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Kapitel 9

Einige Stunden später hatten Hansen und Riedmann erst einmal die Nase gestrichen voll von der Aktendurchsicht. Die Unterlagen reichten zurück bis in die siebziger Jahre und waren mit größter Akribie geführt. Die sprichwörtliche deutsche Gründlichkeit war also ganz offensichtlich auch eine der wenigen Tugenden, die Ost- und Westdeutschland gemeinsam hatten. Das Aufgabengebiet des K1 der Volkspolizei war viel umfangreicher, als Hansen gedacht hatte. Zwar hatte Riedmann bereits vorab ein kurzes Dossier dazu erstellt. Aber was sich jetzt zeigte, war, dass Neumann und seine Abteilung fast überall ihre Finger im Spiel gehabt hatten, wenn es um Straftaten in und um Dresden herum ging. Es gab ganz offenbar keine klassische Trennung der Zuständigkeitsbereiche, so wie Hansen das aus den alten Bundesländern kannte. Bis zum Mittag hatten die beiden Ermittler gerade einmal gut die Hälfte des vorliegenden Aktenmaterials gesichtet. Das Schlimmste daran war, dass sie trotzdem bisher keinen Schritt weitergekommen waren. Weder Hansen noch Riedmann hatten verwertbare Hinweise auf ein mögliches Rachemotiv gefunden. Gegen dreizehn Uhr dreißig beschlossen die beiden Ermittler, eine Pause einzulegen und in die Kantine zu gehen. Riedmann bestellte den Kantinenklassiker Fritten mit Currywurst und trank dazu ein Glas Cola. Hansen orderte das Tagesmenü Spaghetti Bolognese und genehmigte sich ein alkoholfreies Bier. Beide Ermittler aßen schweigend. Sie wirkten angespannt und müde. Nachdem Hansen sein Essen beendet hatte, Riedmann war wie üblich schon längst fertig, widmeten sie sich wieder ihren Akten. Der Hauptkommissar schätzte, dass sie damit noch bis zum Mittag des nächsten Tages beschäftigt sein würden. Und mit der Überprüfung der DVD hatten sie bis dato nicht einmal angefangen. Der Gedanke daran ließ Hansen laut aufseufzen. Immerhin hatten sie anhand der vorliegenden Akten bis zum Nachmittag eine Namensliste ehemaliger Kollegen von Neumann aus der Zeit vor dem Mauerfall zusammengestellt. Riedmann schickte die Liste per Mail an die Ermittler in Dresden, mit der Bitte herauszufinden, wer von den aufgeführten Personen noch lebte. Hansen zog in Erwägung, auch diese Leute zu Neumanns Vergangenheit zu befragen, wenn sie mit den Ermittlungen in Aachen nicht weiterkamen. Außerdem wollten sie diese Namen später noch mit den Kontaktdaten aus dem Handy des ermordeten Mannes vergleichen. Die Auswertung des Handys war mittlerweile ergebnislos beendet, wie Laura Decker Hansen zwischenzeitlich mitgeteilt hatte. Bis auf die Telefonnummern seines Arbeitgebers, einiger Kollegen, seines Hausarztes und zweier Personen, von denen man noch nicht wusste, in welchem Verhältnis sie zum Opfer standen, waren keine Nummern gespeichert oder in den Anruflisten. Aber wenigstens war jetzt klar, mit wem das Mordopfer in Kontakt gestanden hatte. In einer zweiten Liste wollten die Ermittler die Personen erfassen, die ein Motiv für späte Rache gehabt haben könnten. Aber wie schon vor der Mittagspause zeichnete sich im weiteren Verlauf der Recherchen ab, dass hierfür kaum jemand infrage kam. Bis zum späten Abend hatten sie gerade einmal zwei Namen in die Liste »potenzielle Tatverdächtige« aufgenommen. Bei beiden Männern handelte es sich um jeweils des Mordes überführte Täter, die laut psychologischem Gutachten ein immenses Gewaltpotenzial besaßen. Aber diese Überprüfung wollten sie auf den morgigen Tag verschieben. Müde und kaum noch fähig, sich nach stundenlangem Lesen der Akten zu konzentrieren, beendeten Hansen und Riedmann gegen neunzehn Uhr ihre Arbeit und machten Feierabend.

Kapitel 10

Mittwoch, 20. September 2017

Der neue Ermittlungstag begann mit einer Frühbesprechung. Neben Hansen hatten sich Riedmann, Beck und Marquardt im Besprechungsraum eingefunden. Auch Laura Decker nahm teil.

