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Читать книгу: «Die stählerne Mauer», страница 6

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20. März 1915.

Es hat in der Nacht geschneit. Gegen vier Uhr morgens ist noch alles weiß, aber ein lauer Wind weht über das flandrische Land, schwarze Flecken wachsen schon aus dem weißen Schnee heraus, und zwischen den dünner werdenden Wolken glänzen einige Sterne mit lebhaftem Zitterschein.

Das Auto muß ohne Lichter fahren, ganz langsam, um wenig Lärm zu machen und um den vielen Granatentrichtern auf der Straße ausweichen zu können. Vorne auf dem Kühlkasten des Wagens sitzt ein Marinesoldat, der mit einem elektrischen Taschenlaternchen umherleuchtet und alle paar Minuten halblaut das gleiche Wort ruft: »Vorsehen!« Dann schwankt der Wagen wie ein Betrunkener, taucht hinunter in plätscherndes Wasser, richtet sich wieder auf, und in tiefem Dunkel geht die achtsame Reise weiter auf guter Straße. Trotz der Finsternis ist der Weg nicht zu verfehlen; links und rechts stehen die vom Meerwind schief gebogenen Alleebäume, und außerhalb dieser schwarzen Ruten leuchten die von der Überschwemmung breitgewordenen Wassergräben. Manchmal ist auf eine Länge von zwanzig oder dreißig Schritt ein entsetzlicher Geruch zu spüren; er kommt von den aus dem Wasser ragenden Kadaverteilen, die als unerquickliche Inselchen den glatten Grabenspiegel unterbrechen.

Schwerfällig wackelt das Auto durch die nachtstille Ruine eines Dorfes. Die Soldaten, die hier im Quartier liegen, hausen in wasserdicht ausgemauerten Erdlöchern, die sie durch schwere Vorbauten aus Quadern und durch Wälle aus Sandsäcken geschützt haben. Ich öffne an solch einem Unterschlupf die Türe, leuchte mit dem elektrischen Laternchen hinunter und sehe kauernde Männer, in den Mänteln zu Gruppen aneinandergelehnt, die an altdeutsche Darstellungen der schlafenden Jünger auf dem Ölberg erinnern. Neben dem Unterstande ragen mit sinnlosen Konturen die spärlichen Überreste einer zerstörten Kirche in den grau werdenden Himmel. Ein Passionsbild des Krieges.

Noch eine kurze Fahrt, dann hält das Auto und fährt leer zurück, um vor Tagesanbruch eine Deckung zu erreichen. Drei junge Offiziere, die uns erwartet haben, treten zu uns. Einer macht dem General, dessen Gast ich bin, eine Meldung mit halblauter Stimme. Diese Dämpfung des Wortes ist nicht Vorsicht, nur ein Zwang des ernsten Platzes und der dunklen Stunde; auf zwei Kilometer ist hier kein Feind in der Nähe. Alles ist eine grauschwarze, von weißen Spiegelflächen durchsetzte Öde. Zur Rechten und Linken der Straße ziehen sich gebuckelte, verwinkelte und völlig leblos erscheinende Erdgebilde in das Dunkel hinaus. Das ist die deutsche Stellung am Damm des Yserkanals. Noch ein paar Schritte, und ich sehe zwischen zerfetzten Ufern den breiten Strom, dessen schwarzes, still rinnendes Wasser mit leisem Glucksen die Trümmer einer gesprengten Brücke und die Balken des Notsteges umspült. Drüben die Mauern und Sparren eines halbzerstörten Bauernhauses, eine Brandruine, ein schwermütiges Moorland mit Gewässer und Büschen, und weit draußen ein flackerndes Feuer – für die unbewaffneten Augen sieht es aus wie ein schwelendes Gluthäuflein, im Glase wird es zu einer mächtig lodernden Flamme. Was brennt da? Ein Haus, eine Scheune, nur eine Strohmiete? Man kann's nicht erkennen. Ein paar Male bewegen sich kleine schwarze Figürchen rasch durch den Feuerschein – Vorposten oder Patrouillen. Und manchmal kracht ein Gewehrschuß, bald nah, bald ferne.

