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Kapitel 8
Donnerstag, 5. Juni, nachmittags, Rua Brigadeiro Tobias

Gil teilte sich ein kleines Büro mit Komirowski. Die Schreibtische standen nur ein Meter voneinander entfernt. Sie konnte das Parfüm ihrer Kollegin riechen. In ihrer Schreibtischschublade hatte Gil noch ein Lutschbonbon gefunden. Sie fuhr ihren Computer hoch und blätterte zerstreut durch die Papiere, die auf ihrem Tisch lagen. Ein Briefumschlag erregte ihre Aufmerksamkeit. Als sie den Umschlag öffnete, hielt sie den Obduktionsbericht der Toten aus dem Fußballstadion in den Händen. Für den Fall war Duarte zuständig, doch João Russo hatte aus alter Gewohnheit ihr die Ergebnisse der Pathologie zugeleitet. Zunächst wollte sie den Bericht ungelesen in einen neuen Umschlag stecken und an ihren alten Chef adressieren. Dann siegte ihre Neugierde.

Die Frau war mit einer Walther P 22 aus einem Abstand von 150 cm erschossen worden. Das zeigten die Hautveränderungen auf der Einschussstelle. Die Waffe war auf der ganzen Welt bei Gangstern beliebt. Der Pathologe vermutete den Todeszeitpunkt am 29. Mai zwischen 20 und 1 Uhr am 30. Mai. Der Fundort der Leiche war nicht der Ort ihrer Ermordung. Die Frau war 168 cm groß und Anfang 20. Ungewöhnlich war, dass sie schon dreimal schwanger war. Ein Kind war auf dem normalen Weg zur Welt gekommen, zwei Kinder per Kaiserschnitt. Auch in Brasilien kam es nicht häufig vor, dass eine Frau mit vielleicht 22 Jahren drei Kinder austrug. Das kleine Tattoo mit den kelchförmigen Händen und dem Kreuz war etwa 5 cm groß und schon mehrere Jahre auf dem Körper der jungen Frau. Die Tote war sorgfältig gesäubert worden. Auf ihrer Hose hatte die Spurensicherung drei kleine Blutspritzer gefunden. Das Blut stammte nicht von der Toten. Das konnte ein erster Hinweis auf den Täter sein. Die Fußballer der beiden Erwachsenenmannschaften waren befragt worden. Niemand kannte die Tote.

Bei den Papieren fand sie das Vernehmungsprotokoll mit dem Präsidenten von Juventus São Paulo. Es handelte sich um den Geschäftsmann Walter Buda, der auch im Präsidium des brasilianischen Fußballverbandes saß. Seine Firma war am Bau zweier WM-Stadien beteiligt.

Vernehmung mit Walter Buda, am 4. Juni in seinem Büro durch Capitão Duarte.

Duarte: „Sie haben gehört, dass auf dem Rasen des Estadio Conde eine tote junge Frau lag. Hier ist ein Foto von der Toten.“

Buda: „Ja, der Platzwart des Vereins hat mich über diesen tragischen Fall informiert. Haben Sie schon den Täter?“

Duarte: „Leider nein, deshalb will ich Sie als Zeugen vernehmen. Bitte schauen Sie sich das Foto an. Kennen Sie die Tote?“

Buda schüttelt den Kopf. „Ich habe diese Frau noch nie gesehen.“

Duarte: „Haben Sie eine Idee, weshalb sie auf den Rasen Ihres Stadions gelegt wurde?“

Buda: „Da kann ich leider nichts sagen. Ich denke, es ist Sache der Polizei das herauszufinden.“

Duarte: „Natürlich. Haben Sie mit irgendjemand Ärger?“

Buda lachte. „Ach so, Sie meinen eine Rache oder so etwas. Haben Sie schon die Spieler gefragt, ob jemand das Mädchen kannte? Das halte ich für eher wahrscheinlich...“

Duarte: „Haben Sie einen bestimmten Spieler in Verdacht? Hatte ein Fußballer private Probleme?“

Buda: „Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Ich will niemanden verdächtigen. Nur so eine blonde hübsche junge Frau. Das könnte wirklich etwas mit einem Fußballer zu tun haben.“

Duarte: Nochmals, haben Sie eine Vermutung, warum die Frau im Stadion lag?“

Buda schüttelte den Kopf.

Das Gespräch endete nach 15 Minuten.

