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Ein Name: Old Firehand, die alte Feuerhand. Er entsinnt sich einer Figur im »Wildtöter«, des Jägers Hurry March, und nimmt einen Band vom Regal. Er möchte sich einfühlen, diese Methode ist bewährt: Atmosphäre aufnehmen und mit ihr der eigenen Phantasie Raum geben. Er liest: »Auf diese Aufforderung kam der Jäger zu seinem Begleiter heran, und beide machten sich mit gutem Bedacht und nach allen Regeln ans Werk, als Männer, welche an diese Art von Treiben und Geschäft gewöhnt waren. Zuerst entfernte Hurry einige Stücke Rinde, welche vor der großen Öffnung an dem Baum lagen, und von welchen der andere behauptete, sie seien so gelegt, daß sie eher die Aufmerksamkeit …« Old Firehand steht schwer und massig vor einer Waldkulisse, vor ihm liegt ein breiter Wasserspiegel, Old Firehand stützt sich auf seine Büchse, wenn er nachdenkt – nein, das nun doch nicht. May pfercht den Band zwischen die übrigen Bände – er braucht Raum, muß aus diesem Zimmer fort, ein Haus ersehnt er, an der Tür ein Messingschild: Dr. Karl May. Emma öffnet: Mein Mann ist für niemanden zu sprechen.

Old Firchand reitet, das Pferd ist von Indianern einem Spanier gestohlen worden, Old Firehand hat seine Schwierigkeiten mit ihm. Wie sind Pferde in Mexiko aufgezäumt und gesattelt? Kein Buch darüber steht in seiner Bibliothek, er wird Lauferei haben. Ein Atlas, ja: White Oaks, die einsame Siedlung nördlich von Fort Stanton, ein namenloses Flüßchen zieht sich ostwärts zum Pecos River hinunter. May tauft es: Wichata River. Buchen ragen an seinem Ufer, das Gras ist niedrig nach einem Brand, Sonnenglast brütet über allem.

Er nimmt den Zwicker ab und legt ihn vor sich aufs Papier, drei Buchstaben werden groß und verzerrt unter einem Glas sichtbar. Vier Seiten noch, und morgen nacht fünfzehn, und nächste Woche werden sie gedruckt. Old Firehand im »Deutschen Familienblatt«. Vielleicht schreibt er danach eine Fortsetzung zum »Stücklein vom alten Dessauer«. Als Kind hat er Puppenspieler gesehen, die aus bunter Kiste in Windeseile zum Leben erweckten, was sie brauchten: Krokodil, Gendarm, König. Er hat sich selbst Puppen geschaffen, die auf Abruf in seinem Hirn warten; Old Firehand gehört dazu. Ein Arsenal, in ihm aufgereiht Deutsche und Engländer, Indianer, Perser, Wüstensöhne, Forscher, ich lasse meine Puppen agieren und stelle sie zurück bis nächstes Jahr. Ein Stück habe ich mit ihnen aufgeführt und verquicke es mit einem anderen zu einem dritten. Ich schaffe das andere Ich, das Traum-Ich von Waldheim, lasse es reiten, schießen. Waffen gebe ich ihm, welche? Ein Deutscher reitet im Westen, das Ich reitet im Westen, ich reite, um Steine und Pflanzen kennenzulernen. Meine Waffen sind vorzüglich, man hält mich für ein Greenhorn, aber ich schieße mit meinem schweren Gewehr nach einem weißen Stein, den das Auge kaum wahrnimmt, er zerspringt in tausend Stücke. Old Firehand schenke ich eine Tochter, ihr begegne ich in der Wüste, sie heißt Ellen. Aus Waldheims Nächten: Swallow, mein wackerer Mustang.