Wir schreiten auf sumpfiger Straße durch die erblassende Nacht, in der die flimmernden Sterne sich mehren. Die Lüfte sind so mild, als käme ein schöner Tag. – Oder ist nur mir so schwül! Von der Erregung, die in mir brennt? – Der Schnee, der um Mitternacht fiel, ist fast völlig verschwunden; nur an einzelnen hügeligen Stellen liegt er noch, und da sieht man häufig in dem reinen Weiß die zwei schwarzen Striche kleiner Kreuze. Der Boden, über den wir schreiten, hat viel Blut getrunken, war durch Monate die Stätte der zähesten Kämpfe und ist die Gegend jenes berüchtigten »Froschteiches«, in dessen Überschwemmungssümpfen so viele der Unseren und noch mehr der Feinde versanken. Eine schmerzende Erinnerung wühlt in mir. Totenstille umgibt mich, und dennoch ist mir, als vernähme ich den in Begeisterung brausenden Gesang vieler Tausender von jungen Stimmen: »Deutschland, Deutschland über alles!« Ich bring' es nicht übers Herz, zu fragen: »Wo ist das geschehen?« Während ich schweige, suchen meine Augen im Dunkel. Überall seh ich die gleiche Öde, die gleiche schwermutsvolle Trauer, in deren grauem Riesengesicht die zahllosen Wasserflächen wie große, von Tränen umflossene Augen schimmern. Kann das Wort eines Gegners zum Troste werden? Damals, als dieses Schmerzvolle und dennoch Heilig-Schöne geschah, sagte ein feindlicher Führer: »Man muß das bewundern! Wo tausend Deutsche sinken, stehen zehntausend wieder auf!« Unsere Gegner haben viel über uns gelogen – dieser eine sprach eine deutsche Wahrheit aus! – Was da hinzieht über die stillen Moorflächen? Sind das die wehenden Schwaden des Frühnebels? Für meine träumenden Augen sieht es aus wie ein rasch und fröhlich schreitender Millionenzug von grau gekleideten Männern und Jünglingen. Und in der Stille, die mich umgibt, hört meine Seele ein jubelndes Siegeslied: »Deutschland, Deutschland über alles!«

An meiner Seite sagt eine halblaute, ruhige Soldatenstimme: »Der Tag kommt, wir müssen Deckung nehmen!«

Auf einige hundert Meter sind wir bei der feindlichen Stellung. Zu sehen ist sie nicht. Die Ruinen verbrannter Fermen, Baumreihen, Hecken und Büsche verschleiern den von Dixmuiden nach Nieuport führenden Eisenbahndamm, hinter dem die Belgier und Engländer liegen. Bei Namscapelle fährt aus der grauen Morgendämmerung ein langer Feuerstrahl heraus, und nach geraumer Zeit hören wir fast zu gleicher Zeit den Abschuß und den dröhnenden Einschlag der Granate. Dabei zittert der Boden ein bißchen. »Das Morgengebet!« Es hat begonnen und nimmt kein Ende mehr.

Die Sterne sind verschwunden, der Himmel ist klar und hell geworden, der Morgen frisch. In der Kälte bedecken sich die Straßenränder mit Reif, die seichten Wasserflächen mit Eiskrusten. Am östlichen Horizont entzündet sich ein langer orangefarbener Glutstreif und verwandelt alle Dinge, die vor ihm stehen, in zierliche, tintenschwarze Silhouetten. Auch das Wasser des Yserkanals, den wir bei erwachendem Tag erreichen, ist noch immer schwarz. Ein Soldat paddelt in einer kleinen Zille und pfeift ein Liedchen, während er die Fischreusen hebt, die er am Abend auslegte. Ich überschreite den Notsteg, und plötzlich wird das schwarze Wasser des Kanals, das die Glut des Morgens spiegelt, zu einem leuchtenden Blutstrom. Ein wundervolles Bild! Ich möchte stehen bleiben und schauen, aber wir müssen weiter. Zur Linken und Rechten seh ich hinein in die hinter dem Damme liegenden Schützengräben – die verwinkelten Erdgebilde, die mir in der Nacht völlig leblos erschienen, sind Schulter an Schulter besetzt, und bei den Maschinengewehren und Schiffskanonen üben die Bedienungsmannschaften. Ich höre Befehlsworte, höre heitere Stimmen, höre munteres Lachen, und in der Kühle des Morgens durchrieselt mich ein warmes, wohliges Sicherheitsgefühl.