Gil schob die Vernehmung und die übrigen Berichte in den Umschlag zurück. Sie schrieb die Adresse ihrer alten Polizeistation mit einem Kugelschreiber darauf. Vielleicht wäre es besser, diesen Mordfall aufzuklären als gestohlene Fußball-Pokale zu jagen. Sie beschloss João Russo in einer Woche anzurufen und sich beiläufig nach dem Stand der Ermittlungen zu erkundigen.

Kapitel 9
Freitag, 6. Juni vormittags, Avenida Marginal Pinheiro, São Paulo

Als erstes fielen ihr an der Frau die schönen Beine auf. Ansonsten war sie eher unscheinbar. Ihr Gesicht wirkte müde und ausdruckslos. Aber diese Beine! Marina Suarez saß Kaugummi kauend in einem Besprechungszimmer des Hotels Marriott und blickte nach unten. Ihre Antworten auf die Fragen waren kurz und einsilbig.

Zunächst hatte die Zeugin, die als Reinigungskraft im Luxushotel arbeitete, bereitwillig alle Angaben zu ihrer Person gemacht. Seit fünf Jahren arbeitete sie im Mariott, war nie krank. Vor einem Jahr stieg Suarez zur Reinigungskraft in den Luxussuiten auf. Der Stundenlohn hatte sich verdoppelt, der Zeitdruck auch.

„Mir ist nichts aufgefallen.“

Gabriella Gil versuchte im Gesicht der Frau zu ergründen, ob sie aus Bequemlichkeit oder Pflichtgefühl gegenüber ihrem Arbeitgeber nichts sagen wollte. Suarez schaute auf die Uhr. Sie musste dringend mit der Arbeit in dem Bereich ihrer Suiten beginnen. Santos saß ihr gegenüber am Aufnahmegerät. Die Abteilung Gol verfügte über ein Computerprogramm, das die Vernehmungen verschriftlichen konnte. Das sparte Zeit beim lästigen Abtippen der Protokolle.

„Sehen Sie, Signora Suarez“, Gil sprach betont langsam, „mit dem Hotelmanager ist abgeklärt, dass Sie uns alles sagen dürfen. Wir werden die Dinge vertraulich behandeln. Keine Sorge! Doch wenn Sie nicht mit uns zusammenarbeiten, werden wir Sie mit zur Polizeistation nehmen und die Vernehmung dort fortsetzen. Dann muss die Arbeit hier jemand anderes machen.“ Die Kommissarin wusste nicht genau, ob die Botschaft bei der Frau angekommen war. An ihrem Gesicht war keine Reaktion ablesbar. „Von wem wurde die Hotelsuite 2801 in den letzten Tagen genutzt?“

„Von dem Fußballfunktionär. Ich kann mir seinen Namen nicht merken.“

„Mister Bernoulli, das wissen wir bereits.“ Gil quälte sich zu einem Lächeln. „Wir vermuten, dass er nicht die ganze Zeit allein war. Ihnen muss doch beim Saubermachen der Suite etwas aufgefallen sein.“

Suarez kaute auf ihrem Kaugummi herum und blickte kurz zur Kommissarin: „Das geht uns alles nichts an. Ich mache sauber und vergesse.“

„Es ist gut, dass Sie so diskret arbeiten. Das werden wir gegenüber dem Hotelmanager lobend erwähnen. Sicher ist nicht jedes Zimmer gleich. Sie ziehen die Betten ab, Sie lehren die Mülleimer, Sie säubern das Bad. Da muss Ihnen in Suite 2801 etwas aufgefallen sein!“

Die junge Frau rutschte auf dem Stuhl hin und her. Dann lächelte sie wie ein kleines Mädchen und schaute auf den Boden. „Ich habe fast jeden Morgen im Mülleimer Kondome gefunden.“

Gil gab Santos ein Zeichen. Dann fragte die Kommissarin: „Haben Sie außer diesem Bernoulli noch eine andere Person in der Suite gesehen?“

Suarez schüttelte den Kopf. „Nie. Manchmal hing ein Schild ‚Nicht stören‘, dann kam ich später wieder.“

„Ist Ihnen sonst noch was aufgefallen?“

Wieder Schweigen. Das Kaugummi bewegte sich in dem Mund der Zeugin hin und her. Dann sagte sie: „Na, das Übliche, wenn in der Suite eine Orgie gefeiert wird. Das Bad ist mit nassen Handtüchern übersät, die Bettlaken zerwühlt, kaputte Gläser, leere Champagnerflaschen und so.“