»Wer möchte anfangen?«, fragte der Leiter der Mordkommission in die Runde.

»Wenn es den Herren recht ist, würde ich das gerne tun«, ergriff die Leiterin der KTU sogleich das Wort. Sie trug sehr zu Hansens Freude ein Led Zeppelin T-Shirt, auch er mochte die Musik der Altrocker. »Ich habe nämlich nicht viel Zeit«, schob sie hinterher.

»Ich mag Frauen, die die Initiative ergreifen«, meinte Marquardt, der sich geradewegs einen tadelnden Blick seines Chefs einfing.

»Och herm, Jens. Mir war nicht klar, dass du es so nötig hast. Aber na ja. Lassen wir das. Ich fasse mich kurz. Wir konnten kein weiteres Handy lokalisieren, das zum vermuteten Tatzeitpunkt im Haus oder der unmittelbaren Nähe eingeloggt war. Sieht man einmal von den direkten Nachbarn ab. Der Täter hatte entweder kein Handy dabei oder es war nicht eingeschaltet. Die Fasern des Verdächtigen, die wir am Tatort sichergestellt haben, bringen uns wie befürchtet nicht weiter. Sie stammen von kaufhausüblicher Massenware, nicht rückverfolgbar. Und unsere Internetrecherche bezüglich dieses Störungsgerätes, das man zum Ausschalten der Alarmanlage braucht, stockt ein wenig. Die Verkäufer im Internet sind nicht gerade auskunftsfreudig. Allerdings gibt es auch eine gute Nachricht. Und hier muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich das gestern im Eifer des Gefechts vergessen habe zu erwähnen. Mein Team konnte im Garten einen Schuhabdruck sicherstellen, den wir dem Täter zuordnen, da er vom Haus wegführte. Schuhgröße fünfundvierzig. Das Opfer hatte zweiundvierzig. Dem Profil des Abdrucks nach zu urteilen, trug der Täter Turnschuhe. Es handelt sich um einen Sneakerschuh der Marke Adidas, Modell Samba. Und genau da liegt das Problem. Es ist das meistverkaufte Modell. Eine Freundin von mir arbeitet in einem hiesigen Geschäft für Sportartikel. Ich habe sie gebeten zu überprüfen, wie oft der Schuh dieses Jahr bei ihnen im Laden verkauft wurde.«

»Und?«, wollte Hansen wissen.

»Alleine in diesem Geschäft seit Jahresbeginn über dreihundert Mal! Die Spur brauchen wir nicht weiter verfolgen.«

»Immerhin haben wir jetzt mehr oder weniger Gewissheit, dass es sich bei dem Mörder um einen Mann handelt«, meinte Hansen.

»Damit liegst du zwar richtig, allerdings hätte ich das jetzt nicht unbedingt an dem Fußabdruck festmachen wollen. Aber einen Trumpf habe ich mir noch bis zum Schluss aufbewahrt, der auch dieses Rätsel löst. Die Auswertung der Hautpartikel, die wir an der Leiche von Herbert Neumann sichergestellt haben und eindeutig nicht vom Opfer selbst stammen, liegt vor. Und demnach ist diese Person männlich.«

»Gute Arbeit, Laura«, sagte der Chefermittler anerkennend. »Danke. Ich muss dann auch wieder los. Solltet ihr noch irgendwelche Fragen haben, habt ihr ja meine Nummer. Tschüss«, sagte sie und machte sich auf den Weg.

»Wie weit seid ihr gestern noch mit der Überprüfung hinsichtlich des Jammers gekommen, Markus?«, wollte Hansen nun von Beck wissen.

»Wir haben nur zwei Firmen geschafft. Beide verfügten über ein derartiges Gerät, das sie uns auch bereitwillig vorgeführt haben. War ganz interessant. Und zugleich erschreckend zu sehen, wie leicht man eine Alarmanlage damit übertölpeln kann. Die Mitarbeiter konnten uns alle ein Alibi nennen. Wir haben das bereits überprüft. Die Firmeninhaber haben uns versichert, dass sie dieses Werkzeug nicht an Privatpersonen verkaufen würden. Wir machen heute mit unserer Überprüfung in Aachen und Umgebung weiter«, erklärte er.

»Einer der Mitarbeiter hätte so einen Jammer mitnehmen und an andere Personen weitergeben können«, gab Riedmann zu bedenken.