Geduckte Gestalten, mit Blechkesseln an den Armen, springen flink über offenes Feld zur Ruine einer Ferme hinüber, hinter deren Mauerzacken eine Feldküche dampft. Der Übelduft verwesender Viehkadaver mischt sich mit dem Wohlgeruch eines schmackhaften Frühstücks. So wirbelt der Krieg alle Gegensätze zwischen namenlosem Grauen und liebenswürdigem Wohlbehagen durcheinander.

Die Nebel sind verschwunden, eine strahlende Sonne steigt. Ein Frühlingsmorgen voll Glanz und Schönheit! Kleine Vögel singen, und einmal ist mir, als schlüge eine Nachtigall. Der ganze Himmel ist blau, und dennoch donnert es immer wie bei einem Hochgewitter in den Hundstagen. Große Schwärme von Kiebitzen kommen angeflogen, kreisen und gaukeln in den Lüften und spazieren vertraulich auf den grünen Inseln umher, die aus den von Sonne glitzernden Überschwemmungsflächen herauslugen. Es sind der scheckigen Vögel so viele, daß auch ein Mathematikprofessor sie nicht zu zählen vermöchte. »Jetzt legen sie bald. Da werden die Unseren im Ysergraben an jedem Morgen frühstücken wie Bismarck am 1. April.«

Unter wachsender Sonne eine zweistündige Fahrt durch wundervolles Frühlingsgelände. So schön ist dieser Morgen, daß sein Glanz auch alle Trümmerstätten und Ruinen in schimmernde Kostbarkeiten verwandelt.

Und dieses von zartem Duft Umwobene, dieses zauberhaft Leuchtende, dem wir immer näher kommen? Dieses Gewirre von strahlenden Firsten, von goldenen Mauern, von gleißenden Turmzinnen? Ist das ein Märchenland, eine Sonnenstadt des Paradieses, eine ewige Heimat des Glückes?

Nun verschwindet das Herrliche hinter zerrissenen Hecken und sonderbar ausgefransten Hügelkämmen. Ist das Gewitter aus den Lüften heruntergefallen, hat es den Himmel blau gemacht und tobt es sich unsichtbar auf der Erde aus? Bei dem ruhelosen Knallen und Dröhnen muß ich wieder einmal an das »lustige Scheibenschießen mit Böllerschüssen« denken. Immer die Köpfe duckend, marschieren wir sehr hastig einen Kilometer weit durch den Hohlweg einer von Granatentrichtern zerrissenen Bahnstrecke. Guckt man durch einen Erdschnitt oder durch die Lücke einer Hecke seitwärts hinaus, so sieht man Viehkadaver liegen, die von Kiebitzen umflattert sind. – Als die schweren Oktoberkämpfe hier begannen, weideten auf diesen Wiesen große Rinder- und Pferdeherden. Unter dem Feuer der Geschütze und Maschinengewehre fraßen sie ruhig weiter. Alle fielen. Was der Sieger verzehren konnte, nahm er. Der Rest blieb liegen – zehnmal mehr, als genommen wurde. Wie wird es hier riechen, wenn heiße Tage kommen?