Santos mischte sich ein: „Beim Saubermachen findet man doch Haare. Waren die eher kurz oder lang? Welche Farbe?“

Die Frau schien kein Problem mit seinem Nuscheln zu haben. „Ich habe öfters lange rote Haare beim Aufräumen im Bett oder in der Dusche gefunden.“ Sie schaute wieder auf die Uhr. „Ich muss unbedingt mit dem Saubermachen anfangen.“

„Noch eine Frage: Wo waren Sie am Dienstag, den 3. Juni abends?“

Suarez stutzte einen Wimpernschlag. „Bei meinem Mann zu Hause. Wir schauten Fernsehen.“

Gil nickte: „Danke für Ihre Hilfe, Sie können jetzt gehen.“ Suarez ließ sich das nicht zweimal sagen und verließ ohne Gruß den Raum.

Gil lief in dem Besprechungszimmer hin und her und reckte ihre Arme. „Draußen wartet noch eine Zeugin. Sie arbeitet nachts an der Rezeption und wurde vom Hotelmanager hierher bestellt. Willst du die Vernehmung machen? Ich kann mich auch um das Aufnahmegerät kümmern.“ Der Dicke schüttelte entschieden den Kopf.

Zu Beginn der Vernehmung nahm Santos auf dem Tonband ein paar Daten zur Identität der Zeugin auf. Die Frau hieß Marina Pinto und war genauso alt wie die Kommissarin. Sie wohnte im Norden der Metropole war verheiratet und hatte einen sechsjährigen Sohn. Pinto besaß das klassische Gesicht der Nachfahren portugiesischer Einwanderer. Nachdem sie sich gesetzt hatte, gähnte sie lauthals.

„Sie müssen entschuldigen. Ich mache im Hotel fast immer die Spätschicht von 22 bis 6 Uhr an der Rezeption. Ich habe nur ein paar Stunden geschlafen.“ Sie lächelte charmant.

Gil lächelte ebenfalls. „Wir sind dem Hotelmanager sehr dankbar, dass er Sie angerufen hat. Sie haben bestimmt erfahren, dass es um die Suite 2801 geht und den Diebstahl. Sie hatten in der Nacht Dienst. Ist Ihnen etwas aufgefallen?“

Die Dreißigjährige schob ihre langen dunklen Haare, die ihr in die Stirn gefallen waren, zurück. „Zwischen 22 und 1 Uhr ist in unserm Hotel eine Menge los. Leider war ein Kollege kurzfristig erkrankt und die Hotelleitung fand so schnell keinen Ersatz. In dieser Zeit sprang sogar der stellvertretende Hotelmanager zwei Stunden ein.“

„Ich ahne, was das für einen Stress bedeutet. Nur die hohen Fußballfunktionäre sind natürlich nicht irgendwer. Ist Ihnen an diesem Abend etwas aufgefallen? Brachten Gäste ihres Hotels andere Leute mit? Verließ jemand zwischen eins und drei Uhr das Mariott?“

„Wenn ich mich richtig erinnere, kam Herr Bernoulli mit einer Gruppe so gegen Mitternacht. Sie waren bei einem Empfang, wirkten ziemlich betrunken. Jedenfalls haben sie mir viele Komplimente gemacht.“

Die Kommissarin hakte nach: „Wann kamen die Männer genau?“

„Kurz nach Mitternacht. Vorher war der Schlüssel bei uns an der Rezeption. Also vielleicht eine Viertelstunde nach Mitternacht.“

„Waren die Funktionäre allein oder in Damenbegleitung?“

Die Frau von der Rezeption lächelte. „Sie waren nicht allein. Aber das ist doch kein Verbrechen, oder?“

„Zumindest kein Verbrechen, gegen das die Polizei ermittelt. Seit dem Diebstahl müssen wir überprüfen, wer Zugang zur Suite hatte. War auch Bernoulli in Begleitung?

