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»Brüllen Sie es! Hinausschreien!«

»Wo denn hinaus?«

»Aus dem Forsthaus hinaus!«

»So! Auch noch!«

»Ja, ja!«

Er braucht jetzt nicht das Belebende, Aufpeitschende des Tabakrauchs, er muß die Hand nicht zwingen, leserlich zu bleiben. Keinen Blick wirft er auf das Geschaffene, weiter! Ein Kind stirbt an den Blattern, weil Mund und Nase verkrustet sind – hat er in blinder Kindheit so etwas gehört? Die Großmutter sprach darüber mit einer Nachbarin? Ein Kind ist erstickt, bei den Geschwistern schneidet der Arzt durch die Blattern hindurch. Milch soll den Kindern eingeflößt werden, Bouillon. Aber es gibt keine Milch und kein Geld, die Kinder werden sterben. »Mit einem wilden Aufflackern riß der unglückselige Vater die schmutzstarrenden Bündel … Ein Schluchzen erstickt der Mutter die Stimme: Wenn der Waldkönig nicht hilft …«

In der Erinnerung taucht das Gesicht des Händlers auf, er hört diese Stimme: Herr Doktor May. Protts Lachen: He, May, schreibst die Bibel ab? Verbindlichsten Dank, Herr Doktor. Mörtelgeruch, Kübelgeruch, Strohgeruch. Swallow, mein wackerer Mustang. Der Direktor: Viel Glück in der Freiheit, Herr Doktor! Schriftsteller und Redakteur Dr. phil. Karl May. Kochta: Demut, wir alle müssen demütig sein vor dem Herrn. Das Flämmchen zuckt vor der Zigarrenspitze, Rauch auf der Zunge, über tausend Nervenbahnen wird das Hirn wachgehalten. Die Mutter in der Mangelstube, der Vater am Stammtisch: Mein Sohn, Doktor ist er jetzt! Zuchthausmauern stürzen, Waldheim ist von der Landkarte gelöscht. Aus staubüberhangener Einöde der Hilferuf des Direktors: Bitte, Herr Doktor May! Ein Diener: Gnädige Frau, darf ich Ihnen Herrn Doktor May melden! Eine Dame schreitet auf schwellendem Teppich. Ich habe unendlich viel von Ihnen gehört!

In dieser Nacht schafft er zwölf Seiten.

3. Kapitel: Emma, Minna
1

»Mußt nich immer schreiben und schreiben, Karle, davon drehste noch durch. Willste nich zu Minchen rüber?«

»So wenig Zeit, Mutter.«

»Hab Schweinefleisch bestellt für Sonnabend. Wenigstens möchtest’s holen.«

In einer halben Stunde könnte er zurück sein. »Kriegst es billiger?«

Die Mutter klagt: Ein paar Pfennige nur, der Schwiegersohn läßt keinen Unterschied zu, ob Fremde oder Verwandte bei ihm kaufen. Wenigstens nimmt es Minchen mit dem Wiegen nicht genau und legt Knochen und Schwarten zu.

Unterwegs bosselt er an einer Dorfgeschichte, heiter soll sie sein – als ob er so was aus dem Ärmel schütteln könnte! Er kann sich nicht an den Tisch setzen und beschließen: Jetzt schreibe ich eine lustige Geschichte! Sich vornehmen: Aus einem düsteren Winkel brechen Maskierte und stürzen sich über den eben Befreiten – das gelingt zu jeder Stunde.

Wilhelmine Schöne, die zwei Jahre jüngere Schwester, ist nicht in der Küche, dort wischt die Magd auf. Aus der Stube dringen Mädchenstimmen, Frauenstimmen. »Möchte nur etwas holen.«

»Der Herr Redakteur!« Wilhelmine lärmt durch die Tür. »Ach was, meine Freundinnen wollen dich endlich kennenlernen.« Sie zieht ihm den Mantel von den Schultern. »Oh, elegant biste! Der Glanz der Residenz!«