In der Schublade liegen Briefe aus Ernstthal. »Großvater schläft, bei einer Kerze schreibe ich heimlich. Jetzt werden wohl auch Sie über Papier sitzen. Oh, welch herrlichen Beruf haben Sie sich erwählen dürfen!« In einem anderen Brief: »Ein Tag ist hier wie der andere. Gestern war ich bei Mine, wir haben viel über Sie gesprochen. Wenigstens einen Tag lang möchte ich in Dresden sein.« In einem dritten: »Ich war ja so glücklich, als mir Mine Ihren Brief gab. Diese wundervollen Formulierungen.«

Umbruchtag: Er beugt sich über Kästen mit Lettern, inzwischen hat er gelernt, bleierne Spiegelschrift zu lesen. Manche Nummer übergibt er dem Druck, ohne daß Münchmeyer ein Wort dazu gesagt hätte. Der Verleger sitzt bisweilen schon von Mittag an in Rengers Gasthaus und liest Zeitung. Kleinkrieg gegen die Türken in Bosniens schwarzen Bergen. Fünfzehn Jahre lang wird am Suezkanal geschachtet seit dem ersten Spatenstich des Ferdinand von Lesseps, jetzt wirft der Khedive Ismail seine Kanalaktien auf den Markt. Bismarck erklärt, eher werde er einen Präventivschlag gegen Frankreich führen, als sich von einem Angriff überrumpeln zu lassen. Neben Münchmeyer schlägt ein Glatzkopf auf den Tisch: Nochmals nach Paris und diese verhurte Stadt an allen Ecken anbrennen! Und zwischen Frankreich und Deutschland einen zehn Meilen breiten Grenzwald wuchern lassen mit Wölfen und Bären darin, wie das Weiland Turnvater Jahn vorgeschlagen hat. Münchmeyer erregt sich nicht, sein Verlag rentiert sich trotz des kurzatmigen Auf und Ab der Börsenkurse. Sollte er für den Fall, daß es Krieg gibt, Papiervorräte einlagern? Wenn ihn jemand nach Einzelheiten fragt, winkt er ab: Das erledigt May. Den hat er nun endlich ganz für sich, die Polizeiaufsicht ist aufgehoben.

Münchmeyers ziehen um, eine größere Wohnung ist gefunden mit Parkettfußböden und einem Erker, in den Pauline eine Palme postiert. Nachmittags setzen sich die Schwestern an den Küchentisch, trinken Kaffee aus Henkeltöpfen und tunken Pflaumenkuchen ein. Breit haben sie die Unterarme aufgelegt, ungehemmt sächselnd hecheln sie ihre Umgebung durch. Regelmäßig haken sie sich bei May fest. Merkwürdig, daß er keine Freundin hat. Irrsinnig, wie er schuftet. Wer den zum Mann kriegt, muß ihn sich hinbiegen, aber dann hat sie’s wunderbar. Gerade Männer wie er sind am leichtesten am Bändel zu halten. Mit Münchmeyer ist es schwerer, aber auch den kriegt Pauline immer wieder unter. Wie? Sie verrät Rezepte, anzuwenden auf dem Kopfkissen. »Kommst auch noch dahinter, Schwesterchen!« Minna Eys Nase glänzt vor Aufregung und Scham. »Minna, wir schleppen May mit auf einen Ball!«

Später lesen sie Bohnen aus, dabei singen sie:

»Wohl blinket so silbern der Mondenschein,

doch düster und eng ist mein Kämmerlein,

für mich wächst nichts auf dem grünen Feld,

dem meine Hände den Acker bestellt!

Ach freilich konnt’ es nicht anders sein,

so seufzet das arme Mütterlein.«

Der Ballbesuch wird arrangiert von Pauline Münchmeyer über ihren Mann, May sträubt sich, der Chef drängt: Gehört auch zum Leben, May! Gutbürgerlich gehe es zu in der »Liedertafel«, ein Speiseball sei es, Weinzwang, nun ja. Smoking, ach wo. Minna fragt über den Setzkasten hinweg: Und was meinen Sie, was ich anziehen soll – das Kleid, das ich anhatte, als Sie bei Münchmeyers waren? Er bewahrt nicht die geringste Erinnerung, was Minna damals trug. Eine Quadrille soll getanzt werden – haben Sie eine Ahnung? Er kennt nicht mehr, als auf Dorfsälen üblich ist, Walzer, Rheinländer, Polka, und auch das mehr vom Zusehen. »Ich habe sehr strenge Termine.« Minna Ey erinnert sich, welche Ratschläge ihr die Schwester gegeben hat, und neigt sich vor, die Bluse liegt nicht mehr am Hals an. May senkt den Blick aufs Blei.