„Ich kann mich nicht genau erinnern. Mir fiel jedenfalls keine Frau auf.“

„Ist Ihnen an früheren Abenden eine Frau mit längeren roten Haaren aufgefallen?“ Gil merkte wie ihre Gesprächspartnerin eine Sekunde zögerte. „Sie brauchen keine Sorge zu haben. Wir werden alles vertraulich behandeln.“

Pinto seufzte: „Ja, so eine Frau gab es. Ich denke, es war keine Einheimische. Sie war zwei oder dreimal dabei. Aber nicht bei Herrn Bernoulli, soweit ich weiß.“

„Wieso denken Sie, dass es keine Einheimische war?“

„Sie sprach Englisch ohne unsern Akzent. Sie war etwas anders gekleidet, eher europäisch.“

„Können Sie uns diese Frau näher beschreiben. Alter, Größe usw.“

„Ich kann mich nicht genau an diese Frau erinnern. Ich schätze sie auf 30 Jahre. Mittlere Größe. Sie hatte lockige rötliche Haare. Eine gute Figur, großer Busen, nicht gerade dünn.“

„Vielen Dank, Frau Pinto, Sie haben uns sehr geholfen. Wir schicken Ihnen einen Mitarbeiter vorbei, der mit Ihrer Hilfe ein Bild dieser Frau zeichnen wird. Falls Ihnen noch etwas einfällt, hier ist meine Visitenkarte.“ Santos schaltete das Aufnahmegerät aus. Endlich gab es eine Spur.

Als Pinto das Zimmer verlassen hatte, meinte Santos: „In der Suite scheint es ganz schön hoch her gegangen zu sein.“

Gil nickte: „Die Herren vom Weltfußball lassen es sich gut gehen. Die verdienen ja auch eine Menge mit einer Weltmeisterschaft. Wir müssen herausfinden, wer die Frau mit den roten Haaren ist.“

Santos dachte einen Augenblick nach: „Das wird Bernoulli nicht gefallen.“ Dann lachte er laut und zeigte seine Goldzähne.

Kapitel 10
Freitag, 6. Juni im deutschen Quartier

In dem Quartier der deutschen Nationalmannschaft war für alles gesorgt. Es sollte der Fußballelite an nichts fehlen. Auf Wunsch der Nationalspieler waren sogar drei Tischtennisplatten eingetroffen, obwohl dieses Spiel in Brasilien so beliebt war wie warmes Bier in Deutschland. Am Nachmittag waren die Tischtennisplatten verwaist. Die Fußballer trafen nach ihrem Trainingslager in Mexiko erst am Dienstag auf der abgeschotteten Anlage ein. Einige Fußballfunktionäre spielten Tennis auf den drei Plätzen, die sich auf dem weitläufigen Areal der Ferienanlage befanden. Einer der besten Golfplätze Brasiliens lag nur wenige Kilometer von der luxoriösen Unterkunft entfernt, und eine Gruppe von Fußballfunktionären war dorthin aufgebrochen. Auch der katholische Kollege hatte es geschafft in den erlauchten Kreis aufgenommen zu werden. Forte war dieses Anbiedern zuwider. Nun stand er mit seinem roten Tischtennisschläger und einer Packung neuer Bälle hinter dem Swimmingpool und lauerte auf einen Mitspieler.

Vor fünf Minuten war Barbara Schuster vorbeigelaufen. Forte hatte sich schnell auf eine Liege gelegt und schlafend gestellt, um einem Spiel mit ihr auszuweichen. Die drahtige Frau spielte ziemlich schlecht Tischtennis. Forte hatte einfach keine Lust auf Ping Pong und blöde Gespräche.

„Haben Sie Lust auf ein Match? Oder wollen Sie sich ausruhen?“

Die Stimme kam ihm irgendwie bekannt vor. Forte rieb sich die Augen und blickte in das Gesicht des Mannschaftsarztes.

„Ich habe schon einige Zeit nicht mehr gespielt“, sagte der Arzt lächelnd, „aber früher war ich ganz gut darin. Haben Sie noch einen Schläger?“

„Aber klar doch. Spielen wir uns ein?“

Die 72 Jahre sah man dem Mediziner nicht an. In der Realität wirkte er nicht ganz so jung wie im Fernsehen. Der Mannschaftsarzt war ein Angriffsspieler. Seine Schmetterbälle gingen zunächst deutlich an der Platte vorbei und Forte musste sich oft bücken. Mit zunehmender Spieldauer wurde sein Gegenüber ein gleichwertiger Partner. Schweiß lief Forte den Rücken herunter. Sein Körper hatte sich noch nicht an die subtropischen Verhältnisse in Porto Seguro gewöhnt

Nach dem umkämpften Match, das der Seelsorger in drei Sätzen gewann, tranken sie ein Glas Wasser und einen Espresso zusammen.