Auf der Bahnstrecke sind viele Eisenbahnschienen losgerissen und zu seltsamen Ornamenten gebogen, untermischt mit zusammengeschnurrten Telephondrähten und zerschmetterten Telegraphenstangen. Der Boden des Bahndammes glitzert und funkelt, wie besät mit kleinen und großen Smaragden – mit den Scherben und Splittern der grünen Glasisolatoren. Wohin man zur Linken und Rechten des Dammes sieht, überall liegen Haufen von Tornistern und Waffen, von belgischen Uniformstücken und französischen Matrosenmützen; dazu überall das Bild einer grauenvollen Maulwurfsarbeit, ein unübersehbarer Irrgarten von Sumpflöchern, Wasseraugen, Granatentrichtern, verlassenen Schützengräben und zickzackförmigen, noch offenen oder schon wieder zugeschütteten Sappengängen. Jedem Schützengraben ist es deutlich anzusehen, daß er von den Feinden ausgehoben und gegen Osten verteidigt, dann von den Deutschen erobert, umgedreht und gegen Westen gerichtet wurde. Alle die zugeschütteten Sappengänge sind Massengräber, in denen zu Hunderten die gefallenen Belgier und Franzosen liegen. Wo die Unseren bestattet wurden, das zeigen die kleinen Kreuze an – viele sind es, viele, viele – ein Deutscher, der diese Kreuze sieht, muß den Kopf entblößen und die Hände ineinanderklammern und muß beten, mag er ein Glaubensloser oder ein Gläubiger sein. Alle Bilder verschwimmen mir und meine Augen sind naß, während einer der führenden Offiziere mir von den schweren Kämpfen zwischen dem 21. und 25. Oktober erzählt. – Haben die deutschen Wälder so viel Eichenlaub, um diese Gräber so zu schmücken, wie sie es verdienen? – Während ich hinschaue über diese, vom Frühling schon grün umhauchten Todesstätten, sind immer und immer jene beiden Dankworte von Herlies in mir: »Für uns! Für uns!« Und mit dem Schauer vor den Bildern, die ich da aufsteigen sehe, mischt sich die dankbare und ehrfürchtige Bewunderung der deutschen Tapferkeit, die alle Hindernisse siegend überrannte und jeden feindlichen Widerstand zu Boden warf.

– Wir müssen weiter. Schon sind ein paar unsichtbare »Rollwägelchen« über unsere Köpfe hinübergebraust – zwei von jenen Granaten, die in der Luft so sonderbar wackelnde Geräusche verursachen, als überschlügen sie sich immer. Nun beginnen dort, von wo wir kamen, unsere Haubitzen zu antworten. Welch ein festes, ruhiges Brausen ist das in der Luft! Und von den vielen deutschen Geschossen, die unsichtbar hinüberreisen zum feindlichen Ufer des Yserkanals, versagt nicht ein einziges. Am Klang des Sausens kann man es immer anrechnen, wann das Dröhnen des Aufschlags kommen wird – »Jetzt!« – und da drüben donnert es schon!

Immer mahnt eine Offiziersstimme: »Schneller, Herr Doktor, schneller, schneller!« Aber wie soll man schauen, wenn man so rennen muß? Und da ist etwas Furchtbares, an dem man so schnell nicht vorüberkommt. Das Geleise ist gesperrt durch einen gewaltigen Kehrichthaufen zermalmter Eisenbahnwagen; die Lokomotive hat einen Purzelbaum geschlagen und ist auf den eigenen Zug gesprungen; alle Wagen sind in Siebe verwandelt, durchlöchert von Schrapnellkugeln, zerrissen von Granaten; und einer ist durch das in der Nässe ausgewachsene Getreide umgezaubert in einen grünen Garten. Auch hier wieder ein Gewirre von umhergestreuten Tornistern, Feldflaschen und Käppis, von belgischen und französischen Uniformstücken. Viele tragen die Nummer 151. Unter den feindlichen Verluststücken liegt ein einziger deutscher Helm. »Der ist noch gut,« sagt einer der Offiziere und hebt ihn vom Boden auf, »den muß man an die Sammelstelle abliefern.«