»Die Möglichkeit besteht. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass das so gelaufen ist. Als wir den Mord erwähnten, gaben sich alle sehr offenherzig«, erwiderte Beck.

»Wenn ich unsere bisherigen Ergebnisse einmal Revue passieren lasse, haben wir nicht viel in der Hand«, meinte Hansen. »Wir gehen davon aus, dass Neumann aus einem bestimmten Grund ermordet wurde und nicht ein willkürliches Opfer eines sadistischen oder räuberischen Mörders ist. Beweisen können wir das im Moment nicht. Genauso wenig wie unsere Vermutung, dass seine Ermordung mit einem Ereignis in der DDR zu tun haben könnte.«

»Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen«, brachte es Riedmann auf den Punkt.

»Also gut. Die Tagesaufgaben sind klar. Markus und Jens kümmern sich weiter um die Überprüfung der Sicherheitsfirmen und wir beide beschäftigen uns wieder mit den Akten«, erklärte Hansen in Richtung seines Partners. Damit war die Frühbesprechung beendet und alle erhoben sich von ihren Sitzen.

Kapitel 11

Hansen und Riedmann verloren keine Zeit und machten sich gleich nach Ende der Besprechung an die Arbeit. Nach zwei Stunden ergebnisloser Recherche vor dem Bildschirm brauchte Hansen erst mal einen Kaffee. Ausnahmsweise begnügte er sich mit einem Wachmacher aus dem Automaten auf dem Flur. Als er mit zwei Plastikbechern in der Hand in Riedmanns Büro zurückkehrte und sie abstellen wollte, schlug dieser mit der Faust auf die Schreibtischplatte, sodass Hansen beinahe die Becher fallen ließ.

»Ich glaube, ich habe hier was«, sagte Riedmann. »Neumann hat nicht nur im K1 gearbeitet. Er wurde 1987 nach Bautzen versetzt, das berühmt berüchtigte Gefängnis für politische Häftlinge. Den Akten zufolge wurde Ende 1990, also nach der Wende, kurzzeitig gegen Neumann ermittelt. Es gab drei Anzeigen ehemaliger Insassen. Ihm wurden brutale Verhörmethoden nachgesagt. Neumann war laut Aussage von damaligen Gefangenen wohl so eine Art Verhörspezialist und hat sich vor allem einen gewissen Ruf im Kampf gegen Republikflüchtlinge gemacht. Was immer das auch heißen soll«, erklärte Riedmann.

»Und was ist bei den Ermittlungen rausgekommen?«

Er antwortete nicht sofort, sondern überflog den Bericht. Hansen konnte beobachten, wie die Augäpfel seines Kollegen wild hin und her wanderten, so schnell las er die restlichen Textzeilen. Nach kurzer Zeit fasste Riedmann seine Lektüre so zusammen: »Die Untersuchungen wurden aus Mangel an Beweisen eingestellt. Aber es kommt noch besser. Es gibt hier ein Zusatzprotokoll, das einer der Ermittler damals erstellt hat. Gegen Neumann wurde bereits vor dem Mauerfall ermittelt, und zwar kurz vor seiner Versetzung nach Bautzen. Ein Häftling wurde nach der Vernehmung leblos in der Arrestzelle des Dresdner Präsidiums gefunden. Der Mann hieß Guido Sommer, neunzehn Jahre alt. Die Ermittlungen wurden aber recht bald wieder eingestellt. Die DDR-Justiz hat den Fall laut dieses Berichtes nur sehr halbherzig verfolgt. Es kam nicht einmal zu einer Anklage. Dem Totenschein zufolge, der hier als Kopie vorliegt, handelte es sich um Herzversagen. Die Familie hat natürlich Zweifel daran geäußert. Ihr Sohn war laut Aussage der Eltern nicht herzkrank.«

»Der war erst neunzehn. Kein Wunder, dass die Eltern daran gezweifelt haben. Erstaunlich finde ich allerdings, dass die Anzeigen der Insassen aus Bautzen nicht weiter verfolgt wurden. Gerade wegen des Zusatzberichts und der Ermittlungen im Fall Sommer gegen Neumann«, stellte Hansen fest.