„Ich bin im Ruhrgebiet aufgewachsen“, sagte der Arzt unvermittelt. „Damals habe ich lieber Tischtennis als Fußball gespielt.“

„Im Predigerseminar war die Tischtennisplatte manchmal wichtiger als langweilige Vorträge. Mit meinem Freund Richard habe ich in der Mittagspause immer gespielt.“ Forte verschwieg, dass sie später sogar einmal um Beerdigungen spielten. „Ich wundere mich, dass Sie nicht bei der Mannschaft in Mexiko sind.“

„Ich bin erst heute um die Mittagszeit eingetroffen. Dort in Mittelamerika war mit der Mannschaft alles in Ordnung. Nur bei Khedira gibt es noch ein Fragezeichen.“ Der Arzt schaute auf den Atlantik. „Haben Sie eigentlich davon gehört, dass der WM-Pokal verschwunden ist? Stellen Sie sich vor, wir Deutschen gewinnen endlich die Weltmeisterschaft und dann gibt es gar keinen Pokal.“ Der Arzt lachte.

„Woher haben Sie die Nachricht?“

„Es ist ein Gerücht unter Funktionären. Der Franz hat es mir heute beim Mittagessen erzählt.“

„Und der hat es von Platini“, scherzte Forte.

„Sogar vom Oberboss persönlich. Doch bei dem Schweizer weiß man manchmal nicht, ob er es ernst meint oder einen Jux macht. Sehen wir uns später beim Abendessen? Danke fürs Spiel.“ Er reichte Forte die Hand.

Nachdenklich ging der Seelsorger in sein Zimmer. Er stellte sich unter die Dusche. Dann fuhr er sein Laptop hoch und schaute im Postfach nach E-Mails. Samuel schickte ihm ein Foto vom letzten Training. Er schaute auf die Uhr. 17:10 Uhr, das hieß in Deutschland war es nun 22:10 Uhr. Er meldete sich bei Sabine über Skype. Doch sie war nicht online. Vielleicht war sie mit einer Freundin im Kino und hatte die Kinder zu seinen Eltern gebracht. In Shorts setzte er sich an den Schreibtisch.

Noch eineinhalb Stunden bis zum Abendessen um 19 Uhr. Er überlegte, was er nächste Woche bei der kleinen Andacht sagen konnte. Einmal die Woche gab es eine Andacht im deutschen Quartier. Das hatte sich der Fußballpräsident so gewünscht. Durch das offene Fenster hörte er den Atlantik rauschen. An dieses Geräusch musste er sich in der Ferienanlage gewöhnen. Er freute sich schon auf die Anreise der Nationalspieler. Dann sollte ein ökumenischer Gottesdienst gefeiert werden. Er nahm seine Bibel und suchte nach der Stelle im 1. Korintherbrief, in der Paulus das Leben der Christen mit einem Wettkampf verglich. Auf einem Zettel notierte sich Forte ein paar Stichworte. Er war nicht bei der Sache.

Immer wieder musste er an den Umschlag denken. Der Mann hatte sich nicht bei ihm gemeldet. Sollte er ihn aufbewahren oder der Polizei geben? War der Fremde ein Verbrecher oder ein unschuldiges Opfer? Mit wem konnte er darüber sprechen? Vielleicht sollte er sich mit dem Sicherheitschef Hans-Joachim Klein in Verbindung setzten. Er holte den weißen Umschlag aus der Schreibtischschublade heraus und wog ihn in der Hand. Seine Neugierde siegte. Forte holte aus seinem Koffer sein Schweizer Taschenmesser und öffnete den Umschlag. In ihm befand sich ein weiterer zusammengefalteter grauer Umschlag. Als er diesen öffnete fiel ein Schlüssel heraus und ein kleines weißes Blatt Papier, das aus einem Notizblock stammte. Der Schlüssel konnte zu einem Bankfach gehören oder einem Tresor. Auf dem Zettel befanden sich in vier Reihen Buchstaben und Zahlen. Die Schrift war schwer zu lesen. Forte nahm ein Blatt Papier und notierte sich, die vier Zeilen:

AP118

MA718

ZA117

EF623

Forte grübelte. Es war eine Botschaft. Aber für wen? Und was sollte es bedeuten? Und was war mit dem Schlüssel? So viel er auch überlegte, er fand keine Lösung. Sein Magen rumorte. In einer halben Stunde gab es Abendessen.

