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Читать книгу: «Die stählerne Mauer», страница 3

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Eine tiefe Erschütterung befiel mich beim Besuch einer Werkstätte, die keinen deutlichen Namen hat, nur »Reparaturstelle« heißt. Hier werden die Gewehre, Waffen, Armierungsteile und alle sonstigen Fundstücke des Schlachtfeldes gereinigt und wieder brauchbar gemacht. Durch jeden der Helme, Tornister und Mäntel, die ich da aufgeschichtet sah wie etwas tadellos Neues, ist irgendeinmal und irgendwo der harte bleierne Tod gegangen. Jetzt wird das gesunde Leben sie wieder tragen, zu unserem Schutz!

Unter den vielen Dingen, die vom Schlachtfeld zu dieser Reparaturstelle kamen, sah ich eine für Europa sehr wunderliche Beutegattung: die aus drei zähen Holzarten zusammengefügten zwei Meter langen Bogen indischer Urwaldleute oder afrikanischer Pfeilschützen! Solche Waffen und solche Kämpfer gegen unsere Maschinengewehre und Mörser ins Gefecht zu hetzen? Ist das nicht sinnlos und idiotisch? Ganz abgesehen davon, daß es auch verbrecherisch ist!

Von den fünfzig oder sechzig Bogen, die ich bei der reichen Schlachtbeute liegen sah, sind die meisten entzweigebrochen. Das geschah wohl nicht im Kampfe. Ich vermute, daß die Leute, welche diese Bogen auf dem Schlachtfeld zusammenlasen, sie aus Neugier und in Unkenntnis dieser exotischen Waffe nach der falschen Seite zu spannen versuchten. Krümmt man einen solchen Bogen, der auch ungespannt eine Biegung zeigt, nach einwärts, so zerbricht er; man muß ihn, um ihn elastisch zu machen, über die Biegung nach auswärts spannen.

In ähnlich verkehrter Weise versuchten es unsere Feinde mit Deutschland zu machen. Sie wollten uns klein zusammenbiegen, uns nach einwärts krümmen. Aber wir zerbrachen nicht. Und wie uns die Torheit der Feinde auch zu beugen versucht, immer schlägt und wirkt die zähe, unzerstörbare Spannkraft des deutschen Stahlbogens nach außen hin!

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Ich habe da aus der Fülle der deutschen Arbeitsbilder, die ich zu sehen bekam, nur ein paar ungenügende Stichproben aufgezählt. Wollte man diesem deutschen Friedenswerk inmitten des Krieges gerecht werden, so müßte man ein dickes Buch schreiben. Aber auch das Wenige wird ausreichen, um in der Heimat erkennen zu lassen, wie viel kluge, energische und erfolgreiche Arbeit hinter der Front geleistet wird, und wie viele Siege des deutschen Geistes und Fleißes unsere Feldgrauen in jenen scheinbaren »Ruhezeiten« erfechten, von deren Inhaltsfülle die militärischen Tagesberichte schweigen. Ebenso viel und ebenso Großes, wie von unseren siegreichen Kämpfen an der Front, wo die deutschen Truppen unerschütterlich im feindlichen Feuer stehen, wird die Geschichte des Weltkrieges einmal von diesen deutschen Wirtschaftserfolgen auf erobertem Boden zu erzählen haben. Und wenn ich bei der Schilderung dieser Bilder manches scherzhaft genommen und heiter geformt habe, so soll das den Wert der Sache nicht verkleinern. Die fröhliche Form ergab sich so, weil Heiterkeit, Ruhe und froher Glaube die kostbaren Geschenke sind, die ich als schauender Bürger im Feld empfange. Und wenn ich fröhlich erzähle, wohnt und schimmert hinter jedem meiner Worte eine Bewunderung, so ernst und tief, daß ich sie nicht auszusprechen vermag – und eine deutsche Dankbarkeit, so heiß und ehrlich, daß ich sie nicht sagen, nur fühlen kann.