Am Abend schreibt er nach Ernstthal: »Es gibt so viele Bücher, die ihre Spannung dadurch gewinnen, daß sie niedrigste menschliche Schwächen ausbreiten, die schamlos den Ehebruch abhandeln und den Menschen zum Tier erniedrigen. Ich will anderes! Auch die Ritterlichkeit, das Edle können so geformt werden, daß sie den Leser im Banne halten und ihn hinaufbefördern auf die Höhe derselben. Ich bin sicher, daß Sie diese Ansicht aufs innigste teilen.«

Münchmeyer und seine Frau kreisen ihn ein, er muß mit zum Ball der »Liedertafel«. Am Tag vorher leiht er sich schwarzen Anzug und weißes Hemd mit hohem Kragen. Die Verleiherin schmeichelt: »Steht Ihnen, Herr Doktor, sitzt wie angegossen!« Er stellt sich vor, er träte in einem Vortragssaal vor eine vielköpfige Menge seiner Verehrer. Eine Stimme: Und nun, meine Damen und Herren, spricht zu Ihnen der Reiseschriftsteller Doktor Karl May. Jetzt will er zu diesem Ball. Damals dieser blamable Antrittsbesuch bei Münchmeyers – ausgelöscht. Manchmal hat der Herr Verleger seinen Druckern den Lohn tagelang vorenthalten müssen, weil ein Loch in der Kasse klaffte. Zu einem Ball – was Münchmeyers können, kann er längst.

Vorher entwirft er einen neuen Anfang für »Old Firehand.« Da ist diese Passage wieder, aus einem Stapel von Manuskripten sucht er sie heraus. Sorgsam malt er die Übreschrift:

Old Firehand

Aus der Mappe eines Vielgereisten

von Karl May.

Coper hat jedem »Lederstrumpf«-Kapitel einen Vers vorangesetzt: Shakespeare, Scott und Byron. May dichtet selbst:

Der Frühling ging zur Rüste,

Ich weiß gar wohl warum:

Die Lippe, die mich küßte,

Ist worden kühl und stumm.«

Weiter mit jenem Satz aus dunkler Vergangenheit – doch nicht gleich, ein Übergang, schließlich:

»So klang es über die Ebene hin, und Swallow, mein wackerer Mustang, spitzte die kleinen Ohren, schnaubte freudig durch die Nüstern und hob graziös die feinen Hufe wie zum Menuett. Mit einigem Bedenken musterte ich meinen äußeren Adam, welcher mir allerdings nicht sehr kurfähig erschien. Die Mocassins waren mit der Zeit höchst offenherzig geworden; die Leggins glänzten, da ich sie bei der Tafel als Serviette zu gebrauchen pflegte, vor Fett; das sackähnliche, lederne Jagdhemd verlieh mir den würdevollen Anstand einer von Wind und Wetter malträtierten Krautscheuche, und die Bibermütze, welche mein Haupt bedeckte, hatte einen guten Teil der Haare verloren und schien zu ihrem Nachteile mit den verschiedenen Lagerfeuern Bekanntschaft gepflogen zu haben.«

Er wirft einen Blick auf den Leihanzug, der über dem Bügel hängt, damit wird er Figur machen. Damen werden fragen: Wer ist der Herr mit der hohen Stirn und dem wunderbaren dunkelblonden Haar?

»Aber ich befand mich ja nicht im Parkett eines Opernhauses, sondern zwischen den Black-Hills und dem Felsengebirge, und hatte auch gar keine Zeit, mich zu ärgern, denn noch war ich mit meiner Selbstinspektion nicht fertig, so hielt eine Reiterin vor mir, hob den Griff ihrer Reitpeitsche grüßend in die Höhe und rief mit tiefer, reiner und sonorer Stimme:

›Good day, Sir! Was wollt Ihr finden, daß Ihr so an Euch herumsucht?‹

›Your servant, Mistress! Ich knöpfte mein Panzerhemd zu, um unter den forschenden Blicken Eures schönen Auges nicht etwa Schaden zu leiden.‹«

Panzerhemd, das wird er auf dem Ball hinwerfen, wenn er mit einer Frau tanzt, die ein Kleid trägt, das die Arme frei läßt bis zur Schulter.

