Читать книгу: «Das brennende Meer», страница 2

Шрифт:

In der Küche war es wieder still. Sie hatten Großmutter Magdalena schon oft über die Verwüstungen, die die Russen angerichtet hatten, erzählen hören, aber sie wurden jedes Mal wieder unangenehm berührt, denn alle wussten, dass die Russen nicht weit weg waren. Und jetzt herrschte in Europa ja wieder Unfriede. Die großen Länder befanden sich miteinander im Krieg. Konnte Schweden sich dieses Mal heraushalten?

Es war warm in der Küche, doch Maria legte trotzdem zwei trockene Scheite Birkenholz auf das verglimmende Feuer, um die Wärme über Nacht zu halten und um Glut für das Feuer am nächsten Morgen zu haben. Die Großmutter hatte sich schon in ihr Bett ganz hinten in der Küche neben der Kammer gelegt, der kleine Bruder Lars war aufgeblieben und hatte zugehört, aber er war dann, den Kopf an die Knie seiner Mutter gelehnt, eingeschlafen. Jetzt weckte sie ihn, er war zu schwer, um in die Kammer getragen zu werden, wo er neben den Eltern schlief.

Lars war sechs und ziemlich klein für sein Alter. Johanna hatte versucht, ihm die Buchstaben beizubringen. Er machte Fortschritte, zeichnete mit Holzkohle und schrieb kurze Wörter auf flache Steine, die er am Strand gesammelt hatte. Einige dieser Steine hatte er auf dem Hof in einer Reihe ausgelegt. Wenn es regnete, wurden die Steine abgewaschen, aber bald hatte Lars neue Wörter darauf geschrieben, die allerdings oft nicht leicht zu deuten waren. Johanna war diejenige, die am besten verstand, was Lars sagen wollte.

Jetzt war Lars aufgestanden, er rieb sich die Augen und stolperte nach draußen, um Wasser zu lassen, ehe er sich hinlegte. Johanna folgte dem Bruder, er stand an der Hauswand, und sie machte einen Bogen um ihn herum, ging weiter in die Büsche, wo sie sich hinhockte.

Lars stand immer noch da, als sie zurückkam. Er ergriff ihre Hand, und sie merkte, dass er hier draußen noch etwas sagen wollte, ehe sie wieder hineingingen.

»Ist es sicher?«, fragte er.

»Ja, es ist ganz sicher«, antwortete Johanna.

»Woher weißt du das?«

»Ich fühle es, und ich vertraue auf Vater, er verlässt uns nicht.«

Lars drückte Johannas Hand. Er glaubte seiner Schwester, sie hatte für gewöhnlich recht, wenn sie sagte, dass sie das richtige Gefühl habe.

Sie würde nie die Unwahrheit sagen.

Wörter über das Meer

Der Morgen war kalt. Johanna erwachte, ehe es richtig hell geworden war, sie stand auf und fachte das Herdfeuer an, begann die Dinge hervorzuholen, die zum Frühstück gehörten, die Schalen für die Milchsuppe, Brot und Salz.

Als sie nach Grisslehamn zum Posthaus aufbrach, wurde es endlich hell. Sie hatte ihre Mutter gefragt, und sie waren sich einig: Es war am besten, wenn Johanna allein ging, sie hatte Birgitta kennengelernt und war gut behandelt worden. Jetzt galt es, mehr in Erfahrung zu bringen.

Im Waschhaus war niemand zu sehen. Johanna klopfte; als sie keine Antwort erhielt, öffnete sie die Tür, aber es war niemand dort.

Dann ging sie zu dem großen Haus hinüber; vielleicht gab es dort einen kleinen Seiteneingang. Sie suchte, fand jedoch keine Tür. Sie kehrte um, zögerte, sollte sie es wagen, am Haupteingang zu klopfen?

Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis geöffnet wurde. Birgitta stand da, lächelte und bedeutete Johanna hereinzukommen.

»Komm nur, hab keine Angst«, rief sie, »hier den Weg in die Küche, du bist eingeladen, komm nur.«

Johanna trat ein, Birgitta gab ihr einen leichten Klaps auf die Wange, das war ungewohnt für Johanna, denn zuhause berührte man einander nicht auf diese Art.