Die Stube ist fern jeder Vorstellung, die er von einem vornehmen Zimmer hegt; an Palmenwedel, Samtvorhänge und Goldrahmen ist nicht zu denken. Dennoch hofft er für einen Augenblick, die Frauen darin wären wie in seiner Phantasie: Üppig, mit nackten, vollen Armen, zu ihm emporlächelnd, dem Schriftsteller und Redakteur. Vier junge Frauen blicken von ihren Stickereien auf, er drückt Hände, hört Namen. Wilhelmine gießt ihm Tee ein. Er bittet reihum, rauchen zu dürfen, ein Messerchen zieht er hervor. Eine Frau fragt, wie denn das Wetter in Dresden letzte Woche gewesen sei, man höre, im Elbtal sei es besonders mild. Er redet von den Reben nach Meißen hinunter, aber er mache sich wenig aus Wein, er müsse seine Sinne wach halten, da wirke Tee besser. Und eine gute Zigarre.

Ach, Dresden! wird gestöhnt, wie Herr May zu beneiden sei! Die Königsfamilie, Offiziere, Jagden; selbst wenn man die gewöhnlichsten Arbeiten dort verrichten müßte, wie anders wäre das als das stupide Leben in Ernstthal! Ob Herr May oft reise?

Reisen, o ja. Manchmal werde es ihm fast zuviel. Wegen seiner Zeitschrift »Schacht und Hütte« habe er im Ruhrgebiet mit Firmen verhandelt, bei Krupp sei er gewesen, in Berlin bei Siemens. Berlin zeige einen verblüffend großzügigeren Anstrich als Dresden, neuerdings erscheine ihm Dresden muffig gegenüber der Reichshauptstadt und den Metropolen am Rhein. Wäre seine Schwester nicht im Zimmer, die weiß, daß er nur tageweise von Ernstthal fern sein darf, würde er seine Phantastereien bis Paris ausdehnen. Da sagt ein Mädchen: »Ich habe Ihre Artikel gelesen.«

Er wendet den Kopf, das Mädchen schlägt die Augen nieder. Die Schwester hilft: »Emma wohnt bei ihrem Großvater – du kennst doch Barbier Pollmer?«

Natürlich: Ein alter, dürrer Kerl, zieht er nicht auch Zähne? »Und welche Artikel bitte?«

»Über Felder und Städte.«

Er versichert, mit welcher Hingabe er an seinen »Geographischen Predigten« arbeite. Aber Emma Pollmer ist zu keinem Wort mehr zu bewegen, kaum, daß sie noch einmal den Blick hebt. So viel nimmt er immerhin wahr: Die Augen sind braun, die Wimpern lang, die Brauen dicht, das dunkle Haar steigt lockig zu seiten des Scheitels auf und fällt in Wellen auf die Schultern. Ist der Mund so, wie in Romanen zu lesen ist: lockend, sinnenfroh? Er möchte die Lippen noch einmal sich öffnen sehen, aber das Mädchen nickt nur noch oder schüttelt den Kopf. Die Schultern: Rundlich, kräftig, die Arme: Er kann sie nur ahnen unter der Strickjacke. Dürfte er schreiben, die Lippen seien schwellend? Noch ein schnell aufschießendes Wort: Pfirsichhaut.

Im Barbierladen lägen Zeitschriften aus, ergänzt Wilhelmine. Emma habe sie mit in ihr Zimmer genommen, sei es nicht so?

»Die Gedanken zu diesen Artikeln sind mir auf meinen Reisen gekommen. Wenn man vom Coupe aus Städte und Dörfer vorüberfliegen sieht …« Er gibt sich erschrocken: Mein Gott, er verplaudere sich, zu Hause warte ein Stapel nackten Papiers! Nun ja, man sage, Papier sei geduldig, aber am Dienstag müsse eine frische Zeitschrift auf den Markt!