Kapitel 11
Samstag, 7. Juni, Mittagszeit in Curitiba

Von São Paulo nach Curitiba waren es 353 Kilometer auf der Autobahn. Wenn man gut durchkam und die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit nicht so genau nahm, konnte man die Fahrt in knapp drei Stunden schaffen. Capitão Mineiro brauchte mit Kommissarin Gil im Nissan Geländewagen der Polícia Civil do Estadio de São Paulo fast fünf Stunden. Dabei überschritt er mehrfach die Höchstgeschwindigkeit von 130 Kilometern und hielt nur einmal an einer Tankstelle für einen Espresso an.

Schon bei der Fahrt aus der Stadt waren die Polizisten in einen Stau auf dem achtspurigen Autobahnring geraten. Selbst mit Blaulicht kam Mineiro nur schleppend voran. Die Straßen waren einfach verstopft. Der gestiegene Wohlstand der Mittelklasse machte sich auf den Autobahnen bemerkbar. Als sie die Mautstation hinter sich gelassen hatten, griff Gil nach der Akte auf dem Rücksitz und blätterte sie durch.

„Kanntest du diesen Max de Lima?“

Mineiro schüttelte den Kopf. „Nicht persönlich. Aber vom Fernsehen. Vor vier Jahren bei der Weltmeisterschaft in Südafrika berichtete er für „O Globo“ aus dem Quartier der Nationalmannschaft.“

„Er war also richtig berühmt.“

„De Lima war ein bekanntes Gesicht. Bis vor ein paar Jahren. Dann ist er abgesackt.“

„Wie abgesackt?“

„Der Fernsehsender hat ihm gekündigt. Keine Ahnung warum. Auf jeden Fall war er seinen Job als Sportreporter los.“

Der Nissan überholte am Berg einen Sattelschlepper. Die Straße führte an einem Laubwald vorbei.

„Hier steht, dass die Leiche des Sportreporters am Freitagmorgen um 6:27 Uhr vom Sicherheitsdienst einer Firma im Süden Curitibas entdeckt wurde. Der Tote lag unterhalb eines Fabrikgebäudes.“

„Es war nicht klar, ob es Selbstmord, Unfall oder Mord war. Zunächst dachten die Ermittler an Selbstmord. Aber es gibt keinen Brief und die Stellung des zerschmetterten Körpers war ungewöhnlich.“

Gil schaute zum Fenster hinaus. Auf der linken Seite lag ein einsames Gehöft. Ein paar Kühe standen auf der Weide. Die Temperaturanzeige des Autos zeigte 17 Grad an. Sie blätterte weiter in der Akte. „Die Ermittler in Curitiba scheinen eher von Mord auszugehen. Das Gebäude ist zehn Meter hoch. Eine Sicherheitsleiter führt hinauf. Es ist unklar wie de Lima auf das Gelände der Firma Bosch Brasilia kommen konnte. Es fehlt der Bericht der Pathologie.“

„Warum sollte ein Mann aus São Paulo sich in Curitiba umbringen?“ Mineiro grinste.

Auch heute trug er wieder seine Uniform. Gil war zur Jeans mit bequemem Shirt umgestiegen. „Gibt es schon Hinweise auf die Täter?“

„Im Bericht nicht. Den habe ich gestern Nachmittag zugesandt bekommen. Möglicherweise sind die Kollegen schon weiter.“

„Was sagt deine Frau zu dem Einsatz am Samstag?“

„Hör mir bloß auf! Sie war stinksauer und machte ein böses Gesicht. Heute Abend sind wir zum 50. Geburtstag einer Freundin meiner Frau in ein libanesisches Restaurant in Zentrum eingeladen. Schon vor einem Monat haben wir zugesagt. Monica befürchtet, dass ich es nicht rechtzeitig schaffe.“

Um 12:32 Uhr trafen die beiden Ermittler in der Zentrale der Polícia Civil in Curitiba ein. Der moderne Zweckbau aus den siebziger Jahren war vor zehn Jahren durch einen futuristischen Anbau ergänzt worden. Der wachhabende Polizist war über die Besucher informiert und wies ihnen den Weg.

Als sie anklopften, machte ihnen Hauptkommissar Antonio Coelho die Tür auf.

„Dann muss der Fall ja wirklich wichtig sein, wenn sogar die Spezialermittler aus São Paulo hier in die Provinz kommen.“

Gil zuckte einen kurzen Augenblick zusammen. Ausgerechnet der Typ. Vor zwei Jahren hatte sie mit Coelho eine Fortbildung in der Polizeiakademie in Santos gemacht. Die unangenehme Erinnerung an diesen Typen, der ihr nach einem feucht-fröhlichen Abend an die Wäsche wollte, war noch ekelhaft frisch. Sie hatte ihm ins Gesicht geschlagen.