Der zerrissene Bau einer Güterhalle trägt den Namen der Station in der alten, vlamischen Schreibart: »Diksmuiden«. Auf der Ruine des Bahnhofsgebäudes heißt es französisch: »Dixmude«. Auch eine von den Errungenschaften, die das vlamische Belgien dem Franzosentum zu verdanken hat. Und symbolisch ist sie! Von dem Eisenbahntempel, in welchem Frankreich die Ellbogen breit machte, ist nimmer viel übrig geblieben: zerrissene Mauern, zerfetzte Möbel, zersplitterte Bilder und Spiegel. Jedes Bureau ist ein Wirrsal von kleingeklopftem Gerät und zahllosen Aktenfetzen, von umhergestreuten Fahrkarten und Abonnementsscheinen.

Nun trete ich auf den Bahnhofsplatz hinaus, sehe die Straße, die zum Rathaus führt, und stehe wie gelähmt, bis ins Innerste erschrocken und erschüttert.

Was ich da gewahre, jetzt, in der Nähe? Ist das die leuchtende Heimat des Glücks, die goldene Sonnenstadt des Paradieses und jenes funkelnde Märchenland, das ich vor einer Stunde aus dem Duft der Ferne hervortauchen und schimmern und winken sah?

Ach, Sonne, Sonne, du zärtliche Lügnerin! Du ewige Trösterin des vom Schreck verschüchterten Lebens!

Dieses furchtbare Vernichtungsgesicht, von dem jetzt die Nähe den mildernden Schleier der Ferne gerissen, ist nicht zu schildern. Hier versagen alle Behelfe der Sprache. Schuttwüsten und Trümmerhaufen, Schreck und Grauen, Zerstörung und Untergang – was bedeuten diese kleinen Worte? Nichts, nichts, nichts gegen die namenlose Wahrheit, die ich da sehe!

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20. März 1915.

Erinnert euch an alles, was ich seit drei Monaten an Zerstörungswerken des Krieges geschildert habe, von Audun le Roman bis zum »Friedenspark« von Hollebeke und bis zum toten Dorfe bei Arras – erinnert euch an diese hundert Bilder des Grauens, und dann sagt: »Das alles war nichts, war nur ein ungeschicktes Kinderspiel, nur eine Lehrlingsarbeit des Krieges!« Was ich jetzt sehe, ist sein Meisterwerk im Zerbrechen und Vernichten. Erst diese kleingehämmerte, tote, versunkene Stadt Dixmuiden zeigt mir, was Untergang unter den Stürmen des Krieges bedeutet.

Das schildern? Es ist unmöglich. Ich will keinen Versuch machen, will nur zum Geleit für die Schritte, die mich an diesem endlosen Gemenge von Trümmern und Schutt vorüberführen, Wort für Wort vor mich hinsagen.

In der Ruinengasse, die zum Rathaus leitet, können Menschen über dem Erdboden nicht mehr wohnen. Der letzte Einwohner von Dixmuiden ist längst verschwunden. Unsere Reserven, die hier ausharren müssen, hausen in den gewölbten Kellern. Um in dieser Finsternis ein wenig Licht zu haben, holten die Soldaten aus den zerstörten Häusern die noch unzerbrochenen Spiegel, alle blanken Bleche und polierten Holzflächen heraus und befestigten sie in schräger Stellung vor den Kellerlöchern, als Reflektoren der Himmelshelle. Ein Soldat sagt zu mir: »En bißche Licht, un denn is man ooch widder zufrieden!«

Die Trümmergasse ist leer; nur manchmal sieht man einen Feldgrauen aus einem Kellerloch herausschlüpfen und im anderen verschwinden. Ich frage einen: »Wieviel von den Unseren sind denn noch hier?« Der Soldat – ich glaube, ein Hallenser – sagt lachend: »Genugg, daß mer's aufhalten, die annern!« Ein deutsches Wort! Und nicht nur von Dixmuiden gilt es. Nicht nur vom heißen Boden am Yserkanal. Es gilt von Belfort und vom Wasgenwald bis nach Ostende und Zeebrügge.