4

11. März 1915.

Eine stürmische Nacht will sich verwandeln in einen trüben Morgen. Meine Uhr sagt mir: jetzt muß es Tag werden! Aber die Helle will nicht kommen. Immer bleibt dieses dicke, für die Augen undurchdringliche Grau über allen Dingen hängen. Manchmal huscht am Wagen eine Laterne vorbei, deren Licht so heftig flackert, daß es immer zu erlöschen und wieder aufzuglimmen scheint. Flimmernde Regentropfen und Schneeflocken fliegen horizontal an den Wagenfenstern vorüber. Manchmal brennt in der Ferne, bald hier, bald dort, eine rötliche Helle im Nebel auf. Das sind die Leuchtkugeln, die aus den Schützengräben emporgeschossen werden, um das Gelände zwischen Freund und Feind für eine halbe Minute zu erhellen. Fällt die Kugel nach kräftigem Glanze rasch herunter, so ist es eine deutsche, die nur die feindliche Stellung aufklären, nicht auch den deutschen Graben für die Feinde beleuchten will – bleibt die Kugel in der Höhe hängen und treibt sie eine Weile im Winde, so ist es eine feindliche, die an einem kleinen seidenen Fallschirm hängt.

Einmal hält der Wagen; man muß in dieser grauen Finsternis bei einer Wegkreuzung die Karte zu Rate ziehen. Der schwache Lichtkegel des elektrischen Taschenlämpchens gleitet über das Blatt. Ferner Kanonendonner und nahes Gewehrfeuer ist zu hören. Zur Rechten und Linken des Weges seh' ich undeutliche Ruinen im Nebel hängen, sehe zerrissene Mauern und leere Fensterlöcher. Schwerbeladene Karren ächzen vorüber, und ich höre die Stimmen der Fuhrleute. Welche Sprache reden sie? Nicht Französisch. Auch nicht Deutsch. Ich verstehe kein Wort. Und dennoch klingt diese Sprache so, als wäre sie eine liebe Schwester meiner eigenen. Etwas Warmes, fast Zärtliches erwacht in mir. Ich weiß: jetzt bin ich auf flämischem Boden! Wie die Leute da draußen, so ähnlich reden unsere Bauern bei Aachen und am Niederrhein.

Während der Wagen weiterfährt, spritzen von den Rädern dicke Schlammgüsse gegen die Fenster herauf. Nun halten wir und steigen aus, inmitten eines Waldes, den ein Wirbelsturm vernichtet zu haben scheint. Fast alle Bäume sind in halber Stammhöhe geknickt und haben besenförmige Splitterstümpfe. So weit man in der grauen Dämmerung zu sehen vermag, ist der Waldboden bedeckt mit einem Wust von zerschlagenen Baumkronen und mit zahllosen runden Erdlöchern, die bis zum Rande voll sind von schlammigem Grundwasser. – Ein Wald? Nein! Was ich sehe, war einmal ein herrlich gepflegter, durch seine Schönheit berühmter Park – der Park des vom Kriege zerstörten Schlosses Hollebeke.

Unter dem Gewehrgeknatter, das immer näher klingt, waten wir im Regen und im schwermütigen Grau der Morgenfrühe über eine Parkstraße hin und versinken bis zur halben Höhe der Stiefelröhren im schwarzen Schlamm. Ein zierliches Eisengitter ist zerschlagen und hängt verknüllt um die zerschossenen Baumstrünke; fast jeder dieser entzweigebrochenen Stämme ist hundertfach getüpfelt von den Kugelwunden der Gewehr- und Schrapnellschüsse und von den Rissen, welche die Granatsplitter schürften; auch die wenigen Bäume, die da noch unentwipfelt zu stehen scheinen, werden sterben müssen an diesen Wunden. Nun eine Mauer – nein, nur eine Reihe von Steinhaufen und Wandfragmenten, die noch erraten lassen, daß sie einmal eine schmucke Parkmauer waren; durch die Löcher gewahre ich zerrissenen Rasen, zerschlagene Hecken, die auch im Sterben noch den Frühling spüren und gerne grünen möchten, gewahre zerfetzte Wege, verwüstete Zierbäume, zerschmetterte Palmenkübel, geknickte Eiben und Zedern, gewahre Tempelchen, von denen nur noch die Säulenstümpfe stehen, und gewahre Blumenhäuser und Glasgebäude, die aussehen wie ein mageres Gerippe und keine ganze Fensterscheibe mehr haben; ein Gewirre von mattglänzenden Scherben liegt um ihren Sockel herum. Nun kommt ein zerschossenes Parktor. Wie hübsch muß es einmal gewesen sein mit seinen flankierenden Säulen und seinen Marmorgruppen, die jetzt zertrümmert sind und kaum noch erkennen lassen, was sie darstellten.