Am nächsten Tag reicht er Minna Ey den Arm und betritt nach dem Ehepaar Münchmeyer einen Saal, in dem an den Wänden entlang weißgedeckte Tische stehen, in der Mitte ist die Tanzfläche frei. Münchmeyer stellt vor: Herr May, mein Redakteur. May drückt Männerhände, beugt sich über Frauenhände; kein Auge brennt so, daß er vor ihm ein Panzerhemd verschließen müßte. In keinem Auge leuchtet Erkennen auf, Überraschung, Freude: Wirklich, Karl May? Minna ist fad, Pauline Münchmeyer lacht zu schrill, sein Verleger schwatzt hurtig hinter vorgehaltener Hand. Die Damen werden an den Tisch geleitet, Münchmeyer zieht seinen Redakteur zur Theke: Das Innenleben anfeuchten! Einen Doppelkorn muß er kippen, ehe er zwischen den Schwestern sitzt und sich anhören darf: Die dort drüben, Getreidehändler, stinken vor Geld, Juden, aber anständig soweit, evangelisch seit zwei Jahren. Der Lange da, Juwelier, der da, Postbeamter. Alles dritte Klasse, weiß Münchmeyer und blickt verdrießlich auf seine Schwägerin; den May dürfte sie schwerlich reizen in diesem Fummel. Die junge Jüdische dagegen mit ihren Kulleraugen. Drittklassig, keiner verirrt sich hierher, der auch nur im entferntesten mit dem Hof zu tun hätte, und wenn er nur die Besen für die königlichen Ställe lieferte. Keiner von der Oper etwa oder aus den Barockhäusern im Halbrund um das Schloß. Mist das alles, hier knüpft er keine Verbindungen an. Er kann doch nicht von Tisch zu Tisch buckeln und Abonnements für seine Zeitschriften anbieten.

Pauline Münchmeyer studiert die Menükarte. Über Emma Allesteins Kochbuch redet sie, das sie sich jüngst zugelegt hat, eine Fundgrube für jedes bürgerliche Haus. Mit dem Knie stößt sie ihre Schwester an, damit auch sie etwas zur Unterhaltung beitrage. Ochsenschwanzsuppe wird serviert, Münchmeyer beugt sich über den Teller und pustet. Ohne Widerhall bleibt Minnas halblauter Hinweis, auch Kerbelsuppe sei etwas Feines. May schabt Seezungenfleisch von Gräten und denkt: Daheim könnte ich an diesem Abend fünf Seiten schreiben: Ein Stück Büffelfleisch wird über züngelndem Feuer gebraten, in der Ferne heulen Schakale. Ein Tal wie das Tal Kulbub. Ragende Zypressen. Ellen. Er hat noch nie Hasenrücken gegessen und verrät es nicht. Er stellt sich die Reiterin im »Old Firehand« vor, Ellen, sieht sich mit ihr an einem Feuer, ein Hase schmort in rußgeschwärzter Pfanne. Das beste Stück für Sie, Miss! Ein Gedankenexperiment: Er malt sich aus, er träte mit Ellen in diesen Saal, er im Wildwestaufzug, sie in Stiefeln, peitschenknallend.

Münchmeyer verzieht das Gesicht, ein Backenzahn meldet sich mit jähem Schmerz, ein Stück Hasenbraten hat er aufgespießt und läßt die Gabel sinken. Auch das noch, der Abend ist verpfuscht; wenn die Zahnschmerzen nicht bleiben, dann doch die Ängste vor ihrem Wiederkommen. Vor allem: Wenn Minna kein Geschick hat, wird’s nichts mit May. Diesem Trottel muß man die Minna ins Bett stecken, ehe er etwas merkt. Der Schmerz flacht ab, vorsichtig kaut Münchmeyer auf der anderen Seite. Aufs Eis verzichtet er mit wehleidiger Handbewegung.