»Aber deine Zigarre wirst du doch aufrauchen.«

Jetzt findet sein Blick noch einmal die Augen von Emma Pollmer, zwei Lächeln bilden sich. »Ich bekomme unzählige Briefe von Lesern«, redet er. »Gerade mit meinen Predigten habe ich den Ärmsten Zuversicht gespendet.« Emma flüstert: »Ich habe mich gewundert, wieviel Sie wissen.« Er beugt sich vor, um ihren Blick nicht zu verlieren, redet: »Oh, das bringt mein Beruf mit sich!« Jetzt möchte er empfinden, was er einen jungen Dichter in einer Geschichte hat fühlen lassen. Zu Füßen einer reifen Frau saß er. Fräulein Pollmer ist blutjung und blickt ehrfürchtig zu ihm auf, das ist noch nie geschehen. Eine Gans in Böhmen hat ihn ausgelacht. Minna Ey weiß zu genau, wie der Chef manche Seiten zusammengestrichen und durch Einschübe ergänzt hat, sie hat zweimal dringlich erbetenen Vorschuß verweigert. In dieses Mädchenantlitz hier hinein kann er erfinden: »Ich bin allein verantwortlich für jede Zeile meiner Zeitschrift.« Gerade am Umbruchstag gehe es in der Druckerei zu wie in einem Bienenstock: Herr Doktor May, das Titelblatt! Herr Doktor, welche Überschrift, welcher Schriftgrad! Er drückt die Zigarre aus; er will nicht den Eindruck erwecken, unermeßlich Zeit zu einem Kränzchenschwatz zu haben. Immer in Eile, seine Artikel im Kopf, die sie ihm in ganz Deutschland aus den Händen reißen. An der Haustür fragt er: »Wie alt ist Fräulein Pollmer?«

»Zwanzig. Gefällt sie dir?«

»Was soll man sagen nach wenigen Minuten.«

»Hübsch ist sie! Wird Zeit, Bruder, daß du in den Ehehafen steuerst mit deinen vierunddreißig. Soll ich sie für nächsten Sonntag wieder einladen? Kommst du?«

»Versprechen kann ich’s nicht.«

Auf dem Heimweg, auf der Fahrt nach Dresden bauscht sich die Erinnerung. Jetzt, so suggeriert er sich, ist er kein Anfänger mehr, der sich sehnt, zu Füßen einer schönen Frau zu sitzen und ihr glühende Gedichte vorzulesen, bis sie ihn an ihren Busen zieht. Nachts spielt er diese Vorstellung durch; Phantasie kann beglückender als Wirklichkeit sein, weil sie auf Befehl abrufbar ist und der Partner allen Wünschen gehorcht. Wenn er möchte, daß eine Frau sich hinter einen Samtvorhang zurückziehe, so tut sie es, er hört Seide rascheln, in einem durchsichtigen Hemd tritt sie wieder hervor. Sie knöpft ihm die Weste auf und sagt: »Wir wollen eins sein, du und ich und deine Gedichte.« Sie löscht das Licht bis auf eine Kerze. Diese Vorstellung ist schal geworden durch unzählige Wiederholungen. Wenn er Fräulein Pollmer wiedersieht, kann er vielleicht eine neue Szene entwickeln. Er trifft sie im Haus seiner Schwester, hört ihre Stimme, meistert die Konversation des berühmten Dichters mit einer Verehrerin. Ihr Lächeln, ihre Grübchen, das Heben der Wimpern nimmt er mit in seine Nächte. Dort läßt er sie sprechen: »Ich kenne jede Ihrer Zeilen, Herr Doktor, ich schneide jede Geschichte aus und klebe sie in ein Album. Ich verehre Sie wie keinen Dichter sonst auf der Welt.« Er zieht sie vom Stuhl, mit einem Schrei wirft sie sich ihm in die Arme. Er kennt Zeichnungen von Goethes Arbeitszimmer: Stehpult, Schreibtisch und Tintenfaß, Folianten. An diesem Pult steht May, Emma Pollmer tritt barfüßig neben ihn. Sie trägt ein fließendes Gewand wie Statuen auf Friedhöfen, flüstert: »Ich will zuschauen, wie Sie schreiben.«