Hinunter in einen Laufgraben! Oder ist das ein kleiner Kanal? Wir waten ein paar hundert Meter weit im Wasser. Irgendwo unter der schlammigen Suppe liegt der Balken, über den wir hingaukeln müssen; tappt der Fuß daneben, so geht's hinunter bis übers Knie. Endlich, Gott sei Dank, erreichen wir den Schützengraben, der etwas trockener ist! Von allen Frontgräben, die ich bis jetzt gesehen habe, ist es der am stärksten befestigte, eine unbezwingbare Erdburg. Wo ich heute bin, das ist die Stätte der schweren, blutigen Novemberkämpfe, ist eine Hölle der Ruhelosigkeit seit drei Monaten. Auch heute geht dieses harte Geknatter ununterbrochen hin und her. Man gewöhnt sich dran, fast hört man es nimmer.

In dem mit Mannschaften dicht gefüllten Graben riecht es heftig nach nassen Kleidern. Die Hände der Feldgrauen sind ein bißchen starr von der Nachtkälte, aber alle Gesichter sind frisch und gesund, ruhig und heiter. Und eine wahre Blütenlese deutscher Dialekte ist da vertreten; ich höre Bayern und Schwaben, Franken und Pfälzer, höre Sächsisch und Mannhemerisch und schwatze mit einem Aschebercher (Aschaffenburger) aus der Vaterstadt meiner Mutter. Immer quillt mir vor Ergriffenheit das Wasser in die Augen und immer wieder muß ich mich freuen, muß lachen. Gesunder Humor, wohin ich lausche, wohin ich schaue! Drollige Inschriften und heitere Höhlennamen! Natürlich fehlt es auch nicht an einem glorios gezierten »Hindenburg-Tor«. Und eine »Gaudeamus-Hütte« gibt es.

Dann werde ich stumm. Ich spähe hinaus, sehe fern im Nebel die unbestimmten Formen der Türme von Ypern und sehe da draußen auf dem Feld in Haufen und langen Reihen die toten Franzosen liegen; eine von unseren Maschinengewehren niedergemähte feindliche Sturmkolonne, die das deutsche Drahthindernis gar nicht erreichte. Sie haben schon ein sehr abgenütztes Ansehen, diese dunkelblauen Schläfer, die niemals wieder erwachen werden! Aber weit da draußen? Dieses Braune, ganz Neue in der Farbe? Was ist das? Auch im Glase sieht es noch aus wie ein bräunlicher Holzpfahl. Ich selber erkenne die Wahrheit nicht, man muß sie mir sagen. Was ich sehe, war einmal von unseren zähesten Feinden einer, war ein lebendiger und ist nun ein toter Engländer. Das ist ein Tod, der mir keine Ehrfurcht einflößt. In mir, der ich am 3. August noch ein Englandschwärmer war, regt sich etwas heiß Erbittertes – ich kann es nur fühlen, nicht erklären. Meine Zähne sind hart übereinandergebissen, und ein Zornschauer rieselt mir über den Nacken. Ich wende mich ab und gehe, bis ich den braunen Pfahl nimmer sehen kann. Nun werde ich wieder ruhig. Man sagt mir, daß da drüben seit Wochen keine Franzosen mehr stehen, nur noch Engländer. Immer spähe ich mit dem Glas nach den Erdwällen der feindlichen Stellung hinüber; aber da drüben ist nichts Lebendiges zu sehen, nichts, nichts. Nur die Schüsse knattern drüben genau so wie bei uns, und die Kugeln klatschen in die Lehmsäcke. Ich frage einen Feldgrauen: »Streckt da drüben manchmal einer die Nase heraus?« Und der Mann, ein schlanker, kräftiger Pfälzer, antwortet: »Nee. Ich tät gern emol een niederschlaache. Awer es kommt keener. Nu jo, Geduld muß mer ewe hawe. Bei uns do und daheem!« Ich muß dem Manne, in dem so viel deutsche Ruhe und deutsche Weisheit steckt, die Hand auf die Schulter legen.