Sie gingen durch eine weitere Tür nach links und gelangten in die Küche. Doch dies war eine andere Art von Küche als die, die Johanna von den alten Höfen in Byholma her kannte. Dort aß man in der Küche, kam zusammen, arbeitete und schlief, weil es dort warm war. Diese Küche jedoch diente nur der Zubereitung von Speisen. Das Posthaus verfügte über ein besonderes Speisezimmer, oft übernachteten auch Reisende im Haus. Viele Leute wurden hier verköstigt; dafür sorgten die beiden Hausmägde. Johanna hatte Birgitta ja schon kennen gelernt, jetzt traf sie auch Laura Persdotter, die ältere der beiden Mägde.

»Ich habe schon von dir gehört«, sagte Laura, während sie Johanna die Hand hinstreckte.

Johanna knickste und wusste nicht, was sie sagen sollte. Laura war im selben Alter wie Johannas Mutter, sie trug eine hellblaue Bluse und eine dunkelblaue Schürze über dem langen grauen Rock. Sie lächelte nicht, als sie Johanna begrüßte, sah ihr jedoch in die Augen, hielt ihre Hand einen Augenblick fest.

»Herzlich willkommen«, sagte sie und klang jetzt etwas freundlicher.

»Danke«, war alles, was Johanna herausbrachte.

»Wie alt bist du?«, fragte Laura.

»Nach Neujahr werde ich vierzehn«, antwortete Johanna.

»Für dein Alter bist du recht groß.«

Johanna lächelte, knickste etwas, sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.

»Du kannst mit mir hinauf zur Telegrafenstation gehen«, sagte Birgitta, »ich muss nachher mit dem Essen für die beiden Telegrafisten dorthin, dann kannst du fragen, ob weitere Nachrichten über das Postboot, die Männer und deinen Vater eingetroffen sind.«

»Irgendetwas haben sie bestimmt erfahren«, sagte Laura.

»Es ist ein klarer Morgen, die Sicht scheint gut zu sein«, sagte Birgitta.

»Schaut nach den Kachelöfen, ehe ihr geht«, sagte Laura. Johanna begleitete Birgitta hinaus zum Holzschuppen, der unterhalb des Waschhauses lag. Das zersägte Birkenholz war schon gespalten und geschichtet, sie nahmen jeder eine Last Holz und gingen in das große Haus zurück. Sie begannen im Kontorraum. Der Postmeister saß hinter seinem Schreibtisch, ein anderer Mann saß ihm gegenüber auf einem herangezogenen Stuhl, sie unterhielten sich über irgendetwas und beachteten die Holz bringenden Dienerinnen nicht; später erfuhr Johanna, dass der Besucher der Postschaffner Anders Nyström war.

Johanna stand ganz still da. Sie betrachtete den Kachelofen, die merkwürdigen grün schimmernden Fliesen, die in allen Farben schillernde Spiegelfläche, die ihr eigenes Gesicht verzerrt wiedergab, die Möbel im Raum, das Fenster. Sie berührte die glatte Fläche mit den Fingerspitzen, es fühlte sich an wie Eis oder Glas, jedoch glatter und gleichzeitig etwas unwirklich.

Der Postmeister hob den Blick und bemerkte die Frauen. Er lächelte Johanna zu, nickte, ohne etwas zu sagen, und setzte seine Unterhaltung mit dem Mann am Schreibtisch fort.

Sie holten noch mehr Holz, trugen es hinein zu den übrigen Kachelöfen im Haus, in den Schlafzimmern, im Esszimmer, im Raum, in dem die drei Kinder des Hauses mit ihrer Lehrerin saßen. Die Kinder betrachteten Johanna neugierig, die sowohl vor der Lehrerin als auch vor den Kindern einen Knicks gemacht hatte. Es waren zwei Mädchen von vielleicht neun oder zehn Jahren und ein Junge von etwa sieben. Er lachte auf, als Johanna knickste, und sie merkte, dass sie etwas falsch gemacht hatte.