»Wer weiß, wer da seine Strippen gezogen hat? Du ersetzt ja nicht zwangsläufig alle wichtigen Ämter und kappst sämtliche bedeutenden Verbindungen, nur weil es einen politischen Wechsel gibt. Das hat ja schon bei der Entnazifizierung nicht funktioniert.«

»Aber es ist dennoch interessant, dass Neumann kurze Zeit später nach Bautzen gewechselt ist. Entweder war an den Vorwürfen der Eltern doch etwas dran, und man wollte Neumann aus dem Weg haben. Oder es war gerade wegen seiner Verhörpraktiken eine Art Beförderung, wenn man berücksichtigt, was du eben von den anderen Anschuldigungen ehemaliger Insassen des Gefängnisses vorgelesen hast. Stehen da zufällig auch die Namen der Personen, die damals Anzeige erstattet haben?« »Da haben wir ausnahmsweise einmal Glück. Rico Stern, Marco Stein und Thea Wunderlich. Ich führe sie unserer Liste der potenziell Verdächtigen hinzu.«

»Ja, tu das. Vielleicht hat er seine Heimatstadt auch deswegen verlassen«, mutmaßte Hansen.

»Gut möglich. Ich hoffe nur, dass die Kollegen in Dresden bei unserer Anfrage weiterhelfen können.«

»Och, ich hätte nichts gegen eine Dienstfahrt in die schöne Elbstadt, um zu helfen«, erwiderte Riedmanns Chef mit einem Grinsen.

Kapitel 12

1988 in der Nähe von Großburschla

Birgit Schneider, von ihren Freunden nur Biggi genannt, saß auf dem Sofa und starrte an die weiße Raufasertapete an der gegenüberliegenden Wand ihres Wohnzimmers. Peter war verschwunden. Gerade überlegte sie, wie viele Motive es dafür geben und welche man ausschließen könnte, als es klingelte. Zwei Männer hielten ihr, nachdem sie geöffnet hatte, einen Dienstausweis vor die Nase, der sie als Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit auswies. Sie hielten sich nicht lange mit Reden auf und baten sie mitzukommen. Kaum hatte sie sich ihren Mantel und ihre Stiefel angezogen, saß sie auch schon auf der Rückbank eines himmelblauen Wartburgs. Sie ahnte inzwischen, dass der unerwartete Besuch im Zusammenhang mit Peters Verschwinden stand. Es war eine lange Fahrt, aber sie hatte schnell erkannt, wohin es ging, obwohl es draußen dunkel war. Die Männer fuhren nach Dresden, in ihre Heimatstadt. Jede Frage, die sie den beiden Stasi-Mitarbeitern stellte, wurde mit stummer Verachtung beantwortet. Als das Fahrzeug sein Ziel erreichte und sie die von den Strahlern angeleuchtete gelbe Klinkerfassade sah, wusste sie, wo sie waren. Es überraschte sie nicht. Wenigstens hatte sie jetzt Gewissheit. Sie standen vor dem Einfahrtstor von Bautzen, dem meist gefürchtetsten Gefängnis der DDR. Die Bevölkerung nannte den Knast in Anlehnung an die gelbe Fassade nur „Gelbes Elend“. Schon eine halbe Stunde später begann das erste Verhör.

»Sie wissen, warum Sie hier sind, Fräulein Schneider?«

Der Mann mit dem bestimmten Gesichtsausdruck und der scharfen Stimme strahlte eine unheimliche Autorität aus. Der Kurzhaarschnitt, die betont gerade Sitzhaltung und die ausdruckslosen Augen unterstrichen diesen Eindruck. Vor dem Mann lag auf dem Tisch eine geschlossene Akte. Aber Birgit Schneider konnte nicht erkennen, was auf dem Deckblatt stand.

»Nein, das weiß ich nicht. Und ich möchte jetzt endlich wissen, was hier eigentlich los ist«, flehte sie.

»Glauben Sie ernsthaft, dass Sie in der Position sind, irgendwelche Fragen oder gar Forderungen zu stellen, Fräulein Schneider?«, erwiderte der Mann mit eisiger Stimme. »Die einzige Person in diesem Raum, der es erlaubt ist, Fragen zu stellen, bin ich! Haben Sie das verstanden?« Mehr als ein vorsichtiges Nicken bekam Biggi nicht zustande. Sie war eigentlich kein ängstlicher Mensch. Aber der Mann, der ihr gegenübersaß, schien ihr unheimlich. »Gut! Wo befindet sich Ihr Freund Peter Dreschers?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe ihn seit gestern morgen nicht mehr gesehen!«, antwortete sie wahrheitsgemäß. Sie hatten schon oft über seine Pläne gesprochen. Aber sie war immer die Unentschlossene gewesen. Und Peter wollte nicht ohne sie gehen. Eigentlich ...