Der Graben wendet sich und klettert über einen steilen Hang hinunter. Noch immer ist der Morgen grau, noch immer ziehen die Nebel, noch immer hängen sie an allen Stauden, und immer rieselt der Regen. Unter Schleiern seh' ich ein Bild, das ich im Leben niemals wieder vergessen werde.

Zu meinen Füßen, tief drunten, liegt der breite Kanal mit dem schwarzen, träg fließenden Wasser. Die Eisenbahnbrücke, die ihn überspannte, ist gesprengt, und ihre Trümmer liegen wirr in der Tiefe. Drüben – jenseits eines Faschinensteges, der nur in finsteren Nächten begangen werden kann – steigt der deutsche Schützengraben wieder empor. Von der Höhe, auf der ich stehe, kann ich weit in seine Windungen hineinschauen. Alles ist grau da drüben, und dennoch regt sich alles; aber kaum merklich heben sich unsere Feldgrauen von der Farbe des Bodens ab. Nur auf dem Steilhang drüben kann ich sie genau unterscheiden. Ich sehe die Unterstände und Schlupfe, sehe die Türen und Fensterchen. Das Bild sieht aus wie eine in den Berghang eingenistete Höhlensiedelung grauer Mönche. Und wieder seh' ich die Unseren Schulter an Schulter und unbeweglich bei den Scharten stehen. Nur manchmal rührt sich einer ein bißchen, stampft mit kaltgewordenen Füßen oder schlägt die Hände um die Brust, behaucht die Finger und packt dann mit hastigem Griffe wieder das Gewehr. Achtet man des Geknatters nimmer, an das sich die Ohren zu gewöhnen beginnen wie an das Rauschen eines Baches, so scheint eine tiefe, fast heilige Stille über diesem ergreifenden Bild der deutschen Soldatentreue zu liegen. Und blickt man ein paar hundert Meter weit gegen Westen hin, so sieht man hinter den Erdwällen der Anhöhe den dünnen Rauch der Feuerchen herausquellen, an denen sich die Engländer ihr ausgiebiges Frühstück kochen.

In nördlicher Richtung, gegen Dixmuiden, fängt der Kanonendonner, der seit einer Weile stumm geworden, wieder zu dröhnen und zu rollen an. Auch die Engländer bei Ypern scheinen satt zu sein und wollen die zwecklos brüllende Arbeit wieder aufnehmen. Meine Zeit ist abgelaufen, ich muß den Rückweg antreten.

Die Landstrecke zwischen dem Schützengraben und dem verwüsteten Park von Hollebeke ist ein Panorama des Grauens, ist völlig durchsiebt von Granatenschlägen. Die Erde sieht hier aus wie der hundertäugige Argus – jedes Auge ein runder, schwermütiger Wasserfleck, der keinen Himmel zu spiegeln hat. Das hübsche Pförtnerhaus des Parkes ist verwandelt in eine Trümmergrotte; zentnerschwere Steinplatten liegen weit umhergestreut, so wie ein Windstoß die welken Rosenblätter auseinanderweht. Das große, schöne schmiedeeiserne Tor ist eine sinnlos verknüllte Sache geworden. Überall liegen die Granatenzünder, die Blindgänger und Bombensplitter, die Ausbläser und Schrapnellböden in solchen Massen umher, wie hinter den Alpenvereinshütten die Bierflaschen und Konservenbüchsen.