„Wir hätten uns auch eine schönere Beschäftigung für heute denken können“, knurrte Mineiro.

Coelho gab Mineiro die Hand und nannte seinen Namen. Er tat so, als würde er Gil nicht kennen. Sie übersah seine ausgestreckte Hand. Der Kommissar bot ihnen einen Platz an und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. „Ich vermute, dass ihr das Material gelesen habt, das meine Sekretärin gestern Nachmittag gemailt hat. Zunächst sah es so aus, als ob sich Max de Lima dort an der Fabrikhalle das Leben genommen hätte. Aber die Lage seiner zerschmetterten Gliedmaße war ungewöhnlich.“ Er räusperte sich. „Bei der Obduktion fand der Pathologe einige Hämatome an seinem Körper. Er wurde im Gesicht und in den Unterleib geschlagen. Der Abschlussbericht fehlt noch. Doch mit hoher Wahrscheinlichkeit ist er keines natürlichen Todes gestorben.“

Er legte einige Schwarzweißfotos auf den Schreibtisch. Gil schaute sich die Bilder von der Leiche und dem Tatort zusammen mit Mineiro aufmerksam an.

„Wisst ihr schon etwas über den Todeszeitpunkt?“ Mineiro gähnte verstohlen.

„Soll ich euch einen Espresso bringen lassen? Die Fahrt war bestimmt anstrengend, so wie ihr ausseht.“ Coelho ging an das Telefon.

„Wo waren wir stehengeblieben? Ach so, ja. Also die beiden Sicherheitsleute fanden die Leiche am Freitagmorgen neben einer alten Fabrikhalle der Firma Bosch, die im Augenblick nicht mehr genutzt wird. Die Täter konnten davon ausgehen, dass der Tote nicht sofort entdeckt wird. Es war mehr oder minder Zufall, dass die Leute bei ihrer Kontrolle von der normalen Route abgewichen sind. Der Tote sieht nicht so gut aus. Ratten haben an ihm genagt.“

Gil schüttelte sich. „Können die Pathologen schon etwas zum Todeszeitpunkt sagen?“

„Wie gesagt steht der Bericht noch aus. Gestern Abend habe ich mit einem Arzt telefoniert. Er meinte die Nacht war relativ kalt. Die Temperatur der Leiche war gesunken. Aber noch keine Leichenstarre. Vermutlich kam er zwischen Mitternacht und vier Uhr früh zu Tode. “ Coelho schwieg. Dann sagte er: „Warum seid ihr als Spezialeinheit eingeschaltet worden?“

„Na, weil sie euch eben nichts zutrauen.“ Mineiro grinste. „Seid ihr nicht darüber informiert, dass alle Verbrechen, die im Zusammenhang mit Fußball stehen, bei der zentralen Erfassungsstelle in der Hauptstadt gemeldet werden müssen. Ich gehe davon aus, dass eure Staatsanwaltschaft dies ordnungsgemäß gemacht hat. Die Zentrale hat sich mit unserem Staatsanwalt in Verbindung gesetzt, da der Journalist de Lima in São Paulo wohnt. Unsere Aufgabe ist nicht nur zu helfen, dass der Fall gelöst wird. Die brasilianische Regierung will in den Tagen mit so vielen Besuchern aus aller Welt verständlicherweise gut dastehen und braucht keine negative Schlagzeilen.“

„Das wird sich bei Max de Lima kaum vermeiden lassen“, warf Gil ein. „Wo wohnte der Journalist in Curitiba?“

„Er war hier im Stadtzentrum im Hotel Flora abgestiegen. Ein einfaches Hotel, zwei Sterne. Am Sonntag kam er an und buchte für vier Tage. Der Mann an der Rezeption hat erzählt, dass de Lima in der Nacht von Montag auf Dienstag nicht im Hotel war. Er kehrte erst am Dienstagabend wieder ins Flora zurück. Wir haben noch keine Ahnung, was er in dieser Zeit machte. Am Mittwochmorgen verließ er das Hotel mit unbekanntem Ziel und tauchte dort nicht mehr auf. Gestern durchsuchten zwei Kollegen von der Spurensicherung sein Zimmer und überprüften sein Gepäck. Viel war es nicht. Ein kleiner Handkoffer, dreckige und saubere Wäsche, Kulturbeutel, eine Tageszeitung, Hose, Hemd, ein Foto seiner drei Söhne. Es wurden keine Rechercheunterlagen gefunden.“