»Ich frage Sie noch einmal: Wo ist Peter Dreschers?«

»Ich weiß es wirklich nicht«, wiederholte sie.

»Sie wollen uns also ernsthaft erzählen, dass sie nicht darüber informiert waren, dass ihr Verlobter einen Fluchtversuch unternommen hat?« Die Schärfe in der Stimme des Mannes hatte zugenommen.

»Fluchtversuch? Wovon reden Sie da eigentlich?« Doch es klang längst nicht so überzeugend, wie sie es wollte. Außerdem stieg langsam Panik in ihr auf. War Peter die Flucht gelungen oder saß sie hier, weil sie ihn geschnappt hatten? Die Art, wie der Beamte fragte, ließ Vermutungen in beide Richtungen zu.

»Ich wiederhole meine Frage noch einmal, Fräulein Schneider. Sie wissen weder, wo sich Peter Dreschers zurzeit befindet, noch haben Sie jemals mit ihm über eine Flucht aus der DDR gesprochen?«

»Nein, ich weiß nichts darüber«, blieb sie bei ihrer Version.

»Natürlich ist Ihnen auch nicht bekannt, dass Peter Dreschers bei Heldra, wo ihr Verlobter zufällig für die Instandhaltung der Grenzschutzanlage verantwortlich ist, versucht hat, die Grenze zu übertreten? Er hat nie mit Ihnen darüber gesprochen?« Die Augen des Mannes waren jetzt zu Schlitzen verengt.

»Nein, das hat er nicht!«, sagte sie verzweifelt. Und auch das entsprach der Wahrheit. Peter hatte sie offenbar schützen wollen, indem er ihr nichts erzählt hatte.

»Dann wissen sie natürlich auch nicht, ob ihm jemand bei dem Versuch geholfen hat?«

»Nein, verdammt noch mal. Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass ich nichts darüber weiß. Wie geht es Peter denn? Geht es ihm gut?«

»Wir gehen davon aus, dass er auf bei dem Fluchtversuch ertrunken ist«, erwiderte der Vernehmer, der keine Miene verzog.

»Das ist gelogen«, gab sie schließlich trotzig zur Antwort. »Wenn Peter tot wäre, würde ich nicht hier sitzen«, fuhr sie mit einem triumphalen Lächeln fort.

»Wer war in die Fluchtpläne Ihres Verlobten eingeweiht, Fräulein Schneider?«, wiederholte der Mann, ohne auf ihre letzte Bemerkung einzugehen.

»Und wenn Sie mich noch hundert Mal fragen, ich weiß nichts darüber. Und selbst, wenn ich etwas wüsste, würde ich Ihnen nichts über die Einzelheiten erzählen«, erwiderte Biggi trotzig, die in diesem Moment wusste, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Der Mann ihr gegenüber zündete sich daraufhin eine Zigarette an, zog einmal daran und mit einer schnellen Bewegung, die Birgit Schneider nicht mal im Ansatz erahnt hatte, packte er ihr Handgelenk der rechten Hand. Was dann folgte, war ein Schmerz, wie sie ihn nie zuvor erlebt hatte.

Kapitel 13

Mittwoch, 20. September 2017, abends

Geduldig saß die Spinne an der Bar des Belvederes. Das Belvedere befand sich in einem alten Wasserturm auf dem als Ausflugziel beliebten Lousberg in Aachen. Der Lousberg im Norden der Stadt war neben dem Salvatorberg und dem Wingertsberg der höchste Berg Aachens und schon zur napoleonischen Zeit diente er als Ausgangspunkt der topografischen Aufnahme des Rheinlandes. Einer Sage nach verdankten die Aachener den Lousberg dem Teufel selbst. Weil den Stadtbewohnern beim Dombau das Geld ausgegangen war, schlossen sie einen Pakt mit dem Höllenfürsten. Sie erhielten Gold und versprachen im Gegenzug dem Teufel die Seele des ersten Lebewesens, das den Dom betrat. Von den Aachenern betrogen, weil sie einen Wolf in den Dom hinein jagten, wollte sich der Teufel rächen. Er sammelte an der Nordseeküste Sand, packte ihn in große Säcke und trug sie Richtung Aachen. Auf dem Weg ermüdet von der schweren Last, wurde er abermals von einer schlauen Aachenerin getäuscht, die ihm weismachte, dass er noch einen langen Weg vor sich hatte. Er ließ den Sand kurzerhand da, wo er gerade rastete, und so entstand der Legende nach der Lousberg. Doch all das interessierte die Spinne nicht im Geringsten. Sie war nicht wegen der tollen Aussicht hier. Oder wegen der Geschichtsträchtigkeit des Ortes. Sie war nur aus einem einzigen Grund im Belvedere. Um sich auf die Lauer zu legen. Zu diesem Zweck hatte sie ihr Netz schon längst gespannt. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sich das ahnungslose Opfer näherte, sich in ihrem Netz verfing, um anschließend durch eine tödliche Giftinjektion zu sterben. Sie lächelte bei dem Gedanken daran. Und dann war der Moment gekommen. Doktor Michael Lessing hatte sein Abendessen in seinem Stammrestaurant beendet und wollte gerade gehen. Auch die Spinne erhob sich in diesem Moment von ihrem Barhocker und bewegte sich Richtung Ausgang. Sie inszenierte einen Zusammenprall, der Rest war ein Kinderspiel. Ein koketter Blick sowie ein paar schmeichelnde Worte reichten aus und er nahm ihre Einladung auf einen Entschuldigungsdrink dankend an. Eine Stunde später waren sie schon auf dem Weg zu seinem Haus in der Aachener Innenstadt. Im Belvedere würde man sich an eine hübsche Blondine mit langem Haar erinnern. Der letzte Akt begann.