In allem Grauen auch noch ein Bröselchen Humor: dem Standbild einer griechischen Göttin ist ein eingetriebener Zylinderhut aufgesetzt und hinter das Hutband ist eine Pfauenfeder gesteckt, ein grüner Eibenzweig und ein großer Granatensplitter, der einem vierblättrigen Kleeblatt aus Eisen gleicht.

Wohin man sich wendet, überall dieses Gewirre von niedergebrochenen und zerfetzten Bäumen. Jeder Weg ist bedenklich; Fußangeln liegen umher, und immer wieder bleibt man an den Stacheldrähten versteckter Hindernisse hängen. Dann steht man vor dem einstens herrlichen Schloß, das berühmt war um seiner Schönheit und seines Prunkes willen und jetzt verwandelt ist in ein namenloses, von Schutt und Gebälk überkollertes Ruinengewirre. Jede Mauer, die noch steht, ist dem Einsturz nahe und verwehrt allem Lebendigen den Aufenthalt in diesem Trümmerhaufen. Durch formlose Fensterhöhlen sieht man noch die zermürbten Reste einer verschwundenen, verschütteten Pracht. Und was an Gemäuer noch übrig blieb, hat keinen anderen Zweck mehr, als eine Reihe von liebevoll geschmückten deutschen Soldatengräbern vor dem Einschlag der englischen Granaten zu beschützen.

Alles, was da Ruine geworden, ist englisches Werk. In der Nacht vom 30. auf den 31. Oktober, als die Deutschen das Schloß eroberten und den Offiziersstab der Engländer bei einem üppigen Nachtmahl überraschten, war der herrliche Bau noch heil und unversehrt. Dann wurde er von den englischen Geschützen so zugerichtet, wie er sich heute zeigt – nur zu dem einen Zweck: daß die Deutschen kein Dach hätten, unter dem sie nach dem Regen wieder trocken werden könnten.

Alles Atmende ist verscheucht von dieser Trümmerstätte. Und wo ein zerrissener Weg aus diesem Wirrsal der entzweigebrochenen Parkbäume hinausflüchtet gegen die Straße, wie in Sehnsucht nach der Nähe lebender Menschen, da sieht man die Ruine eines Gebäudes – man kann nicht mehr erraten, was es war, das Haus ist ausgebrannt, zerbröselt und zerfallen, nur die Quadern des Türgemäuers stehen noch, und oberhalb des Türloches sind in den Steinen mit großen deutlichen Lettern die drei flämischen Worte gemeißelt: »In de vrede!« Das bedeutet: »Tretet ein, hier wohnt der Friede!«

Ein Dichter, im Geiste jenem Unsterblichen ähnlich, der das »Glück von Edenhall« besang, wird vielleicht einmal eine Ballade singen: »Der Friede von Hollebeke«. Die Wahrheit der Gegenwart vermöchte seinem Zukunftsliede einen phantastischen Schlußgedanken zu geben – man erzählte mir: Das schöne Schloß wäre der von übermütiger Lebenslust erfüllte Besitz einer von ihrem Gatten getrennten Frau gewesen, und ihr einziger Sohn, jetzt Fliegeroffizier der französischen Armee, komme von Zeit zu Zeit auf seinem Doppeldecker herangeflogen und umflattere stundenlang in schwindelnder Höhe, klein wie ein Sperber, die im Winde staubende Trümmerstätte seines Mutterhauses.

5

12. März 1915.

Wir fahren nach Süden.

Die gleiche Morgenstimmung wie bei der Fahrt nach Hollebeke. Alles wieder so grau, nur ohne Sturm, ohne Regen. Kälte ist eingefallen. In der Morgenfrühe werden die Felder weiß vom Reif, und in den Straßengräben blinken die Eisscheiben.