»Kinder, wir machen jetzt weiter«, sagte die Lehrerin.

Ihre Schüler gehorchten sofort; sie widmeten sich wieder ihren Aufgaben. Johanna konnte weißes Papier und Tintenfässer erkennen, sie hörte das kratzende Geräusch, als drei Gänsefedern langsam schwere Buchstaben formten, Schnörkel und Grundstriche. Sie meinte, den Geruch von Tinte, Kenntnissen und Einsichten spüren zu können, es war eine andere Welt als ihre eigene.

Hinter der Gartentür bogen sie nach links ab, folgten dem Pfad zwischen den Ahornbäumen nach oben in den Wald, erhaschten einen Blick auf das Meer, gingen den kurzen Sandstrand entlang, ehe die Steigung zum Aussichtsberg begann.

Das letzte Stück war richtig steil. Und dort oben auf einem kleinen Felsen lag die Telegrafenstation. Johanna erblickte ein seltsames Gebäude. Eine kleine Hütte mit vier groben Masten, die aus dem Dach ragten; sie waren hoch, mit Seilen nach allen Richtungen hin befestigt. Oben zwischen den Masten befanden sich Reihen aus großen viereckigen Platten, und von diesen Platten aus verliefen dünne Drähte durch Löcher im Dach der Hütte nach unten.

Drinnen gab es ein sehr kleines Fenster, der Raum war nur notdürftig erhellt. Johanna sah, dass dort ein Mann auf einem Stuhl saß. Er hatte sein Gesicht gegen etwas gepresst, das aus der Wand ragte, gegen ein blankes Rohr, und er hielt ein Auge gegen einen Ring gedrückt, der sich am Ende des Rohrs befand.

»Willkommen«, murmelte der Mann, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen.

»Ich habe Johanna Nygren mitgebracht«, sagte Birgitta. »Sie ist bei uns zu Besuch.«

»Willkommen, Johanna«, sagte der Mann.

»Danke.«

»Ich heiße Sven Niklasson.«

»Kannst du etwas erkennen?«, fragte Birgitta.

»Die Sicht ist ausgezeichnet«, antwortete Sven. »Ich habe heute schon einige Mitteilungen empfangen, und es kommen sicher noch mehr.«

»Johannas Vater war mit auf dem Postboot, das in den Sturm geraten ist«, sagte Birgitta.

»Hmm«, murmelte Sven.

Birgitta begann, die mitgebrachten Speisen aus dem Korb zu nehmen. Sie stellte sie auf einen kleinen Wandtisch im Raum.

»Möchtest du einmal gucken?«, fragte Sven.

Johanna antwortete nicht, da sie glaubte, Sven spreche mit Birgitta. Als Birgitta nicht reagierte, war sie zunächst erstaunt und dann etwas unschlüssig.

»Komm«, sagte Sven und winkte mit der Hand in Johannas Richtung. Sie ging zu Sven. Er fasste sie an der Schulter, rutschte etwas von dem Rohr weg, das aus der Wand ragte, schob sie näher heran und zeigte darauf.

»Schau in das Fernrohr«, sagte er.

Johanna setzte sich auf den Stuhl, streckte sich etwas, um auf gleicher Höhe mit dem Fernrohr zu sein, drückte ihr Auge vorsichtig gegen den Ring, sah etwas Verschwommenes, Flimmerndes, Unverständliches.

»Was siehst du?«, fragte Sven.

»Ich weiß nicht.«

»Warte einen Augenblick, es wird langsam deutlicher, es dauert immer eine Weile, wenn man nicht daran gewöhnt ist.«

Johanna wartete, sah das, was undeutlich gewesen war, jetzt etwas weniger verschwommen. Die Konturen wurden deutlicher, ein Bild trat hervor, kleine Vierecke in Reihen übereinander, verschwommen, um sie herum zitterte es, aber sie sah auf jeden Fall etwas.

»Wie viele Vierecke kannst du erkennen?«, fragte Sven.

Johanna zählte langsam, zählte noch einmal.

»Fünf Stück«, sagte sie.