In Dresden findet er ein Manuskript aus dunklen Waldheimer Tagen, der Vater hat es damals an Münchmeyer geschickt, es gilbte in einer Mappe. »Swallow, mein wackerer Mustang, spitzte die kleinen Ohren.« Ein packender Satz, irgendwann wird er ihn verwenden. Er forscht in Journalen: Aus dem Sudan liegen Depeschen über Kämpfe am oberen Nil vor, Brände lodern im Staat Darfur, der Forscher Nachtigal ist vom Tschad über al Faschir nach Chartum vorgestoßen. May leiht aus einer Bibliothek neueste Karten Afrikas. Vom Tschad nach Chartum, Wüsten, Gebirge, Felsenschluchten. Weiße Flecken. Das Kartenblatt gewinnt Leben unter seinem Blick. Die Phantasterei von damals spinnt er aus zu einer Geschichte für die Zeitschrift »Feierstunde«, die dem Geschehen in Afrika und dem Orient gewidmet ist. Eine Karawane, beladen mit Elfenbein, fällt in die Hände eines Räuberstammes, ein junger Deutscher hockt in einer Felsnische, vor der die Wüstenreiter ihr Feuer aus Dornbuschzweigen und Kamelmist entfachen. Rauch dringt in seine Augen, aber tapfer hält er durch. Die Räuber schmieden tückische Pläne, der Deutsche, vieler arabischer Dialekte mächtig, versteht jedes Wort. Ein frischer Fladen wird aufgelegt, Rauch zwingt zum Husten, eine Minute später liegt der Deutsche gefesselt vor dem Räuberhauptmann. Ein Dolch kitzelt seine Kehle. Fortsetzung im nächsten Heft.

In einer Buchhandlung findet er die Reiseberichte des Hamburgers Heinrich Barth, die halbe Nacht hindurch liest er. Von Tripolis nach Ägypten durchquerte Barth die mörderische Wüste, bei einem Überfall verlor er um ein Haar sein Leben, er war ein vorzüglicher Kenner des Arabischen und errang einen Ruf in Gelehrtenkreisen verschiedenster Disziplinen. Die Briten gewannen ihn für ihre »English Mixed Scientific and Commercial Expedition«, die im Sudan vorfühlen und Handelsbeziehungen zu Arabern, Mischvölkern und Afrikanern knüpfen sollte. May legt Zettel zwischen Seiten: Hier eine Schilderung des Tschad, der seine Ufer in jedem Monat verschiebt und dessen Form unmöglich festzuhalten ist. Hier die Beschreibung einer Parklandschaft mit ihrer Flora und ihrem Wildreichtum. Der Tod ereilt Barths Gefährten, Barth dringt nach Süden vor. Sieben Monate lang lebt er in Timbuktu, jede Minute in Gefahr, sein Leben zu verlieren. Wieder ein Zettel: Timbuktu. May stellt sich vor, er verfüge über eine Kartei, die ihm den Weg zu einer Fülle von Artikeln weist, die in seinem Haus in Mappen abgelegt sind, zu Büchern, die die Wände füllen. Doktor Karl May ordnet an: Bring bitte alles über Timbuktu. Seine Helferin rückt eine Leiter an ein Regal, ihr Haar ist dunkel, wellig, ihre Wangen schimmern wie Samt.

Am Donnerstag fährt er nach Ernstthal zurück, das Buch des Heinrich Barth nimmt er mit. Seine Geschichte des jungen Deutschen, der in die Hände arabischer Räuber fällt, schmückt er mit geographischen, floristischen und völkerkundlichen Details, penibel übernimmt er die Schilderung des Zaumzeugs und Sattels eines arabischen Anführers. Der junge Deutsche sinniert über die göttliche Aufgabe menschlichen Lebens: So sprach Kochta an dunklen Abenden in Waldheim. Nicht aus Hamburg wie Barth stammt Mays Reisender, sondern aus Sachsen. Auf den Feldern um Ernstthal schlug der Weber May die Schlachten der Sachsen gegen die Preußen nach, er war der sächsische König, sein Sohn Karl seine unglückliche Armee. Immer stand Sachsen auf der Verliererseite, bei Leipzig, bei Königgrätz. May korrigiert: Sein Reisender fällt, als er in Kairo einem Landsmann begegnet, in den melodischen Tonfall seiner Heimat. Er stammt aus Öderan. Nie, schwört sich May, wird er einer seiner Figuren als Heimatstädte Mittweida oder Waldheim geben.

Am Freitag nachmittag schickt seine Schwester ihr Töchterchen mit einem Zettel: »Karl, kommst du morgen abend auf ein Stündchen? Weißt schon warum.« In der einen Hand hält er den Zettel, die andere reibt über den Stoff der Hose. Emma Pollmer. Nachts hat er versucht, sich ihre Grübchen vorzustellen, es ist ihm nur für Sekunden gelungen. Dunkle Augen, die haben die Frauen in seinen Phantasien meist. Dieses Lächeln. Während er ißt, stellt er sich vor, Emma Pollmer fahre in seiner Bibliothek mit einem Staubwedel über Folianten, ihre Arme seien bloß bis zur Schulter hinauf.