Mineiro und Gil sahen sich an. Die Kommissarin sagte. „Ist es vorstellbar, dass ein Journalist wie de Lima ohne Laptop, Tablet oder Mobiltelefon reist?“

Coelho verdrehte die Augen: „So weit waren wir auch schon, dazu brauche ich keine Spezialermittler. Eine Hotelangestellte hat uns versichert, dass er definitiv einen Laptop dabei hatte. Er fragte nach Wlan. Doch die elektronischen Geräte sind alle verschwunden.“

„Oder die Mörder haben sie geklaut!“ Mineiro rieb seine Wange. „Sicher habt ihr das Hotelpersonal schon gefragt. Haben die etwas mitbekommen?“

Der Polizist aus Curitiba schüttelte den Kopf: „Die Hotelangestellten haben nichts gesehen. Ich vermute, dass er den Laptop und das Mobiltelefon dabei hatte, als er weg ging. Er war praktisch nicht im Hotel, sondern ist weggegangen und war mehr als zwei Tage verschwunden.“

„Wir müssen herausfinden, an was er dran war.“ Gil rutschte auf dem Stuhl hin und her.

„So sehen wir das auch. Seine Arbeitssituation war nicht so einfach. Denn de Lima hatte seinen Job bei‘ O Globo‘ verloren. Er war einige Zeit weg vom Fenster und hat sich nun wieder rangeschafft. Vor einem halben Jahr fing er bei einem kleineren Fernsehsender an.“

„Und wie sieht es mit Familie und Freunden aus“, hakte Mineiro nach.

„Da könntet ihr uns gut unterstützen. Er lebte von seiner Frau getrennt. Sie wohnt in São Paulo. Führt ihr das Gespräch mit der Witwe?“

Es klopfte. Eine junge Polizeibeamtin kam herein und trug ein Tablett mit drei Espressi. Sie stellte die Tassen auf den Tisch und berührte dabei mit ihrer Hand den Arm Coelhos. Der Kommissar bedankte sich bei der Polizistin und tätschelte ihren Arm. Gil hatte plötzlich das Gefühl, dass der Kommissar nicht nur wegen des Falles noch im Präsidium war.

Ihr Gastgeber holte die Akte von seinem Schreibtisch und gab ihnen ein Blatt Papier. „Hier ist die Adresse der Witwe von Max de Lima und die Adresse eines seiner erwachsenen Kinder.“

„Und was bedeutet ‚Nova Vida‘“, fragte Gil.

„Das ist der Fernsehsender, bei dem de Lima in den letzten Monaten gearbeitet hat. Die Zentrale befindet sich in São Paulo. Vielleicht wissen die, mit was er sich beruflich beschäftigt hat. Möglicherweise finden wir so eine Spur.“

Der Capitão nickte: „Gut! Ihr kümmert euch um Zeugenaussagen in Curitiba und versucht herauszufinden, was er hier wollte. Die Tage in Curitiba müssen lückenlos rekonstruiert werden. Wir befragen seine Familie und die Arbeitskollegen. Am Mittwochmorgen telefonieren wir zusammen. Kannst du uns die Dinge aus der Akte kopieren, die wir noch nicht haben? Können wir hier in der Nähe etwas essen?“

„Gleich gegenüber gibt es ein gutes Lokal, das einen köstlichen Feijoada am Buffet hat. Am besten, ihr geht gleich hin. Ich lasse euch die Kopien dorthin bringen.“

Die beiden Ermittler standen auf und gingen zur Tür. Plötzlich meinte Coelho: „Ach eine Sache wäre da noch. Sollen wir mit dem Tod an die Presse gehen?“

Mineiro rieb seinen Bart: „In Brasilien können wir so eine Sache nicht lange geheim halten. Morgen könnt ihr an die Presse gehen. Aber lass uns heute noch Zeit, Kontakt mit seinen Angehörigen aufzunehmen. Die müssen es nicht aus dem Fernsehen erfahren.“

Als sie eine Stunde später im Polizeifahrzeug saßen, dachte Gil daran, dass in sechs Tagen die Fußballweltmeisterschaft begann. Hatte der Tod des Journalisten etwas mit dem Diebstahl des Pokals zu tun?

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22 декабря 2023
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9783939434245
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