In allen Dörfern und Städtchen, durch die wir kommen, seh' ich beim Erwachen des Morgens die gleichen Schuttbilder. Jede Ortschaft ist belebt von unseren Feldgrauen, die zu den Stellungen marschieren oder flink zu einer Arbeit wandern. Ich sehe viele Züge von frisch Angekommenen, tadellos ausgerüstet, mit neuem Lederzeug. Frauen und Kinder stehen bei den Haustüren, die Gesichter müde, die Augen stumpf.

Bei ihrem Anblick schwirrt mir immer ein wunderliches Liedchen im Kopf herum, das ich dieser Tage von zwei Soldaten singen hörte. Ähnlich wie beim Lied vom Guten Kameraden, das einen neuen Refrain bekam, wurde auch hier ein altes Volkslied mit einer neuen Zutat versehen, mit einer französischen – mit Worten, die man hier in Nordfrankreich überall von den Einheimischen hören kann.

Das Liedchen, wie es die zwei Soldaten sangen, war wohl scherzhaft gemeint, und dennoch hat es einen traurigen Sinn:

 
Ȁnnchen von Tharau ist's,
Die mir gefällt,
Aber sie nimmt mich nicht,
Hab' ich kein Geld …
 Mon père, ma mère,
 O weh, la guerre,
 C'est triste pour nous,
 C'est triste pour vous,
 C'est triste pour tous,
 Jawoll, mein Sohn,
 Det kommt davon!«
 

Je häufiger dieses aus Sinn und Unsinn, aus Spott und Bitterkeit gewobene Liedchen in mir nachklingt, um so ernster empfind' ich es. Unter allem gesunden Humor, der mir im Feld entgegenflattert, gibt es auch eine Spezies, die ich nicht gerne höre: das Spiel mit dem Grausigen und Grausamen. Ich erinnere mich an das Wort eines Radfahrers, der einen Befehl zur Front zu bringen hatte und bei einer Wegscheide seinem nach der anderen Seite davonsausenden Kameraden lachend nachrief:

»Also, behüt' dich Gott, Huber, auf Wiedersehen im Massengrab!«

Mit diesem Wort kann die spartanische Rede eines Telephonisten versöhnen, die ich am gleichen Tage vernahm. Die Telephonstelle war in einem Bauernhäuschen untergebracht, das schon halb in Scherben lag; als Schutz gegen Wind und Zugluft waren die zerschmetterten Fensterscheiben mit Zeitungspapier verklebt; und da sagte der Telephonist bei Beginn einer neuen schweren Beschießung, die das kleine Haus umbrüllte:

»Mir scheint, die geben nicht eher Ruh', bis nicht die Fenster wieder kaputt sind!« –

Auch der Weg, der uns im Grau der Frühe durch verwüstetes Gelände führt, zeigt mir eine Groteske der Zeit. Ein hübsches Schlößchen inmitten eines großen Obstgartens ist eine wertlose Ruine geworden; alles, was da Holz war, ist verbrannt; nur neben dem Steinportal hat sich ein kleines hölzernes Täfelchen unversehrt erhalten, mit der Inschrift »Château à vendre!« Wann wird sich für diesen rußgeschwärzten Steinhaufen der Käufer finden, der da vor Beginn des Krieges gesucht wurde?

Wir halten bei hell gewordenem Morgen im Schutz eines hohen Bahndammes, über den unter etwas lückenhaftem Geknatter die Hochgänger der feindlichen Stellung pfeifend herüberfliegen. Ich sehe zur Ablösung einen Zug von den Unseren ausmarschieren, die mich fragen machen: »Sind denn das Franzosen?« Sie tragen weite blaue Pluderhosen, die bis unter die Arme heraufreichen. Sehr komisch sieht das aus und ist doch eine ungemein praktische Sache. Das sind Überhosen aus blaugefärbtem Zwilch, wie die Maurer sie bei der Arbeit zu tragen pflegen. So behütet man jetzt unsere feldgrauen Uniformen gegen die Lehmbekleckerung in den Schützengräben. Das ist eine Ersparnis an Quartierarbeit und eine Mehrung der nötigen Ruhe in den Ablösungszeiten; jetzt brauchen die Soldaten nicht immer an ihren Uniformen zu bürsten und zu rippeln, die gelb gewordenen Blauhosen werden jede Woche einmal gewaschen. Wie gut man auch geschult und vorbereitet war, im Kriege lernt man noch immer etwas Nützliches hinzu.