May tanzt mit der Frau seines Chefs, so übel gelingt das nicht. Sätze bilden sich in ihm, schreibfähig: Durch das lange fließende Seidenkleid, das von einem erstklassigen Schneider stammte, spürte er ihre Schenkel; er zog die schöne Frau an sich und hauchte ihr ins Ohr. Er haucht nichts ins Ohr von Pauline Münchmeyer; als der Tanz beendet ist, sagt sie: »Nun müssen Sie viel öfter mit meiner Schwester tanzen.«

Münchmeyer weist auf volle Weingläser: Trinken wir ex! War Quatsch, hierherzugehen, denkt er, ist Quatsch, Minna vorzuschicken, daß sie May an den Verlag bindet. Und wenn er selber nun den Verlag abstieße, sich in eine Aktiengesellschaft schmisse, mit anderen etwas auf die Beine stellte wie etwa Seidel und Naumann mit ihrer Nähmaschinenfabrik? »May, wenn wir beide umstiegen? Wenn wir Photopapier produzierten? Oder Kameras? Aber nun tanzen Sie endlich mit Minna!«

May legt den Arm um Minna Ey, dabei spürt er ihre Schulterblätter. Ellens Schultern und Arme stellt er sich straft vor vom Tragen der Wassereimer zu den Pferden hin. Emma Pollmers Arme hat er nie nackt gesehen, aber sich hundertmal nackt vorgestellt. Seine Befürchtungen vor diesem Ball, er könnte in blamable Situationen geraten, sind geschwunden. Irgendwann wird auch einmal dieser Ball in einer Erzählung auftauchen, natürlich nicht im Wilden Westen. Während des Tanzes singt Minna mit:

»Vergiß nicht unter fernem Himmel,

die alles gern um dich vergaß

und lieber als im Weltgetümmel

bei dir in stiller Laube saß.

Da hing mein Auge voll Entzücken

an deinem freundlichen Gesicht,

nun starret es mit düstern Blicken

und weint dir nach, vergiß mein nicht.«

Der Walzer klingt aus, May begleitet seine Dame an den Tisch. Münchmeyer flüstert: »Schmeißen Sie ’ne Runde Likör, macht Eindruck.« May bestellt und tanzt mit Frau Münchmeyer und wieder mit Fräulein Ey; als sie sich trennen, legt Minna für einen Augenblick den Kopf an seine Schulter.

Auf dem Heimweg wird Münchmeyer wieder vom Zahnschmerz geplagt, mißmutig schwafelt er über die Dividende, die Seidel & Naumann auswerfen. Hinter den beiden Männern stöckeln die Schwestern. May fragt seinen Chef: Könnte man den Umbruch vom »Familienblatt« vom Dienstag auf Montag vorziehen? Mehr Zeit bliebe für die Korrektur. Münchmeyer weiß: So wird das nichts mit Minna und May. Die Pistole auf die Brust? Ach, dieser dämliche Anfänger. Das beste Stück Weib auf dem Ball war die Tochter des Getreidejuden, ein Jammer, wenn man Frau und Schwägerin mitschleppen muß. Jaja, darüber reden wir noch, doch nicht jetzt. Dieser blöde May.

3

Emma Pollmer hat das Bauchfett von drei Gänsen kleinwürflig geschnitten und vierundzwanzig Stunden lang in kaltem Wasser gelassen, jetzt hebt sie es heraus und stellt es in einer Pfanne auf den Herd. Noch ein Scheit untergelegt – die Hände verrichten mechanisch, was Emma von einer Tante, von Nachbarinnen gelernt hat. Wenn das Fett klar ist und die Grieben gelblich-durchsichtig schimmern, wird sie alles durch ein Tuch seihen und das Fett in einem Tontopf aufbewahren; die Grieben kippt sie am Mittag, mit Zwiebel ausgebraten, über Pellkartoffeln.

Klopfen am Fenster in bekanntem Rhythmus, tam, tamta, tam, Schatten vor der Scheibe, ein Gesicht bückt sich herab, ein Schnurrbart, Handwinken: Fort ist Fritze Kalkmann die Gasse hinunter, Großvater wird ihn nicht bemerken, er hat Kundschaft. Es ist nicht gut, wenn Großvater sieht, daß ein Glasergeselle bei ihr klopft, der nie, das braucht ihr keiner vorzupredigen, Meister werden wird. Mit Fritz hat sie vor einem Jahr und einem Herbst dazu nach Grüna hinüber zwischen Fichten gelegen. Auf dem Heimweg sind sie nebeneinander gegangen, er hat beteuert: Brauchst dich nicht zu schämen und kriegst kein Kind, bestimmt nicht, und’s hat doch nicht weh getan? Ach, Fritz, und viermal in deiner Kammer.