Sie sitzt, als er am Abend darauf das Zimmer seiner Schwester betritt, über ihre Stickerei gebeugt. Er hat sich Passagen zurechtgelegt: Die Arbeit an einer Erzählung, die im dunkelsten Afrika spielt. »Ich bin ja leider über Kairo nicht hinausgekommen.« Die Schwester entsinnt sich: Über die Spanne zwischen den Strafen in Zwickau und Waldheim hat er die verworrensten Geschichten aufgetischt: Bis Marseille sei er gewandert und mit dem Schiff nach Nordafrika übergesetzt, durch ungezählte Städte gelangte er nach Konstantinopel und über den Balkan zurück. Einmal hat er geflunkert, er habe die nordamerikanischen Prärien durchstreift. »Ich wäre um ein Haar den Nil hinaufgefahren – irgendwann tue ich’s.« Emma legt ihre Handarbeit in den Schoß und blickt ihn an. »Im ›Deutschen Familienblatt‹ habe ich eine Erzählung von Ihnen gefunden.«

»Über den Alten Dessauer?«

»Eine Indianergeschichte.«

»Ah, Innuwoh.« Es fällt ihm schwer, nicht wenigstens eine Andeutung zu machen, er habe, wenn auch nur einige Wochen lang, die Prärien westlich des Mississippi durchritten. Dabei hat er soviel über Amerika gelesen und tut es ständig, er kann sich so lebendig vorstellen, wie ein Buschbrand heranjagt, wie die Silhouette eines indianischen Reiters vor dem blutigen Horizont steht. Die Schwester könnte jeden Augenblick fragen: Karle, wieso schreibste über deine Geschichte: Aus der Mappe eines Vielgereisten? In dieser Erzählung tritt ein Ich auf; das Traum-Ich aus den Nächten von Waldheim wagt sich aufs Papier und berichtet über die Fahrt von New Orleans nach St. Louis. So völlig eigenes Fleisch ist es noch nicht, manchmal lacht es herüber, manchmal schreitet es mit Schritten, die eigene Schritte sein könnten; das Ich blickt in den Fluß, May sieht den Fluß, das Ich ist mutig, May gewinnt mühsam Mut zurück.

»Karle, wie lebste denn in Dresden? Ich meine: Wer kümmert sich um dich, wann ißt du, was …«

»Ein Mädchen aus der Druckerei macht mein Zimmer sauber.«

»Also ein Junggesellendasein.« Die Schwester läßt eine Pause folgen, in der Augen huschen, ehe sie fortsetzt: »Ich sag’s immer, Karl: Bist alt genug zum Heiraten. Und verdienst genug.« Er widerspricht nicht.

Wilhelmine Schöne bringt einen Teller mit Bratwurst und Brot, Emma begnügt sich mit einigen Bissen. Frau Schöne fragt kauend: »Karl, sollen wir mal die Großmutter fragen, ob du nächstes Jahr heiratest?« Die Großmutter ist seit Jahren tot, ihr Geist soll beschworen werden; sofort sind zwei der Frauen dabei. Die dritte bläht sich: Man müsse es ernst meinen, wenn man Verstorbene herbeizitiere, es dürfe nicht in Jux ausarten. May fragt: »Ist euch schon mal so was gelungen?«

O ja! Jetzt überstürzen sich die Frauen mit ihren Berichten. Mit Tischrücken hätten sie verblüffendste Erfolge gehabt, Gardinen hätten geweht, Kerzen seien erloschen, der Tisch habe geschwankt. Einmal hätten alle Schritte durch den Raum gehört. Die Frau, die sich gegen Unfug mit den Toten verwahrt hat, gibt zu bedenken, daß man die Toten immer nur nach dem befragen solle, was sie als Lebende zu beantworten imstande gewesen seien. Ob Karl im kommenden Jahr heiraten werde: Hätte denn seine Großmutter das zu Lebzeiten prophezeien können? Aber Geister, argumentiert Wilhelmine Schöne, seien nun eben Geister und besäßen überirdische Fähigkeiten, es sei ja nicht so, daß sie wie die Lebenden seien, bloß tot. Daran entzündet sich neue Meinungsverschiedenheit, darüber verfliegt eine Viertelstunde und noch eine. Sie müsse schleunigst gehen, sagt Emma, der Großvater werde sonst unruhig. May schaut an die Uhr und gibt sich erschrocken. »Habt ja so ziemlich denselben Weg«, wirft Wilhelmine ein.