Der Schützengraben, durch den wir hinsteigen, gehört zu den festesten, die ich gesehen habe. Es gibt auch andere, solche, in denen man eine Beklommenheit um unsere Braven trotz ihrer Ruhe und ihres Humors nie völlig los wird; meist sind das Gräben, die man wegen des drohenden, unableitbaren Grundwassers nur bis zu halber Manneshöhe in den Boden einschlagen konnte; da müssen die Wälle um so höher aufgeschichtet werden; diese lockeren Erdschichten, auch dann noch, wenn sie durch Sandsäcke verstärkt werden, sind ein höchst zweifelhafter Schutz gegen schweres Artilleriefeuer.

Der Humor unserer Feldgrauen bezeichnet solche Gräben nicht umsonst als »Mausfallen« und »Granatenschachteln«; findet der Feind da Zeit, sich einzuschießen, so gibt es in solchen Gräben bei aller Tapferkeit kein Aushalten mehr, man muß heraus, will man nicht zwecklos niedergemäht werden. –

Wenn ihr daheim von aufgegebenen Gräben der Deutschen hört, dann handelt es sich immer um solche »Granatenschachteln« und »Mausfallen«, die man einer festeren Stellung zuliebe aufgeben mußte, und in denen sich auch der Feind nach seiner billigen »Eroberung« nicht zu halten vermag. Aber der prachtvolle Graben, durch den ich da heute hinsteige, der ist sicher, ist mannstief in den Boden gesägt und durch festen Kalkstein geschnitten, ist eine unzerstörbare Burg der Unseren, ist uneinnehmbar.

Welch ein Wahnwitz der Feinde es ist, eine solche Stellung anzugreifen, beweisen die Kolonnen der toten Franzosen, die außerhalb der Drahthindernisse in solchen Massen liegen, wie ich es noch nirgends gesehen habe.

Seit dem 17. Dezember liegen sie da, in dicken Klumpen, in langen, nicht abzuzählenden Reihen; ein verwesender Schimmel liegt dazwischen; und je weiter sich diese Schnüre der Stummgewordenen in die Ferne ziehen, um so kleiner werden sie und sehen schließlich aus wie dunkelblaue Steine, wie blaßblaue Frühlingsblümchen.

Und während ich hinblicke über diese Blumenrabatten des Krieges, taucht fern aus dem Nebel der Turm der Kathedrale von Arras heraus und das schwarzgraue, klobige Viereck des Seminargebäudes, das noch mächtiger als die Kirche wirkt. –

(Hier wurde ich heute mittag bei der Arbeit unterbrochen. Ein Auto holte mich ab. Nun dämmert es, da ich heimkehre. Ehe der Tag versank, bekam er eine rotglühende Sonne. Was ich in den vier vergangenen Stunden erlebte, ist in mir wie ein Sturm, der meine Gedanken vor sich herjagt. Ich werde ein paar Tage brauchen, bis dieser Bilderwirbel in mir sich beruhigt und ordnet. Heute kann ich nimmer arbeiten. Nur dieses Eine muß ich noch niederschreiben: Wie stolz bin ich auf meine Heimat, und wie viel Freude ist in mir, weil ich sagen darf: ich bin ein Deutscher!)

13. März 1915.

Morgensonne umglänzt das Fenster meiner Stube zu Lille.

Ich will versuchen, ruhig ein Wort neben das andere zu setzen, will vorerst zu Ende erzählen, was ich gestern zu schildern begann. –

– Die Türme von Arras standen im Nebel und umschleierten sich wieder, als die zwei führenden Offiziere aus den weißen Kalkwänden des Schützengrabens mit mir herausstiegen und mich hinunterführten in das tote Dorf.