Nun kommt, was im Oktober noch ein feines, prunkvolles gotisches Rathaus war. Was es jetzt ist, weiß ich nicht zu sagen. So sinnlos sieht es aus! In dem vom Sparrenwerk des Daches noch übrig gebliebenen Gerippe steckt – wie ein Kinderpfeil in der Binsenscheibe – ein schlankes, prächtiges Türmchen, mit dem Fuß nach oben, mit der Spitze nach unten. Und nicht weit davon ist ein Rätsel der Mechanik zu sehen. Eine große Granate, viele Zentner schwer, die einen Dachfirst zerschlug, ohne zu explodieren, ist über den Rest des Daches heruntergekollert und quer auf einer faustdicken Latte im Gleichgewicht liegen geblieben. Macht eine Detonation der Beschießung das zertrümmerte Gemäuer zittern, so schaukelt die Granate eine Weile und schwebt dann wieder ruhig in der Luft. Das ist so unwahrscheinlich, daß man lange hinsehen muß, bevor man es glauben kann.

Über den Marktplatz geht ein verlassener Schützengraben, mit einem Wall von Pflastersteinen; und eine Schuttstelle, die früher ein hübsches Haus gewesen, ist verwandelt in den gewaltigen Trichter einer deutschen Brummergranate.

Am verwichenen Abend hatte ich mir in Brügge eine Mappe mit Ansichten von Dixmuiden gekauft, wie es früher war. Und nun sitze ich an der linken Ecke des Marktplatzes auf einem Steinhaufen und vergleiche die Bilder von einst mit den Bildern von jetzt. Sie gleichen einander wie Haus und Grab, wie Leben und Tod. Keine Spur von Ähnlichkeit ist mehr vorhanden. Das Heftchen zeigt mir eine wundervolle gotische Kirche. Wo ist sie? Das aberwitzige Ruinengewirre, das hinter den Trümmern des Rathauses von ehemals hervorragt? Ist das die schöne Kirche gewesen? Eine schmerzende Trauer umklammert mein Herz. Und während ich so sitze, stumm, und immer dieses grauenvolle Bild des Untergangs betrachte, ist hoch aus den Lüften herunter das knatternde Geräusch einer Flugmaschine zu hören. Sonst, wenn ich diesen Ton vernahm, suchten meine Augen immer gleich in der Höhe. Was kümmert mich jetzt der Flieger? Immer muß ich zu diesem grauen, unsagbaren Ding hinüberschauen, das eine Kirche und ein Rathaus und die schmucke Front eines städtischen Platzes war. Da sagt einer von den vier Offizieren, die bei mir sind: »Wir müssen weg da! Der Flieger hat eine Schwenkung gemacht, er hat uns gesehen.« Wir wandern davon, schräg über den Platz hinüber, und kaum sind wir in der anderen Ecke, da saust es über unseren Köpfen, und hinter uns ist ein brüllender Teufel los. Genau bei dem Steinhaufen, wo wir vor drei Minuten noch gestanden, fährt die schwarze Rauchwolke auseinander.

In der Trümmerallee, durch die wir kommen, ist ein Lazarett in einem ehemaligen Weinkeller eingerichtet. Ein paar Schritte weiter, und ich sehe einen grotesken Gegensatz. Im Hause eines Schlächters, über dessen Ladentür als Handwerkszeichen ein großer Ochsenschädel prangt, hat eine Granate das obere Stockwerk auseinandergerissen und die ganze Einrichtung auf die Straße geschleudert; eine zweispannenlange Mädchenpuppe ist mit dem Spitzenhemdchen am rechten Hornzinken des Ochsenschädels hängen geblieben. Kann auch sein, daß die Soldaten das Püpplein so aufhängten. Dann ist es ein Beweis für den Humor, mit dem unsere Feldgrauen in solcher Umgebung ausharren.