Sie bindet Papier über den Topf und trägt ihn ins Gewölbe, legt im Herd nach und setzt Kartoffeln auf. In einer halben Stunde wird der Großvater den Messingteller von der Tür nehmen. Gedanken springen zu Bruno aus Chemnitz, hinterher hat er gesagt, er hätte es am Anfang eigentlich gar nicht gewollt. Wenn Großvater davon wüßte, würde er sie erschlagen. Mit Wilhelm Weißmann – das hat Großvater geahnt, womöglich ist es ihm sogar recht gewesen, Weißmann wird das Technikum in Mittweida besuchen. Emma bückt sich zum Eimer hinab, die Brust reibt am Hemd. Langsam richtet sie sich auf, wieder reibt die Borte die Brust.

Beim Mittagessen zeigt sich der Großvater mürrisch, sie weiß warum: Es gibt Ärger mit ihrem Onkel Emil in Chemnitz, Schulden hat er gemacht, an manchem Tag öffnet er seinen Barbierladen erst gegen neun, und auch dann, so behaupten Kunden, atme er noch Fusel aus. Das Geld, das Großvater seinem Sohn geborgt hat, wird er nie wiederbekommen.

»Kühnert war da.«

Sie weiß, warum der Großvater das hinwirft. Kühnerts Ältester schwebt ihm als Schwiegerenkel vor. Gastwirtschaft mit Ausspannung, solides Kapital steckt dahinter. Sie schiebt dem Großvater den Tiegel mit den Grieben hin. Hannes steht nie am Brunnen, Hannes zeigt sich auf keinem Tanzsaal. Eine Prügelei zwischen Fritze und Hannes Kühnert wäre die Sache von einer Minute. »Daß der immer so krumm geht.«

»Aber anständig ist er und fleißig.«

»Und riecht aus dem Mund.«

Pollmer stößt Knurrlaute aus, die sollen ausdrücken: Nun mach’s halblang. Eine Schönheit ist Hannes nicht, aber zur Heirat gehört mehr.

Anlauf, Mutmachen: »Herr May kommt Weihnachten her. Seine Schwester sagt, er verdient über tausend Taler im Jahr. Bloß als Redakteur! Und dann noch von seinen Artikeln …«

»Weißt nicht, ob’s stimmt.«

»Wenn Mine …«

»Und wie schneidet der alte May erst auf! Prahlhänse alle zusammen!«

»Holst du mir die Stollenbretter vom Boden?«

Der Alte brummt; wie jedesmal nach dem Essen zerrt er an den Fingern, daß die Gelenke knacken. Emma stößt den Schemel zurück. Sie denkt: Blöder Trottel, soll sich in seinen Laden scheren, soll sie mit Kühnert in Ruhe lassen. Wenn sie will, brennt sie nach Dresden durch, sie kriegt jeden, sie braucht bloß …

Als sie sich umblickt, sieht sie, daß ihr Großvater mümmelnden Mundes vor sich hin starrt.

»Holst nun die Bretter?«

»Ja doch.«

»Oder muß ich alles machen!« Aufschrei: »Ich bin doch nicht deine Magd!«

Pollmer möchte ihr einen Schlag versetzen – wer ist denn der Herr im Haus! Aber wen hat er schon noch, doch bloß Emma, alle Hoffnung hängt an ihr; Emil wird ihn wieder anpumpen, er wird ihm geben, wie er immer gegeben hat. Pollmer klettert die Stiege hinauf, seine Knie schmerzen. Wenn er doch alles richtig machen würde, wenn er doch in die Zukunft schauen könnte! Er greift in Staub, durch eine Ritze zwischen Dachschiefern sickert Licht.