Auf diesem Weg weiß er nicht, wovon er reden soll. Ein Wiedersehen möchte er vorschlagen, den Arm des Mädchens nehmen. Einmal fragt er: »Haben Sie ›Wanda, das Polenkind‹ gelesen?« Sie verneint, er erinnert sich an seinen Satz: »Der Lauscher unter der Treppe hörte jedes Wort, er hörte jetzt auch das leise, galvanische Geknister der Küsse.« Er wird Emma Pollmer an diesem Abend nicht küssen. Wird er, wann? Endlich ein Einfall: »Wenn Sie wieder einmal etwas von mir lesen, vielleicht schreiben Sie mir darüber?«

»Aber ich …«

Da stehen sie vor ihrem Haus, ein Händedruck, keine Zeit bleibt ihm mehr für den nächsten Satz. Im Weitergehen fürchtet er, sie könnte hinter der Tür über ihn lachen. Nie haben in seinen Träumen Frauen über ihn gelacht.

Am nächsten Vormittag, er sitzt in der Stube im Oberstock, hört er Stimmen im Flur: die Mutter, ein Mann. Schritte die Stiege herauf, Mutter steckt den Kopf herein. »Barbier Pollmer – haste Zeit für ihn?«

Natürlich hat er keine Zeit, natürlich nimmt er sie sich. Bis zur Treppe geht er und spricht hinunter: »Darf ich heraufbitten?«

Was will Pollmer?

Pollmer redet auf der Treppe und während er May die Hand schüttelt und ins Zimmer tritt und sich umschaut. Dichterschmiede, redet er, und stören wolle er nicht, aber von seiner Enkelin habe er gehört, daß sie Herrn May kennengelernt habe, und nun möchte er die Gelegenheit nutzen, eine wertvolle Bekanntschaft zu machen. Pollmer reibt sich die Hände, als friere er, das ist Gewohnheit eines Mannes, der auf die Geschmeidigkeit seiner Hände achten muß. Woran arbeite Herr May gerade, wieder an Predigten über Himmel und Erde?

May bietet eine Zigarre an, die nimmt Pollmer und steckt sie gewohnheitsmäßig in die Jackett-Tasche und zieht sie, über seine Zerstreutheit den Kopf schüttelnd, wieder heraus. Er sei ja nicht im Geschäft, Emma vertröste etwaige Kunden für die nächste halbe Stunde. Emma, seiner verstorbenen Tochter wie aus dem Gesicht geschnitten. Ach ja, und was gibt’s Neues in Dresden?

May antwortet vorsichtig. Solche Augen mag er nicht, die alles auf einmal zu erfassen suchen. Er mag pauschale Fragen nicht, im Dutzend gestellt. Barbiergeschwätz. Pollmers Kopfknochen liegen unter papierdünner Haut, eine blaue Ader schlängelt sich die Schläfe hinab. Immerfort sind seine Lippen in Bewegung; wenn er schweigt, scheint die Zunge eine Kugel im Mund zu rollen. Pollmer macht sich ein Bild von May: Stubenhockerfarbe, modischer Zwicker, Ring mit schwerem schwarzem Stein. Pollmer hat sich geübt in langen Barbierjahren, Menschen abzuschätzen, er weiß genug über May, als daß er nach dem ersten Eindruck urteilen müßte. Emmas Augen haben wie bei einem verschreckten Huhn geglitzert, als sie am Vorabend von diesem Schreiberling erzählte, da gilt es achtzugeben. Auf den Zahn fühlen, vorbauen will Pollmer, das tut er mit Fragen nach schriftstellerischen Plänen. Mays Finger trommeln, als er die Zeitschriften charakterisiert, die er leitet. Ehe er in den Verlag eintrat, erschien der »Beobachter an der Elbe«, ein Blatt ohne Linie, dem die Abonnenten davonliefen. Daneben veröffentlichte Münchmeyer das »Schwarze Buch« mit Verbrecher- und den »Venustempel« mit Liebesgeschichten. Mit einer Handbewegung, als wische er Unrat vom Tisch, begleitet May den Satz, daß er mit alldem aufgeräumt habe. Auf seine Anregung hin und unter seiner ausschließlichen Leitung erschiene nun das »Deutsche Familienblatt« mit Indianergeschichten, die »Feierstunde«, die dem Orient gewidmet sei, sowie »Schacht und Hütte« zur Erbauung schwer arbeitender Menschen vor allem in den Bergwerken. »Ich habe Methode hineingebracht, Schwung.« Wieder trommeln die Finger. Er möchte das Gespräch auf Emma bringen und weiß nicht wie.