Wieder dröhnt eine Granate. Wir springen durch ein von Schutt übergossenes Gärtchen und kommen zu einem Damm aus Sandsäcken. Der führende Offizier mahnt immer wieder und wieder: »Ducken! Ducken! Ducken!«

Nun sind wir im Schützengraben, beim Wall der Yser, deren Lauf die Stadt von der Vorstadt trennt. Die Stellung ist nicht in den Boden eingeschnitten, sondern geht über die Erdfläche hin, gegen die feindliche Seite durch Gemäuer und feste Brustwehren aus Quadern und Sandsäcken geschützt. So zieht die Stellung durch Häuser und Gärten, durch einen Turm, durch ein Brückentor, durch eine Kapelle. Das ist wieder, wie es im Mittelalter war; genau so muß es ausgesehen haben, wenn im sechzehnten Jahrhundert eine Stadt oder Burg verteidigt wurde. Nur Kostüm und Waffen sind ein bißchen anders.

Ich gucke durch die Scharte eines Stahlschildes und sehe die den blauen Himmel spiegelnde Flut der Yser, sehe die feindliche Stellung, die nur dreißig Meter von uns entfernt ist, sehe die gleichen Steinwehren und Sackmauern wie herüben. Aus den Schlitzen der stählernen Schilde ragen die Gewehrläufe heraus; und schießt da drüben einer, so sieht man einen matten Feuerblitz und ein bißchen Rauch. Über die feindliche Brustwehr starren die Hausruinen empor, und zwischen dem Schuttwerk trauern die Reste einer Wirtschaft mit dem Namen: »Duc de Lorraine«. Und immer saust es und dröhnt, immer knallt es. Um besseren Ausblick zu haben, benütze ich den Winkelspiegel, eine längliche Holzröhre, deren oberes Spiegelauge über den Saum des Waldes hinausragt; aber der Apparat pariert nicht recht; während der Benutzung bekam er drei Streifschüsse; der Holzkasten ist zersplittert, der Spiegel blieb unversehrt.

Nun ein Kontrastbild, wie ich es vom Argonnenwald bis Ostende noch nicht gesehen habe. Dicht beim Schützengraben liegt ein hübscher kleiner Garten. Der ist verwandelt in einen freundlichen, mit vielem Grün gezierten Friedhof der deutschen Helden. An die zwanzig, die am Yserdamm die jungen Augen im Kampfe für die Heimat schlossen, liegen da bestattet. Die geschmückten Hügel, die frischen Buchsrabatten und die kleinen Kreuze schimmern schön und friedlich in der Sonne des reinen Frühlingstages. Und zwischen diesem leuchtenden Friedhof und dem Kapellchen, durch das der Schützengraben geht – und unter dem Sausen und Dröhnen der Granaten und bei dem ununterbrochenen Gewehrgeknatter, das ruhelos die bleiernen Todesboten über den stillen Lauf der Yser hin und her wirft, sitzen im Schutze der Kapellenmauer drei Hallenser Reservisten unter freiem Himmel an einem Tisch – und spielen Skat. Die Kartenblätter, obwohl sie so abgegriffen sind, daß man Rot und Grün fast nimmer unterscheiden kann, leuchten in der Sonne wie goldene Täfelchen, und aus den glänzenden Gesichtern der drei Spieler redet gemütliche Ruhe und alles Behagen einer köstlichen Frühlingsstunde. Ich gucke dem Spiel eine Weile zu und frage: »Na, wie wär's denn? Könnt' ich da nicht als Vierter ein bisserl mitspielen?« Die Drei – mein Sprachklang mag ihnen meine süddeutsche Heimat verraten haben, und die Vorstellung, daß ein Bayer Skat spielen möchte, scheint ihnen etwas so unglaublich Komisches zu sein wie der Versuch eines Dromedars, auf der Mandoline zu konzertieren – die Drei legen ihre Kartenblätter fort, gucken zuerst verwundert an mir hinauf und fangen dann so herzlich zu lachen an, daß ihr Gelächter das Knallen der Gewehrschüsse übertönt.