»Und wie sind sie zueinander angeordnet?«

»Rechts stehen zwei übereinander, unten in der Mitte ist eines, und zwei mit einem kleinen Loch in der Mitte befinden sich auf der linken Seite.«

»Ausgezeichnet«, sagte Sven. »Du hast deine erste Beobachtung gemacht, mein Mädchen, du kannst dich jetzt Signalistin nennen, wenn du willst.«

Er schob Johanna beiseite, nahm ihren Platz ein und saß eine Weile schweigend da.

»Ja, es stimmt, was du gesagt hast«, sagte er dann, »jetzt werde ich denen auf Signilskär mitteilen, dass wir ihre Nachricht erhalten haben.«

Sven verließ seinen Platz am Fernrohr, ging quer durch den Raum zu einer Stelle, an der ein ganzes Bündel Drähte aus den kleinen Löchern im Dach kam. Die Drähte waren an Tasten befestigt, Holzklappen und Rahmen, ganz hinten befand sich ein großer eiserner Griff.

Sven drückte langsam einige der Tasten nach unten, dann noch ein paar. Als er die Einstellungen beendet hatte, drückte er den Griff mit dem Fuß hinunter. Die Tasten wurden alle gleichzeitig gestreckt, von oben kamen Geräusche, die sich anhörten, als ob ein Bündel Holzstücke gegeneinander geschlagen wurde, schnell, dann war es wieder still.

»Jetzt wissen sie, dass wir ihre Nachricht erhalten haben«, sagte Sven, »ich habe dieselbe Botschaft zurückgesendet, das macht man so. Jetzt werden wir sehen, ob noch mehr kommt.«

Er ging wieder zurück zu seinem Fernrohr, drückte das Auge gegen den Ring, atmete durch die Nase. Johanna konnte seine langsamen, zischenden Atemzüge hören.

»Das kann dauern,« murmelte Sven. »Die Signalarbeit besteht hauptsächlich aus Warten, Stunde um Stunde.«

»Wie lange kannst du denn hier sitzen, ohne dass dir die Augen weh tun?«, wollte Johanna wissen.

»Wir sind hier zwei Leute, die einander abwechseln. Harald kommt jeden Augenblick zurück, er ist nur für einen Moment nach draußen gegangen.«

»Weißt du etwas über das Postboot?«, fragte Johanna. »Sie haben es geborgen, aber Menschen waren nicht an Bord, das ist alles, was ich weiß. Die Tasche war noch da, die Post war feucht, aber unbeschädigt.«

»Vater hat sich in Sicherheit gebracht«, sagte Johanna voller Überzeugung.

»Lass es uns hoffen.«

Sven sah müde aus oder eher betrübt.

Als sie zurückgingen, war es windig, die niedrigen Wipfel der Kiefern schwankten hin und her.

Johanna wandte sich um und betrachtete das Telegrafenhäuschen. Jetzt sah sie auch das Fernrohr, das herausragte und in eine Holzverkleidung eingebaut war. Es war erstaunlich, wie weit man mit dem Fernrohr sehen konnte. Die Telegrafenstation auf Signilskär war von hier aus mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen, aber mit Hilfe des Fernrohrs konnte man die Zeichen auf der Signaltafel dort deuten.

Sie gingen schweigend nebeneinander her. Johanna hatte noch die kleinen, zitternden Vierecke vor Augen, die sie durch das Fernrohr gesehen hatte.

Es waren Zeichen, und sie erzählten etwas, was nur der Eingeweihte verstehen konnte; es erinnerte an Wörter in einem Brief, allerdings auf eine andere Weise, diese Wörter flogen über das Meer wie nichts, so als ob es keine Entfernung gäbe. Es war schwindelerregend, es war kaum zu verstehen, obwohl sie es mit eigenen Augen gesehen hatte.

Als sie ins Posthaus zurückgekommen waren, setzten sie sich wieder in die Küche.

»Du hast gesagt, dass du bald vierzehn wirst«, sagte Laura.

»Ja, zwei Wochen nach Neujahr«, antwortete Johanna.