Kapitel 14

Gegen zweiundzwanzig Uhr erreichte Doktor Lessing, der deutlich jünger aussah, als er mit seinen sechsundfünfzig Jahren eigentlich war, mit seiner Eroberung sein Praxishaus in der Oppenhoffallee. Er machte regelmäßig Sport, was man seiner Figur auch ansah. Und auch die Gene hatten es gut mit ihm gemeint. Er hatte bisher keine einzige Falte im Gesicht und er hatte immer noch volles, braunes Haar. Er freute sich auf ein paar schöne Stunden mit der geheimnisvollen Frau, die ihn auf so plumpe Weise angerempelt hatte. Natürlich hatte er ihre wahre Absicht schnell erkannt und war auf das Spiel eingegangen. Schließlich war sie ihm bereits vorher an der Bar aufgefallen und hatte sein Interesse geweckt. Irgendwie kam ihm ihr Gesicht bekannt vor. Wenn er auch nicht wusste, woher. Letztlich war es ihm auch egal. Hauptsache, er musste den Abend nicht allein verbringen. Er öffnete eine Flasche Cabernet Sauvignon und schüttete ihn in einen Dekanter, damit er noch etwas atmen konnte. Er legte Musik auf und gesellte sich zu seinem Gast auf die Couch. Nach ein paar Takten gepflegten Smalltalks goss er zwei Gläser des Weines ein und verschwand für einen Moment auf die Toilette. Die Zeit reichte der Spinne, um in Lessings Weinglas ein paar K.o.-Tropfen zu träufeln. Gerade so viel, dass er nicht allzu lange außer Gefecht sein würde. Als er zurück ins Wohnzimmer kam, hatte sie bereits die oberen beiden Knöpfe ihrer Bluse geöffnet. Aber bevor es zur Sache ging, wollte sie erst einmal mit ihm anstoßen. Mit einem einzigen Zug trank Lessing das Glas leer. Danach rückte er näher an sie heran und küsste sie leidenschaftlich. Sie ließ es über sich ergehen. Dann übernahm sie die Initiative. Sie wollte nicht, dass die Wirkung des Betäubungsmittels einsetzte, bevor sie das Schlafzimmer erreichten. Sie stand auf, das Weinglas in der Hand, und fragte ihn lächelnd: »Hast du eigentlich auch ein Schlafzimmer?«

Er nickte und lächelte. Schon auf dem Weg dorthin hatte Lessing ihren Rock geöffnet. Vor dem Bett zog er ihn ihr hastig herunter. Er atmete intensiv, während er ihre langen, schlanken Beine betrachtete. Wieder küsste er sie leidenschaftlich, und kurze Zeit später lagen sie auf dem großen Bett. Gierig griff er ihr zwischen die Beine, um ihr den Slip herunterzuziehen.

»Mir ist auf einmal so schummrig«, sagte er lallend. Dann fiel auch schon sein Kopf zur Seite, und er schlief ein.