Dieses heitere Lachen begleitet mich und bleibt in mir. Ich hör' es noch immer, obwohl es schon längst erloschen ist im Dröhnen der immer rascher aufeinanderfolgenden Granaten. Schlag auf Schlag. Rauch wirbelt auf, und überall kollern die Mauerbrocken. Die Sache wird ungemütlich, es gibt keinen sicheren Weg mehr, und schließlich müssen wir in einen Keller hinunter. Da kommt – in einem Raum, in dem man nicht aufrecht stehen, aber behaglich sitzen kann – eine seltsam anheimelnde Stunde. Das Talglicht, das man auf die Tischplatte klebte, wirft einen matten Flackerschein durch das Kellerdunkel und läßt den Rotwein in den gastlichen Gläsern funkeln, die klein sind, aber gerne und oft gefüllt werden. Beim Schwatzen und Erzählen vergißt man völlig, daß es da droben über unseren Köpfen immer dröhnt und donnert. Das Gebäude und die Kellermauern zittern. Und plötzlich gibt es auch bei uns herunten einen festen Krach – das Bett, auf dem drei Offiziere saßen, ist zusammengebrochen. Etwas Rotes tröpfelt – der Burgunder. Man lacht über dieses kleine Satyrspiel der Kriegstragödie.

Die Beschießung mindert sich nicht. Ihr Ende ist nicht abzuwarten, wir müssen hinauf und an die Rückfahrt denken. Seit dem Morgen sind ein paar hundert Granaten auf die Trümmerhaufen von Dixmuiden niedergefallen. Sie haben keinen Lebenden beschädigt, nur ein paar Tote aus ihren Gräbern gerissen – drei Granaten fielen in jenen sonnigen Garten mit den kleinen Kreuzen. Sonst ist an den weiten Trümmerstätten nach diesem stundenlangen Kleinklopfen des Schuttes kein Unterschied gegen früher zu gewahren.

Wieder erschüttern mich die Bilder namenloser Vernichtung, während wir flink von Ruine zu Ruine springen und uns bei jedem Sausen in den Lüften hinter einem noch festen Gemäuer zu decken suchen. Und da pfeift es wieder einmal gegen uns her. Hinter der Schuttstätte des Domes springe ich in eine gewölbte Stube, an der die ganze Straßenwand schon herausgerissen ist. Mit einem Husch der Augen gewahre ich zerfetzte Geräte, einen zertrümmerten Schreibtisch, zerschmetterte Bücherkasten, zerknüllte Heiligenbildchen und einen fast tischhohen Wust von Schutt und umhergestreuten Büchern. Hier muß ein Prälat gewohnt haben. An einer weißen Wand, die noch steht, aber schon viele Sprünge hat, ist ein Kruzifix befestigt – das grün bemalte Christusfigürchen, das den linken Arm schon verloren hat, hängt von dem schwarzen Kreuzholze nach vorne heraus, haftet nur noch am Fußnagel und droht mit jedem nächsten Augenblick in den wüsten Schutt herunterzufallen. Ein dumpfes Dröhnen. Staub wirbelt, die Mauern zittern und Mörtel bröselt von den zerrissenen Wänden. Das schwarze Kreuzholz an der Wand ist leer – der kleine grüne Heiland hängt am verknüllten Messing eines leise schaukelnden Kerzenlüsters und fällt – nun liegt er auf meinem Arm, und ich halte ihn fest.

Ein kunstloses, naives Schnitzwerk ohne Handelswert! Und armlos, von Schuttstaub überkrustet, von Steinsplittern und Glasscherben zerkratzt! Ich hab's nicht fertig gebracht, dieses Figürchen hinfallen zu lassen auf den üblen Schutt, es der völligen Vernichtung preiszugeben. Das mißhandelte Holzbild war mir lieb geworden in diesen dröhnenden Sekunden. Ich nahm es mit. Hab' ich mich dadurch der Plünderung schuldig gemacht? Dann bin ich bereit, zehnfachen Ersatz zu bieten. Aber ich gebe meinen kleinen grünen Herrgott von Dixmuiden nimmer her, ich will ihn behalten, so lang ich lebe.

Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
28 сентября 2017
Объем:
100 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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