»Wir brauchen im Posthaus eine Kleinmagd, wäre das etwas für dich?«

Johanna wusste nicht, was sie antworten sollte, Arbeit, richtige Arbeit, vielleicht bezahlte, eigenes Geld. Es kam viel auf einmal auf sie eingestürmt.

Sie sind wie wir

Als Johanna das Posthaus verließ, hatte es sich eingetrübt, und der Wind wehte vom Meer her. Sie steckte die Hände in die Ärmel ihrer Jacke, ballte die Fäuste zusammen, ging mit gesenktem Kopf und hatte das Umschlagtuch bis unter das Kinn gezogen. Sie ging zum Hafen hinunter.

Ein Stück vom Strand entfernt standen drei Männer um ein umgedrehtes Boot herum. Sie bearbeiteten den Kiel, hämmerten und schlugen. Johanna blieb in einiger Entfernung stehen und sah zu. Einer der Männer nickte, sie kannte ihn, es war Magnus Eriksson vom Hof Södergården in Byholma. Die anderen waren ihr unbekannt, sie nahm an, dass es die Postzusteller aus Tomta, dem nächsten Dorf südlich von Grisslehamn, waren.

Der Bootskiel bestand aus einer langen, breiten Planke, die mit einer Eisenschiene beschlagen war. Johanna hatte solche Boote schon gesehen, sie wusste, dass es ein Eisboot war. Sie brachten es wohl für den Winter in Ordnung.

»Habt ihr etwas gehört?«, fragte Johanna.

»Nein, nichts Neues«, antwortete Magnus vom Hof Södergården.

»Ja, das war ja dein Vater«, murmelte einer der Männer aus Tomta.

»Er war ein tüchtiger Mann«, sagte der andere.

Sie drehten das Boot um. Es hatte niedrige Freiborde, der Steven war mit Blech verstärkt.

Er war ein tüchtiger Mann, hatte der eine gesagt, aber Johanna machte sich nicht die Mühe, ihm zu widersprechen. Die Schweine befanden sich noch draußen in einem Pferch, die alte Sau und drei Ferkel. Es war Johannas Aufgabe, sie bis zur Schlachtung zu versorgen, zuzusehen, dass sie zu fressen hatten; das bedeutete, Wasser in den Trog zu schütten, wenn es nicht regnete, und Futter im Spätherbst, wenn sie sich nicht mehr selbst von dem ernähren konnten, was sie aus der Erde wühlten.

Jetzt harkte sie unter den Eichen unten an der Heuwiese. Sie sammelte Eicheln und Eichenblätter in Haufen zusammen, füllte sie in einen Spankorb und wenn der Korb halbvoll war, trug sie ihn nach Hause. Der Boden war lehmig, ihre Schuhe wurden nass, die langen braunen Strickstrümpfe wärmten kaum, wenn sie feucht waren.

Sie leerte den Korb in der Scheune aus; dort gab es eine Bütte mit einem Holzdeckel für das Schweinefutter: Laub, Kartoffelschalen, Erbsenschoten, Dinge, die übrig blieben und die trotzdem verwendet werden mussten.

Als der letzte Korb ausgeleert war, legte sie den Deckel auf und blieb einen Augenblick stehen, um sich auszuruhen. Da hörte sie, wie sich jemand hinter ihr in der Dunkelheit bewegte. Sie wandte sich um, erkannte den Geruch und wusste, dass es Filip war. Sie trat einen Schritt zurück, er kam auf sie zu und packte sie am Handgelenk, war ganz nahe, er roch ungewaschen, und der Branntweingestank schlug ihr entgegen.

Sie zog und zerrte, und es gelang ihr, sich loszureißen. Sie machte schnell ein paar Schritte rückwärts zur Tür hin, drehte sich um, lief über den Hofplatz und machte nicht eher Halt, als bis sie die Haustür erreicht hatte.

Den Rest des Tages versuchte sie, ihm auszuweichen.