Vor Weihnachten fällt Schnee, Kinder rodeln den Markt hinunter. Emma bäckt, wischt, für zwei Abendstunden findet sie Zeit, ihre Freundin zu besuchen. Auf Umwegen tastet sie sich heran: Hat Karl unterdessen eine Braut? Und: Wieviel verdient er wirklich? Wilhelmine lacht. »Hast Feuer gefangen? Ist wohl nichts dran, was die Leute reden, du und Fritze?« Am Ende, an der Haustür, schlägt Wilhelmine vor: »Besuchst uns Weihnachten!«

Am zweiten Feiertag sitzen das Ehepaar Schöne, Emma, ein Cousin des Meisters mit seiner Frau und der Redakteur May beim Stollen. Von der Möglichkeit ist die Rede, aus Erzbergwerken silberhaltige Brocken beiseite zu schaffen und über einen Hehler zu jemandem zu bringen, der es ausschmilzt, in einer Waldhütte vielleicht, im Keller, im Waschschuppen. May, der in der Vorwoche für seine Geographischen Predigten in Lexika nachgeschlagen hat, meldet Bedenken an: Silber schmilzt bei 960 Grad, Zinn schon bei 231 – ob da nicht das wertlosere Zinn ausfließe, das Silber aber verstocke? Und wer könne schon mit primitiven Mitteln so hohe Temperaturen erzeugen? Über diesen Einwand gehen die anderen mit abenteuerlichen Erzählungen hinweg, was früher, als der Bergbau noch blühte, da und dort vorgekommen sei. Emma warnt: Erzählt nicht zuviel, eines Tages steht’s in einer Zeitschrift! May lacht am lautesten.

Der Cousin und seine Frau verabschieden sich bald; Kinder müssen ins Bett gebracht werden. May und Emma Pollmer brechen nach dem Abendbrot auf. Kurz ist der Weg bis vor ihre Haustür, dort kehren sie um, biegen in eine Gasse ein und küssen sich im ersten Torbogen. Sie fragt: »Hast eine in Dresden?«

»Hast einen hier?«

Heftig schüttelt sie den Kopf.

»Besuchst mich in Dresden?«

Großvater würde nie einwilligen, antwortet sie, sie käme gern, sofort!

»Mit zu mir hinauf?«

»Aber wenn deine Eltern was merken!«

Ein Disput, wie er ihn ohne Mühe schreiben könnte. In seiner Phantasie hat er ähnliches durchgespielt, jetzt ist er nicht verwundert, daß diese Szene wie eingeübt abläuft und er seinen Part darin beherrscht. Vielleicht morgen? Und wenn die Treppe knarrt – das tut sie auch, wenn er allein hinaufgeht. Sie kann nichts versprechen – der Großvater, und daß du nicht schlecht von mir denkst, Karl! Ach wo, du, das doch nicht.

Am nächsten Tag hofft er, daß sie käme, daß sie bliebe. Schon das Spiel ist erregend, das Erwägen, Ausspinnen. Die Unterhaltung vom Vorabend hat ihn inspiriert zu einer neuen Geschichte; den Vater fragt er aus nach Begriffen, die er von ungefähr kennt: Kux, Gewerkschaft, Huthaus. Ein Mädchen wie Emma in dieser Erzählung, ein junger Mann, charakterlich vorgefertigt im Schornsteinfegermeister Winter; eine Steigersfrau will ihre Tochter gut verheiraten, die Älteste könnte Baronin werden.

Für neun Uhr abends hat sie ihn an die Hinterpforte bestellt; da schläft Pollmer, durch den Garten will sie huschen. Schnee knirscht; als May Schritte hört, flüchtet er aus der Gasse, schleicht wieder hinein. Die Ratshausuhr schlägt. All das erlebe ich, meint er, um es schreiben zu können. Wenn sie nicht kommt, werde ich schildern, wie in einem wartenden Liebhaber alle Hoffnung zerrinnt. Ferdinand soll er heißen, ein ehrlicher Steiger soll er sein.