Erst langsam kam er wieder zu sich. Wie durch Nebelschwaden nahm er die Umgebung wahr, als er die Augen öffnete. Michael Lessing hatte nicht die geringste Ahnung, was geschehen war. Als er registrierte, dass seine Hände und Füße mit Kabelbindern an die Metallstäbe seines Bettes gefesselt waren, ergriff ihn die Angst. Er wollte schreien, aber sein Mund war mit Klebeband zugeklebt, was ihm zusätzlich das Atmen erschwerte, weil er in Panik geriet. Lessing versuchte, sich zu beruhigen und auf die Atmung zu konzentrieren. Allmählich gelang ihm das halbwegs. Auch der nebelige Schleier vor seinen Augen legte sich wieder. Jetzt erkannte er, dass die Rollläden des Schlafzimmerfensters geschlossen waren. Lediglich die Lampe auf dem Nachttisch neben dem Bett erfüllte den Raum mit gedämpftem Licht. Erst jetzt registrierte er, dass am Fußende seines Nachtlagers die Frau saß, die er eben noch begehrt hatte, und ihn anstarrte. Allerdings waren ihre Haare nicht mehr lang und blond, sondern pechschwarz und kurz. Sie hatte also eine Perücke getragen.

»Schön, dass du das kleine Nickerchen beendet hast«, sagte sie mit ruhiger, gefasster Stimme. Michael Lessing wollte etwas erwidern, aber das war mit dem zugeklebten Mund natürlich unmöglich. Er kam sich vor wie in einem schlechten Film. Allerdings war das hier die Wirklichkeit. Und das ließ die Situation weitaus bizarrer erscheinen. Auf Hilfe seiner Nachbarn konnte er nicht hoffen. Erwin Paulus, der Nachbar von der Wohnung gegenüber, war schwerhörig. Der Mieter, der direkt unter ihm wohnte, war in Urlaub, und die andere Mieterin aus dem ersten Stock war Flugbegleiterin und ohnehin so gut wie nie zu Hause. Michael Lessing starrte verzweifelt in das Gesicht seiner Peinigerin.

»Du fragst dich sicherlich, was das hier alles soll, und was ich von dir will?« Er nickte. »Nun«, fuhr die Frau fort, »so viel kann ich dir schon einmal vorab verraten. Es wird dir auf keinen Fall gefallen. Aber alles der Reihe nach«, sagte sie kühl und lachte. Michael Lessing war klar, dass es hier um mehr als nur um einen einfachen Raubüberfall ging. Er musste davon ausgehen, dass er in Lebensgefahr schwebte. Plötzlich erhob sich die Frau und steuerte auf den Kommodenschrank zu, der sich seitlich an der Wand befand. Sie öffnete die Handtasche, die auf der Kommode stand und holte einen Gegenstand hervor. Lessing konnte zunächst nicht erkennen, worum es sich handelte. Erst, als sie sich wieder umdrehte, erkannte er, dass sie einen Schlagring in der Hand hielt.

»Kommen wir nun zum eigentlichen Grund meines spätabendlichen Besuchs. Weißt du, wie es ist, wenn ein Mensch misshandelt wird? Und ich meine jetzt nicht aus deiner Sicht als Arzt, sondern aus eigener Erfahrung?« Michael Lessing verneinte die Frage mit einem heftigen Kopfschütteln.

Sie grinste. »Dann ist es an der Zeit, dass du diese Erfahrung endlich einmal machst!«, stellte die Frau kühl fest.

Sie zog den Schlagring über die vier Finger der rechten Hand und machte einen Schritt auf das Kopfende des Bettes zu. Mit flehendem Blick schaute Lessing ihr in die Augen in der Hoffnung, dass dies die Frau von ihrem Vorhaben abhalten würde. Aber er erkannte darin nichts weiter als blanken Hass. Dann folgte auch schon der erste Schlag.

Der Schlagring traf ihn oberhalb des rechten Auges. Offenbar verursachte der Schlag eine Platzwunde, denn nun spürte er, wie warmes Blut die Wange hinab lief. Er überlegte, wer die Frau war. Woher kannte er sie? Er hatte aber kaum Zeit, darüber nachzudenken, denn schon traf ihn ein zweiter, härterer Schlag ins Gesicht. Die ersten Tränen schossen ihm aus den Augen. Doch Mitleid schien er damit keineswegs zu erwecken. Stattdessen schlug sie weiter auf ihn ein. Nach dem fünften Schlag hörte sie auf.

»Ist schon ein Scheißgefühl, wenn man jemandem so ausgeliefert ist, oder?«, meinte sie plötzlich.

Doch er war nicht fähig, diese Bemerkung mit einem Kopfnicken zu beantworten. Stattdessen rannen ihm weitere Tränen über die Wangen.