Eine lange, ausgestorbene Gasse, Ruine neben Ruine. Kein Mensch, kein Rind, kein Huhn und keine Taube. Nur kleine Vögel sind noch da, spüren den nahen Frühling und zwitschern – ich seh' einen Spatzen, der gemütlich im Mauerloch einer Schrapnellkugel sitzt, munter herausguckt und immer piepst. Das Loch ist genau so groß, als wäre es für den Spatzen nach Maß gemacht.

Neben dieser Sperlingsvilla steht die Kirche mit halbem Turm und ohne Glocke, mit zerschmetterten Wänden und ohne Dach – ein Anblick, der mir das Herz umkrampft, obwohl ich nicht der frömmste der Christen bin.

Ich sehe durch offene Türen in zerschlagene Ställe, sehe durch Granatenlöcher in verwüstete Stuben, aus deren Schutt die zerfetzten Reste gemütlicher Lebensdinge heraustrauern – und plötzlich zwingt mich eine kleine Sache zu wortlosem Aufenthalt.

In einem von Mauerstaub überstreuten Vorgarten steht, durch einen Granatensplitter übel verwundet, ein kleines Kinderpferdchen mit Rädern unter den Hufen.

Mich ergreift das, obwohl ich finde, daß dieses französische Spielzeug sehr geschmacklos ist. Aber auch symbolisch ist es. Statt der Ohren hat das Pferdchen zwei Kurbeln – wenn der kleine verschwundene Reiter an diesen Kurbeln drehte, ging das Rößlein vorwärts. –

Hat nicht der Kriegsgaul des französischen Volkes einige Ähnlichkeit mit diesem Spielzeug? Auch Frankreich hat zwei Kurbeln in den Ohren, und England dreht daran. Wie weit wird Frankreich kommen dabei? So weit wie dieses Spielzeug? Ein Granatensplitter hat ihm ein Loch in den Bauch gerissen, aus dem der verrostete Mechanismus herausguckt. –

– Das tote Dorf ist nicht völlig tot. Ich höre Stimmen und sehe eine Gruppe von Feldgrauen in einem Schloßpark stehen, der aussieht wie ein kränklicher Bruder des Parkes von Hollebeke. Das hübsche Barockschlößchen ist löcherig wie Schweizerkäse, aber noch immer bewohnbar. Ein Dutzend Feldgraue hausen drin, in großen Räumen mit schönen Möbeln, mit seidenen Vorhängen und guten Bildern, mit Stutzuhren und Kandelabern auf dem Kamin, in dem ein wärmendes Feuer brennt. Außer diesem Feuerglanz ist keine Farbe mehr zu sehen, alles ist überbröselt von Mörtelschutt, überkrustet von Lehm. So grau wie Straßenstaub ist auch der Parkettboden; man geht da ganz wunderlich weich; ich frage: »Ist das eine Hanfmatte?« Ein Feldgrauer antwortet: »Nein! das war ein Smyrnateppich!« –

Ich nicke nur. Anders kann es da nicht aussehen! Die Leute, die todmüde aus dem Schützengraben kommen, können nicht erst die Kleider reinigen und die Stiefel putzen; sie kommen und essen und werfen sich hin und schlafen ein. Und zur anderen Hälfte macht es der Mauerstaub, den die französischen Granaten erzeugen.

Ich trete hinaus auf die Veranda, die noch halb erhalten ist. Aus einem Kellertürchen seh' ich einen alten, weißbärtigen Mann langsam heraufsteigen. Er geht zu einem verwüsteten Blumenbeet und leert einen Nachtkübel aus. Das ist nicht appetitlich, aber ich muß es erzählen – denn der alte Mann, der dieses üble Morgenwerk verrichtet, ist der Besitzer des Schlosses.

Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
28 сентября 2017
Объем:
100 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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