Pollmer nickt mümmelnden Mundes. Vierzehn Jahre älter ist May als Emma, das wäre noch kein bedenklicher Abstand fürs Heiraten. Oh, Pollmer hat sich umgeschaut unter den jungen Männern der Stadt und der Umgebung: Fabrikantensöhne, Beamte, die Erben von Mühlen, Fuhrgeschäften und einer Brauerei hat er Revue passieren lassen; im Laden oder am Stammtisch hat er dieses oder jenes Wort mit einem Vater gewechselt, vormarschbereit und immer den Rückweg offen. Bei diesen Männern kann er Besitz und Vermögen abschätzen, er weiß, welches Geschäft floriert, und ahnt den Zuwachs in den nächsten Jahren. May kommt aus einer zwielichtigen Welt, in ihr scheint alles möglich: steiler Aufstieg zu Ruhm und Reichtum, nahebei jäher Absturz. So etwas gab es bislang in Ernstthal und Hohenstein nicht. Und er war im Zuchthaus. Pollmer möchte fragen: Was verdient man an einem Artikel? Er weiß, was ein Kalb kostet oder ein Haus oder ein Acker nicht zu steinigen Feldes. Er versucht sich vorzustellen, wie eine Frau im Haus eines Schriftstellers leben könnte. Schwankender, trügerischer Boden. Der Briefträger bringt einen Packen Geld, der Briefträger trägt ein verpfuschtes Manuskript zurück. Pollmer schiebt die Lippen vor wie ein Pferd, das ein Zuckerstück aufnehmen will. »Da möchte ich nicht länger stören.«

»Sie haben nicht gestört.«

»Gute Arbeit noch, Herr May. Muß weitermachen.«

Emma erwartet ihren Großvater an der Ladentür. Aber er fragt nur, wer inzwischen dagewesen sei; soso, die werden wiederkommen oder auch nicht. Und Emma möge sich ans Mittagessen machen.

»Hast Herrn May angetroffen?«

»Jaja. Und nun sieh zu, daß du was auf den Tisch kriegst!«

Auf diesen Ton wagt Emma keinen Widerspruch. Während sie Möhren und Kartoffeln schnipselt, steigen ihr Tränen auf. Sie wischt die Augen klar. Aufschnüffelnd beschließt sie: Schreiben wird sie an Herrn May, kann der Großvater sagen, was er will. Heimlich schreiben wird sie, notfalls, wenn sie Minchen Schöne besucht. In der Küche, vom Großvater durch Mauern getrennt, drängt sie die Angst vor ihm beiseite; sie kennt seinen Jähzorn, mit seinen harten Knöcheln hat er sie erst gestern auf den Oberarm geschlagen, daß die Haut grün und blau unterlaufen ist. Ein Gedankensatz nach dem anderen wird selbstsicherer, eigennütziger. Fritze Kalkmann zieht sie in ihre Überlegungen hinein und triumphiert dabei über den Großvater: Wenn du wüßtest! Fritze Kalkmann, der Glasergesell, seine Lippen, sein Schnurrbart. Was May hat, hat Kalkmann gewiß nicht. Was Kalkmann hat, hat das May?

956,63 ₽
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0+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
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470 стр. 1 иллюстрация
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9783954627240
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