Stille.

Nur Line summt mit den Käfern um die Wette und dirigiert das Konzert immer geschickter mit dem Fuß.

»Na, da soll doch,« bricht Siebenbrod, noch immer voller Erstaunen, los, denn an einen Kinderhaß, an eine Rebellion denkt er noch lange nicht. – Auch geht ihn die Dirn schließlich nichts an, ist zudem auch 'n netter Racker.

»Jung, bist du dumm? – Was kuckst du so in den Haufen? Steh gleich auf!«

Line wendet das Köpfchen und schielt zu ihrem Begleiter hinüber. Aber der bleibt fest. Er ist stolz, sich vor seiner Dame einmal zeigen zu können.

Er rührt sich nicht.

»Hann!« brüllt Dietrich plötzlich kirschrot, denn er begreift, und die Nase beginnt so merkwürdig zu zittern und zu funkeln, daß beide Kinder in ein befriedigtes, höhnisches Gelächter ausbrechen.

Siebenbrod reißt den Jungen in die Höhe: »Verfluchtiger Lümmel, willst du woll?«

»Laß los,« schreit Hann wütend dagegen. Aber die Habichtkrallen des andern geben ihn nicht frei. Sie wirbeln ihn vielmehr im Kreise umher, wie ein altes Kleidungsstück, das von dem Trödler von allen Seiten betrachtet werden soll.

Entsetzt springt jetzt auch Line in die Höhe.

Das bedeutet keinen Spaß mehr. Dietrich ist gewiß wieder betrunken.

»Laß ihn los,« will auch das kleine Kind rufen, aber der Laut bleibt ihr in der Kehle stecken.

Starr, gebannt, mit weiten, erschreckten Augen muß sie das Begebnis mit ansehen.

Das wickelt sich jedoch unheimlich schnell ab.

Siebenbrod wirbelt den Haufen Kleider noch zwei-, dreimal mit wütender Kraft herum, dann wirft er ihn ins Gras.

»Da lieg.«

»Was? – Was?« – heult Hann, halb vor Wut, halb vor Schmerz. »Was hast du mir zu sagen? – du oll Säufer? – Nichts – du büst ja man bloß unser Bootsmann, unser Knecht.«

»So,« lacht Siebenbrod höhnisch, »dann komm noch eins her, mein Hühning.«

Wieder streckt er die Klaue aus. Hann, rasend mit weißem Schaum vor dem Mund, entgeistert von der Scham, vor seiner Dame mißhandelt zu werden, hebt einen großen Feldstein in die Höhe – und dann – der arme Junge. – Er ist kein David, der den Goliath zerschmettert.

Mit wilden, funkelnden Blicken verfolgt Line nun das sich aufrollende Bild.

Hinten auf den blauen Hosen hat Hann einen grauen Flicken eingenäht. Der glänzt jetzt in der Sonne, als er über dem Knie von Siebenbrod liegt, und gerade auf diesen Fleck prasseln die flachen Hiebe des Bootsmannes hageldicht nieder.

Immer mehr – immer mehr – bis der Schall selbst das Schlucken und Schluchzen übertönt.

»Wart, mein Hühning, wirst du das wieder tun?«

»Nein – nein,« wimmert es.

»Na, dann verbitt' dich.«

»Oh – oh – ich verbitt' – mich.«

»Na, denn 's gut – Und nu gib mich die Hand, mein Söhning.«

Hann schleicht heran und gibt tiefgesenkten Hauptes die Finger.

»Na, dann 's gut – Nu is alles in Ordnung.«

»Oh – und oh – und oh – Line – Line – hat es gesehen.«

Da steht er im Sonnenschein, mitten auf dem zertretenen Ameisenhaufen, und schluckt und zittert am ganzen Leibe. Und ihm gegenüber verharrt noch immer das kleine Mädchen und sieht auf ihn hin.

Aber merkwürdig.

Ein seltsames, irrendes Lächeln schwebt dabei um die roten Lippen.

Der graue Fleck und die hohe Rundung, wie das aussah!

Wieder möchte sie lachen. Aber dort drüben weint der Gespiele so jammervoll, daß sie unbeweglich steht und zu ihm herübernickt.

Was sie jedoch beide nicht wissen, das ist das Merkwürdige, daß dieser Eindruck unverwischlich in dem Gedächtnis des Mädchens fortleben wird, daß er andere Gefühle auszulösen berufen ist, die Hann eines Tages mehr schmerzen müssen, als die schwielige Hand des neuen Stiefvaters Siebenbrod, und daß diese Zeit nicht mehr gar so fern liegt.

* * *

Er stand und weinte.

Line lächelte.

Und Siebenbrod meinte endlich befriedigt: »Nu komm.«

Dann nahm er ihn mit.

Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
11 августа 2017
Объем:
360 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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