Abends gab es gebratenen Salzhering und Roggenbrot, Johanna und ihr Bruder tranken Milch, die Älteren tranken Wasser, die Brüder ihrer Mutter einige Schnäpse, und sogar die Großmutter nippte etwas am Branntwein. Johanna spürte wieder den ekelhaften Geruch, den Filip, der ihr gegenübersaß, verbreitete. Der Tisch war schmal und lang, und sie waren nur einen guten Meter voneinander getrennt. Er sah sie an, glotzte, und obwohl sie den Blick auf den Tisch geheftet hatte, wusste sie, wie seine dunkelbraunen, schadhaften Zähne aussahen, wenn er damit die Essensreste einsaugte, diesem Geräusch konnte sie nicht entgehen, auch wenn sie nicht hinsah.

Ruben saß auf derselben Seite des Tisches wie Johanna. Der Platz rechts am Kopfende war leer, das war Vaters Platz. Johanna blickte mehrere Male zum Platz des Vaters hin, und Filip beobachtete sie dabei.

»Er kommt nicht mehr«, sagte er.

»Das weißt du doch nicht.«

Johannas Antwort kam schnell, sie sprach mit lauter, scharfer Stimme, betonte jedes Wort.

»Einbildung«, murmelte Filip.

Mehr wurde diesmal nicht gesagt. Johanna fühlte einen Hass in sich aufsteigen, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte. Sie blickte hinunter auf ihren Teller und wusste, dass Filip grinste. Alle saßen stumm da. Nach einer Weile brach Ruben das Schweigen.

»Wir werden eines der Ferkel schon jetzt schlachten«, sagte er.

Johanna warf einen verstohlenen Blick auf Lars. Sie wusste, dass ihr kleiner Bruder das Schlachten nicht mochte. Im letzten Jahr hatte er sich gedrückt, aber das hatte nur Johanna bemerkt, er war noch so klein gewesen, dass niemand seine Hilfe verlangt hatte. Jetzt sah Johanna, dass Lars dem Gespräch am Tisch nicht weiter zuhören wollte, er sank ein wenig in sich zusammen, wand sich so, als ob er aufstehen und gehen wollte, aber das hätte sich nicht geschickt.

Vielleicht hatten die Onkel auch Lars‘ abweisenden Ausdruck bemerkt. Das war provozierend, der Junge sollte natürlich wie alle anderen bei der Arbeit helfen. Er war noch ein Kind, aber etwas konnte er doch schon tun, und er durfte am Tisch keine Grimassen ziehen, wenn die Erwachsenen über die notwendigen Verrichtungen auf dem Hof sprachen, die Alltagsarbeiten, die Essen auf den Tisch brachten.

»Es wird Zeit, dass Lars mithilft«, sagte Filip. »Er kann sich um das Blut kümmern. Dafür braucht man nur eine sichere Hand, das ist nicht schwer.«

»Ja, gut«, sagte Ruben. »Morgen Vormittag geht es los, nicht wahr, Lars?«

Er blickte Lars an, der nicht antwortete, sondern niedergeschlagen und etwas verwirrt aussah.

»Antworte deinem Onkel«, sagte Maria.

»Morgen Vormittag«, wiederholte Ruben.

Der Morgen war grau und diesig, aber es war windstill, so wie es oft im November ist, wenn der Nebel vom Meer kam.

Johanna war diesmal nicht als Erste aufgestanden. Als sie hinausging, sah sie, dass Lars schon draußen auf dem Hofplatz war. Er kniete dort und war mit irgendetwas beschäftigt; als Johanna kam, hörte er auf, erhob sich und verschwand im Haus.

Sie warteten, bis es hell wurde, gaben dem Pferd Heu, reparierten Geräte, Johanna melkte die beiden Kühe, sie frühstückten. Dann gingen die beiden Brüder ihrer Mutter zusammen mit Lars hinunter zum Schweinepferch. Der Junge bat, eine andere Arbeit verrichten zu dürfen, aber niemand hörte auf ihn, warum sollte er nicht die Arbeit ausführen, die ihm zugeteilt worden war?

Sie wählten das größte Ferkel aus, jagten es in eine Ecke des Pferches, was eine ganze Weile dauerte, Filip fiel hin, schlug sich den Ellbogen auf, wurde wütend, schrie Lars an zuzupacken. Als sie das Ferkel gefangen hatten, schleiften sie es nach vorne, hielten es am Schwanz und an den Ohren fest.