»Dann kannst du ja jetzt halbwegs nachvollziehen, wie es dieser Frau hier auf dem Foto ergangen ist! Und sie musste noch weitaus Schlimmeres durchstehen.«

So sehr sich der Arzt auch bemühte, er erkannte die Frau auf dem Foto nicht, das sie ihm zeigte.

»Erinnerst du dich?«, rief sie und schlug ihm erneut ins Gesicht.

Eingeschüchtert von dem neuerlichen Gewaltausbruch schüttelte er langsam den Kopf.

»Dann will ich deinem Gedächtnis ein klein wenig nachhelfen: Bautzen 1989.«

Lessing dachte fieberhaft nach, und dann fiel es ihm plötzlich wieder ein. Der Schatten der Vergangenheit senkte sich also nach all den Jahren wieder über ihn. Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Nach der Wende, als vieles Vergangene noch einmal aufbereitet und kritisch unter die Lupe genommen worden war, hatte er in der Angst gelebt, dass das Unrecht, an dem er beteiligt war, ans Licht kommen würde. Aber diese Befürchtungen hatten sich schon bald als unbegründet herausgestellt. Und das, obwohl gegen ihn in einem anderen Fall ermittelt wurde. Irgendwann hatte er die alten Geschichten dann verdrängt, wenn auch nicht vergessen. Bis zu diesem Moment. Aber was hatte die junge Frau damit zu tun? Wie hatte sie ihn gefunden?

»Ja, das war eine tolle Zeit, oder? Allerdings denke ich, dass wir jetzt lange genug in alten Erinnerungen geschwelgt haben. Wir sollten weitermachen. Schließlich habe ich ja nicht ewig Zeit«, sagte sie mit einem Grinsen und nahm ein schwarzes Küchenmesser aus ihrer Handtasche.

Lessing begann wie wild an seinen Fesseln zu zerren. Aber es war zwecklos. Die Kabelbinder saßen einfach zu fest. Langsam beugte sich die Frau über ihn. Die Klinge des Messers blitzte im schwachen Licht der Nachttischlampe auf, bevor sie sich auf das untere Ende seines Hemdes zubewegte. Lessing keuchte. Er schwitzte mittlerweile derart, dass sein Hemd an seinem Oberkörper festklebte. Ein kleiner Schnitt, und der erste Knopf war abgetrennt. Dann der zweite. Diesen Vorgang wiederholte sie, bis schließlich alle Knöpfe des Oberteils entfernt waren und sein nackter Brustkorb zu sehen war. Dann spürte er, wie die Messerklinge die Brustwarzen berührte, während die andere Hand der Frau in seine Hose glitt und seinen Penis packte. Was immer jetzt kommen g, er hoffte, dass es schnell vorüber war.

»Ach, vielleicht fangen wir doch lieber mit diesem kleinen Lessing an«, sagte sie und grinste ihn an. Der Doktor zerrte erneut wie wild an den Fesseln. Vergeblich. Und dann, ohne jegliche Vorwarnung, machte sie zwei lange Schnitte quer über seine Brust. Die Wunden waren nicht sehr tief, aber sie bluteten stark. Gleich darauf folgten zwei weitere Schnittwunden. Diesmal an den Innenseiten des rechten und linken Arms. Diese Schnitte waren deutlich tiefer und legten ein großes Stück des Muskels frei. Lessing schrie aus Leibeskräften, aber durch den Knebel kam nur ein dumpfes Geräusch. Ihm dämmerte, dass seine Peinigerin plante, ihn langsam ausbluten zu lassen. Doch dann geschah erst einmal nichts mehr. Die Frau wandte sich von ihm ab und ging wieder auf die Kommode zu, wo sie etwas aus der Handtasche herausholte. Allerdings konnte er in dem schwachen Licht zunächst nicht erkennen, was das für ein Gegenstand war. Erst als sie näherkam, sah er, dass sie eine Spritze, eine Ampulle und ein Gummiband in ihren Händen hielt.

»Du möchtest sicher gerne wissen, was das hier für ein leckeres Zeug ist?«, fragte sie ihn, erhielt aber keine Reaktion. »Ein bisschen mehr Aufmerksamkeit hätte ich mir schon gerne gewünscht, Herr Doktor. Was ich dir jetzt verabreichen werde, ist nämlich Curare. Ich nehme einmal an, dass du die Wirkungsweise dieses Giftes kennst. Trotzdem werde ich es dir sicherheitshalber erklären. Für alle Fälle.«

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