Gekünsteltes Husten hinter der Tür, er flüstert: »Ich bin’s, ich warte.« Emma flüstert zurück, sie könne unmöglich kommen, der Großvater sei noch wach, sie habe nur Asche auf den Hof getragen und müsse sofort zurück. Morgen vielleicht, morgen abend besuche sie auf einen Sprung ihre Freundin. »Biste dort, Karl?« »Ja, gern.«

»Bist mein liebes Hühnchen. Und sei nicht bös.«

Am nächsten Morgen beginnt er eine neue Geschichte: »Auf einer Bank vor dem Huthaus saß ein stattlicher Greis im Bergmannskittel zur Seite eines jungen, einfach bürgerlich gekleideten Mädchens von ausnehmender Anmut, einer kleinen Gestalt, aber von zierlichem Bau, einer bewunderungswürdigen Vereinigung von Zartheit und Fülle. Während sie emsig strickte …«

Die Mutter bewundert ihren Sohn, sie versteckt es hinter Nörgeln: »Mußte denn auch Weihnachten schreiben, Karle!«

»Wenn mir die Geschichte grad eingefallen ist!«

»Pollmers Emma, gefällt sie dir?«

»Wär’ sie dir recht?«

»Schon, Karle. Aber bist so viel älter.«

Am nächsten Abend wartet er vor Schönes Haus; als Emma kommt, schiebt er seine Hand unter ihren Arm. »Wir gehen ein Stück.« Ihm fällt ein, was er geschrieben hat: Eine bewunderungswürdige Vereinigung von Zartheit und Fülle.

»Und wenn uns die Leute sehen?«

»Macht doch nichts.«

»Dir nicht, Karl, lebst ja nicht hier. Aber ich will nicht ins Gerede kommen.«

»Und wenn wir uns verloben?« »Karle, Hühnchen!«

»Sag nicht Hühnchen, bitte.«

Emma küßt ihn wild. »Müßtest mit Großvater reden, ich bin ja nicht großjährig.«

»Ja, Emma, ja!« Wie in seiner Geschichte findet er das beinahe, als der junge Steiger Ferdinand – nein, Steiger soll er nicht sein, die Schule besucht er abends noch nach schwerer Arbeit im Schacht – als der junge Ferdinand den reichen Dingsda um die Hand seiner Tochter …

»Und wann?«

»Was, wann?«

»Wann du mit Großvater redest?«

Umschlungen gehen sie weiter, einen Bogen schlagen sie durch Gärten und an Höfen entlang, am Ende ihres Weges liegt das Maysche Haus. Nirgendwo brennt Licht, er schließt auf und schiebt Emma hinein, gleich hinter der Tür zieht sie die Schuhe aus. Seine Schritte knarren auf der Treppe, im Gleichschritt folgt Emma, mit dem Prusten kämpfend. Zu komisch findet sie das, wie er die Kerze trägt und den Finger an die Lippen drückt. Die Zwickergläser beschlagen, er muß den Zwicker abnehmen und findet die Rocktasche nicht gleich.

Kalt ist das Bett, sie strampelt und schüttelt sich. »Wärm mich doch endlich!« Er starrt auf ihre Nasenspitze, bis zu der die Decke hochgezogen ist. »Ich möchte dir noch sagen …«

»Aber wirst doch ganz kalt, Karl!«

Das Bett ist schmal für zwei. So ist das also, denkt er. Anders als in den Träumen, natürlich. Eigentlich müßte es nicht sein. Es müßte nicht Emma sein. Es kann Emma sein, aber nicht Minna Ey.

»Du?«

»Ja?«

»Es ging ja so schnell. Bist mein Hühnchen. Bist auch rechtzeitig raus?«

»Bestimmt. Und ich red mit deinem Großvater.«

»Bist mein Hühnlein. Mein Hühnchen. Mein Hühnlichen.«

Jetzt prustet auch er. Nach einer Weile: »Möchtest du Kinder?«

»Nicht so eilig. Du?«

»Ja, aber auch nicht gleich.«

Er schiebt die Arme unter der Bettdecke heraus, ihm wird warm. Eine Geschichte hat er begonnen, das erzählt er, obwohl Münchmeyer schon gequengelt habe: Ist ja fast alles von Ihnen, was im »Deutschen Familienblatt« steht! »Ich muß ja nicht jedes mit einem Namen zeichnen. Soll ich mal drunterschreiben: E. P., Emma Pollmer?«

Sie zwickt ihn, rasch zieht er die Hände unter die Decke und wehrt sich.

»Hühnlichen, ich muß fort. Zündst noch mal die Kerze an? Karle, und nächtes Mal, ziehste da die Unterhosen aus?«

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Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
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470 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783954627240
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