Die Schlachtbank war im Pferch aufgestellt. Ruben drückte den Kopf des Ferkels hinunter, Filip reichte Lars den Eimer, hob die Axt und schlug sie dem Ferkel hart auf den Kopf. Das Tier zuckte, zitterte, blieb still liegen. Filip schnitt ihm die Kehle durch, befahl Lars, die Schüssel darunter zu halten.

Lars stand wie versteinert da, das Blut floss auf die Erde. Filip schrie Lars an, er fluchte und brüllte. Lars weinte, aber er rührte sich nicht. Da schlug Filip ihm mit der Hand ins Gesicht. Der Junge fiel um, Filip nahm die Holzschale, drückte sie unter den Kopf des Ferkels und ließ das Blut, das noch übrig war, hineinfließen, rührte gleichzeitig mit einem Holzstück darin herum. Der Boden war klebrig und dunkelrot, es war viel verloren gegangen.

Lars lag noch auf dem Boden und schluchzte, die Onkel kümmerten sich nicht um ihn. Als das Blut versiegt war, standen sie noch da, Filip rührte die ganze Zeit über, ließ die letzten Tropfen in die Schale tropfen.

Dann hoben sie das Ferkel auf einen Karren und zogen ihn in die Scheune, wo das erhitzte Wasser wartete. Jetzt sollte das Ferkel abgebrüht werden. Das Zerlegen konnte dann bis zum nächsten Tag warten.

Sie arbeiteten schweigend und schnell mit dem kochend heißen Wasser, gossen es über das behaarte Ferkel, schabten es mit scharfen Holzstücken ab, entfernten die Haare und die äußere Haut, legten die glatte Schwarte frei. Es kümmerte sie nicht, dass Lars verschwunden war.

Nach einer guten Stunde spülten sich die beiden Männer in der Wassertonne an der Hausecke ab. Dann gönnten sie sich einen Schluck, den zweiten an diesem Tag. Sie unterhielten sich über das Ferkel, darüber, was man davon behalten wollte und was sofort frisch an das Posthaus verkauft werden sollte.

Johanna war bereit, ihrer Mutter zu helfen. Sie hatte schon öfters Tiere ausgeweidet, im letzten Jahr hatte sie sich dabei in den Finger geschnitten, die Wunde war nur langsam verheilt. Sie hatte noch eine Narbe am Zeigefinger der linken Hand.

Als sie um die Mittagszeit auf den Hofplatz hinausging, blieb sie bei den Büschen stehen, wo Lars runde Steine vom Strand nebeneinander gelegt hatte. Johanna sah, dass er etwas geschrieben hatte. Sie beugte sich nieder, las Buchstaben und Wörter: »SIE SIND WIE WIR«, stand dort.

Vier kurze Wörter, mit Kohle auf die abgeschliffenen Steinflächen geschrieben, eine unregelmäßige Reihe, eine Botschaft.

Johanna überlegte, wo Lars sein könnte, sie wollte ihn fragen, was er mit diesen Wörtern meinte. Sie suchte ihn drinnen im Haus, fragte Maria, aber auch sie wusste nicht, wo der Junge war.

Spät am Abend, als es dunkel war, kam Lars nach Hause. Sie hatten ihn im Wald und am Strand gesucht. Sie hatten sogar in der Nachbarschaft gefragt.

Als er kam, sagte er nichts. Johanna fragte, aber er wollte nicht antworten. Unter Schweigen aßen sie eine verspätete Abendmahlzeit. Ehe sie schlafen gingen, trat Johanna wie immer noch einmal auf den Hof hinaus; sie wartete dort auf Lars, und als er kam, fragte sie ihn, was die Wörter bedeuteten.

»Sie sind doch genau wie wir«, flüsterte er.

Jetzt verstand Johanna, was er meinte. Die Art, wie er flüsternd die Wörter betonte, führte dazu, dass sie verstand.

961,67 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
452 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783941895539
Переводчик:
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают