Читать книгу: «Swallow, mein wackerer Mustang», страница 4

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Sie zeigt den Weg zu einer Herberge und verspricht, sich fürs nächste Mal nach einem Zimmer umzusehen, warnt aber gleich: Der Herr möge sich keine übertriebenen Hoffnungen machen, es sei schwierig, etwas zu finden.

In der Nacht schrickt er auf; Münchmeyers Lachen gellt durch seinen Traum: Ausgebrochen? May, so einer wie du bricht doch nicht aus! Fräulein Ey knickst: Eine Tasse Tee, Herr May? Keine Frau ist so, wie er sie sich in Zuchthausnächten erträumt hat, schon gar nicht Fräulein Ey.

2

Einen Monat später fährt er wieder nach Dresden und übernachtet in einem engen, halbdunklen Zimmer, das Minna Ey für ihn gefunden hat, es ist bestückt mit Bett, Tisch und Stuhl. Am nächsten Morgen legt er vor, was er den Beginn einer Novelle nennt: »Wanda, das Polenkind.« Der Verleger überfliegt: In einem Städtchen nahe Chemnitz hat sich eine polnische Adlige mit ihrer schönen Tochter niedergelassen, Wanda von Chlowicki heißt das heißblütige Geschöpf. Verspielt ist sie, von den Männern verwöhnt. »Die Sonne des Lebens hatte ihr stets nur kaltes winterliches Licht gegeben und nur selten einen freundlich erwärmenden Strahl zugesandt. Die Quelle eines tiefen, reinen Gemüts war von einer falschen, auf wankenden Grundsätzen fußenden Erziehung zurückgedrängt und mit steinernem Riegelwerk verschlossen, der Reichtum ihres Geistes brachgelegt und ihr Wollen und Handeln von den rechten Bahnen seitwärts gelenkt worden.« Na schön, denkt Münchmeyer, besser schreiben meine anderen Autoren auch nicht. Weiter: Ein Ball findet statt, auf dem die Ballkönigin ersteigert werden soll, natürlich ist Wanda die Favoritin. Ihr Verlobter, Baron Säumen, bietet am meisten, da bricht im Nachbardorf ein Brand aus, beherzte Männer stürzen fort, darunter Schornsteinfegermeister Winter. Drei Menschen rettet er, rußgeschwärzt kehrt er zurück und steigert mit um Wanda: Fünfzig Taler setzt er ein, Säumen zögert.

Wieder ein Brand, mäkelt Münchmeyer, brannte es nicht schon in Mays erster Geschichte? »Schreiben Sie immerhin weiter. Ob wir’s diesmal unter Ihrem Namen bringen?«

May schießt das Blut ins Gesicht.

Jetzt bleibt er öfter einmal über Nacht in Dresden, Doßt drückt beide Augen zu. Das Seitengebäude, in dem er nächtigt, ist vor erst einem Jahr fertig geworden, er erreicht es über den Hof. Die Familie, bei der er untergekommen ist, zog vor zwei Jahren aus Böhmen zu, der Mann war Maschinist in einem Schacht, jetzt steht er an der Stanze in einer Nähmaschinenfabrik. Wenigstens hat May ein Zimmer für sich, ein Schlafbursche logiert außer ihm in der Wohnung auf einer Pritsche in der Küche. Einmal schlägt ihm der Wirt vor, er möge sein Zimmer mit einem jungen Arbeiter teilen, der aus Schlesien zugewandert sei und seit Wochen im Asyl kampiere. Matratze auf den Fußboden, natürlich geringere Miete, na? May lehnt ab. Er muß abends schreiben! Achselzucken. Morgens, wenn er sich in der Küche wäscht, sitzen oder liegen vier, sechs Menschen hinter ihm. Abends werden auf dem Herd Rüben zu Sirup zerkocht wie daheim auch.

Der Verleger drängt: Ist die Novelle nicht bald fertig? Er schimpft auf die Konkurrenz, auf Papierpreise und Lohnforderungen der Drucker. Spärlich sind seine Vorschüsse, er ringt die Hände: Die Auflage des »Beobachters an der Elbe« gehe zurück!

Am Abend steht May vor der Oper, Kutschen fahren vor, Diener öffnen den Schlag, halten Schirm und Laterne. Ein Frauenlächeln, das könnte Wanda von Chlowicki sein. Federbusch auf einem Hut, Schleier, ein offener Mantel. May dreht sich zu einer anderen Kutsche, da prallt sein Blick auf einen Polizisten, der ein paar Meter entfernt steht, Stiefelspitzen wippen über der Bordkante, Augenpaare begegnen sich. Stiefel trägt Doßt, Stiefel können auf dem Zuchthauskorridor knallen, Stiefel können auf ihn zu knallen, eine Stimme kann fragen: Was haben Sie hier verloren? Ihre Papiere? Vorbestraft, so, unter Polizeiaufsicht, und was treiben Sie sich in Dresden herum? May wendet sich ab und geht auf die Elbbrücke zu, sein Nacken versteift sich, als fürchte er einen Schlag. Aufs Brückengeländer gestützt, krümmt er sich zusammen.

Eine Erzählung von drei Seiten druckt Münchmeyer, eine von sechs, die mißratene Skizze eines anderen Schreibers läßt er von May auffrisieren. »Ist Ihre ›Wanda‹ nicht bald fertig?«

Bei einem Krämer in der Neustadt kauft er Brot, billige Wurst und Zigarren. »Zwei Dutzend ›Hansastolz‹. Ich begleich’s nächste Woche.«

»Da muß ich Vater fragen.« Das Mädchen wendet sich ab, Zöpfe schwingen, ein überlanger Fünfziger mit spärlichem Haar und dünner grauer Haut bückt sich aus dem Comptoir heraus, hüstelnd hinter vorgehaltener Hand. May sagt abermals sein Sprüchlein auf, sein Blick huscht über die Schuppen auf dem Kragen des Händlers. Ein beherztes, ehrfurchtgebietendes Auftreten wünscht er sich. Daß dieser da zusammenzucke, erstarre, staunend ausriefe: Das sind Sie, der Schriftsteller May?

»Tut mir leid, Herr«, krächzt der Dünne und hustet, daß die Schultern zucken, »wo denken Sie hin, Ladenmiete, Steuern, und dann immerzu kreditieren? Ich hab Sie bevorzugt! Aber jetzt vor Monatsende …«

»Ich erwarte Honorare.«

»Das behaupten Sie jedesmal.«

»Aber wenn ich …«

»Bezahlen Sie erst mal!«

Das Mädchen lauert mit giftigem Blick. May fürchtet schrill aufbrechendes Gekreisch wie damals in Böhmen, als er einer Gans seine Gedichte vorlas. Die Rechte hat er ins Jackett gesteckt, dort liegt sie fest, die Linke hängt herab, die Handfläche streicht über die Hose. Nach einem heftigen Wort des Abgangs sucht er, das die beiden da zusammenfahren ließe. In Büchern findet man: Ich werde Ihnen meine Sekundanten schicken! Mein Anwalt wird das weitere regeln! »Wenn Ihnen an meiner Kundschaft nichts gelegen ist …«

»Bezahlen möchten Sie.«

May versucht, mokant die Brauen hochzuziehen, wendet sich zur Tür, fühlt Blicke im Rücken und kommt an der Schwelle mit seinen Schritten nicht zurecht. Halb dreht er sich, als er die Ladentür schließt; tölpelhaft muß das aussehen, fürchtet er, zwei Augenpaare starren ihm durch die Scheibe nach. Drei Straßen weiter lehnt er sich auf ein Geländer; als er die Arme aufstützt, riecht er den Schweiß in den Achselhöhlen.

Drei Zigarren bleiben für die Nacht. Und wenn er borgte – vielleicht bei Fräulein Ey: Ich bin in Not! Ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie streckte die Arme vor, es wären nicht die vollen, weißen Arme, wie er sie ersehnt und beschreibt. Bräunlich sind ihre Arme, mager, er hat sie gemustert, als Fräulein Ey die Dielen des Verlagsbüros wischte, über ihrem Nacken war das Haar hochgesteckt zu einem unordentlichen Dutt, die Hemdträger unter dem Kittel waren angeschmutzt. Immerhin gelingt diese Vorstellung: Fräulein Ey streckte ihm Geldscheine hin: Nehmen Sie, soviel Sie wollen, mein Herr, was mir gehört, sei das Ihre!

Er verscheucht den Wunschtraum und flüchtet in sein Zimmer. Während er die Arbeit des Vortags überfliegt, schneidet er die Spitze einer Zigarre ab, stimmt sich ein, zündet an, schmeckt den Rauch, schreibt. Die Handlung beginnt zu strömen, neue Figuren werden geboren mit raschem Strich. Treuherzig, bieder, redlich ist dieser Meister Winter, ein Stegreifdichter obendrein:

»Drum schließe deine Augen zu,

worin die Tränen glühn,

Ja, meine wilde Rose, du

sollst nicht im Wald verblühn!«

Seinem warmherzigen Drängen kann Wanda nicht widerstehen, sie entlobt sich vom Baron, der sinnt auf Rache. In einem Hotel in Chemnitz erlauscht Winter, daß ein Testament vorliegt, wonach Wandas Vater im Falle von Wandas Tod dem schurkischen Baron ihr gesamtes Vermögen vermacht, nun droht höchste Gefahr! Da taucht ein Ballonführer auf, der seine Kunststücke über ebendieser Stadt zeigen will …

»Wissen Sie was, wir drucken Ihre Geschichte immer mal an. Unter Ihrem Namen. Solange sie läuft, werden Sie schon fertig werden, was?«

»Ja, danke. Vielen Dank, Herr Münchmeyer!«

Eine Woche später liest er hundertmal den Titel: »Wanda, das Polenkind.« Und hundertmal darunter: »von Karl May.« Diese Nummer hält er Doßt hin, der Vater trägt sie in alle Kneipen. Münchmeyer drängt: Jetzt nicht lockerlassen! Und May schreibt, schreibt in Ernstthal, in Dresden. Ein Redakteur kommt mit einer Erzählung nicht zu Rande, May entwirft zwischendurch dafür einen neuen Schluß. Der Verleger lobt: Jetzt sind Sie richtig drin, das flutscht, was?

3

Der Sommer bleibt heiß, Zeitungen berichten über Machenschaften des Zentrumführers Windthorst, der die Interessen des Katholizismus über die des Reiches stellt. Flammen in Mexiko, Indianerkämpfe zwischen Prärie und Felsengebirge, Kleinkrieg in Albaniens Schluchten. Stickig ist es in Dresden, Münchmeyers kutschieren gelegentlich im Mietwagen durch die Dresdener Heide; May merkt nichts vom Blühen und Reifen. Inzwischen kauft er von Honoraren und Vorschüssen bei einem anderen Kaufmann seine Zigarren, eine Mahnung des Dürren, Schuppigen hat er unbeachtet gelassen.

An jedem Montag meldet sich May, am Dienstag fährt er nach Dresden, mittwochs, spätestens donnerstags kehrt er zurück. Doßt warnt, droht manchmal: »Wenn du Zicken machst, ich hab dir die Fahrt nach Dresden nicht erlaubt!«

Der Sommer verfliegt, im Herbst sagt Münchmeyer: »Wie wär’s, Sie kämen am Sonntag mal zum Essen. Meine Frau würde sich freuen.«

Jähes Glück schießt in May hoch, er stammelt Dankesworte. Prott müßte das erfahren, Kochta, der Direktor, Doßt! »Richten Sie bitte Ihrer Frau Gemahlin …«

»Halb zwölf. Wir könnten bei dieser Gelegenheit überlegen, ob Sie die Redaktion meines Wochenblattes übernehmen. ›Der Beobachter an der Elbe‹ verliert Abonnenten. Sie mit Ihrer flinken Hand – na?«

»Ich danke für die Ehre, Herr Münchmeyer!«

»Wir reden am Sonntag drüber. Da dürfen Sie doch weg von Ernstthal?«

»Sonntags muß ich mich nie melden.«

Doßt, Doßt! Fünf Stunden braucht May von Dresden nach Ernstthal, vom Bahnhof eilt er manchmal direkt zum Rathaus; gelegentlich braucht er nur den Kopf durch die Tür zu stecken, und der Polizist winkt schon ab: In Ordnung! Auf der Rückfahrt streunt er in Chemnitz zur Brückenstraße, in einer Seitengasse liegt eine Druckwerkstatt. »Ich benötige Visitenkarten.« Eine Frau legt Muster vor, so, so, verschnörkelt oder nicht allzu sehr. Redakteur Karl May, Dresden, malt er auf einen Karton. Oder besser so: Karl May, Redakteur, Dresden und Ernstthal.

»Wir können’s auch mit Goldrand machen, Herr Doktor.«

Die Hand probiert: Dr. Karl May. »Gut, machen Sie’s so.« Schnell schreibt die Hand, als solle der Kopf nicht wissen, was sie tut: Dr. Karl May, Redakteur, Dresden und Ernstthal. »Zwei Dutzend bitte.«

»Wir drucken gewöhnlich fünf.«

»Also fünf. Bis Freitag?«

»Bittschön, Herr Doktor.«

Daheim malt er sich aus, wie er Münchmeyers Wohnung betreten wird, mit einer Verbeugung, Blumen in der Hand. Im Sessel sitzt er, ein Bein locker über das andere geschlagen – famoses Kraut, stört der Rauch nicht, gnädige Frau? Ja, ich hab mir Gedanken gemacht über die Zeitschrift, ich bedanke mich für die Ehre. Auf meiner Heimat lastet auch jetzt noch viel Not, besonders auf den Bergarbeitern. Der aufsässigste Winkel des ganzen Reiches, ja, leider! Ein gewisser Bebel. Also eine Zeitschrift speziell für die in Bergwerken und Hütten arbeitende Bevölkerung. Er denkt: Die halte ich Doßt hin! Während er durch die Fluren um Ernstthal schweift, sinnt er nach über die Möglichkeit, Bildung gepaart mit Frömmigkeit in die Häuser der Armen zu tragen, gewissermaßen nachzuholen, was die armselige Schule versäumt. Er war ja Lehrer, wenn auch nur kurze Zeit. Das wird er seinem Verleger sagen: Was vermag schon die Schule auszurichten, ich weiß es, ich hab in der Pädagogik von der Pike auf gedient!

Erdkundliche Predigten vielleicht. Geographie, Weltkunde für Erwachsene. Wer wissend ist, erliegt schwerlich der Demagogie. Er stellt sich vor, wie er die Zeitschrift dem Ratswachtmeister hinschiebt: Von mir. Er schaut sich um, Wolken fliegen hoch oben, das Gebirge liegt in Wellen vor seinem Blick von der Augustusburg bis zum Auersberg mit Keil- und Fichtelberg in der Mitte. Ein Satz bildet sich: Wenn in stiller Abendstunde der ernste Blick sich zu dem funkelnden Diadem des Himmels erhebt. Dies muß der Stil sein: Getragen, erhaben: Dort, wo der Orinoko seine Fluten dem Golf von Paria zuwälzt. Oder: Wahrlich, man muß dem kühnen Mann, der sich dem schwachen Bau seiner Hände anvertraut, um sich durch Not und Tod zum fernen Land zu ringen, wohl Bewunderung zollen. Wie in einer Predigt muß die Sprache klingen, um in den Herzen der Geplagten ein Flämmchen leuchten zu lassen. Dies könnten die Kapitel sein: Himmel und Erde, Land und Wasser, Berg und Tal, Wald und Feld. Weitere über das Tier, die Verkehrswege, den Menschen schließlich in seinem Heim und bei seiner Arbeit.

Am Abend schreibt er: »Mag der Denker auch über die Dürftigkeit seiner Erkenntnisse seufzen und unbefriedigt dem unerreichbaren Ziel nachspüren, bis der Tod ihn den Schritt ins Jenseits lehrt: Der Gedanke, der ihn erleichtert, lebt fort und geht auf andere Geister über, um unter Sturm und Drang immer weiter entwickelt und ausgebildet zu werden. Immer neue herrliche Schöpfungen werden geboren, die nach dem Gang der Wahrheit streben …« Die Feder fügt Wort an Wort, steil, ohne Korrektur, die Linke hält die Zigarre. Ruhe liegt über Ernstthal, er schreibt: »… hebt unfehlbar doch zuletzt den Blick empor zum Himmel und lenkt das forschende Auge auf die hellen Punkte, von denen jeder eine Welt bedeutet. Im Glanz der Sterne nun entfaltet die Wunderblume der Erkenntnis ihre schönsten Blüten.«

Der Tag müßte achtundvierzig Stunden haben. Wenn er in Ernstthal ist, schläft er bis sieben oder acht; die Mutter hat ihm Morgensuppe aufgehoben. Seinen Rundgang macht er durchs Städtchen, wie zufällig steckt er den Kopf in Doßts Amtsstube hinein. Der Mutter kauft er Stoff für einen Rock, dem Vater steckt er eine Mark für Bier zu, von der die Mutter nichts zu wissen braucht. Von Mittag an schreibt er, am Abend macht er eine Pause von zwei Stunden, dann arbeitet er weiter bis zwölf, zwei, drei in der Nacht.

Auf der Fahrt nach Dresden holt er die Visitenkarten ab. Als er sie in den Händen hält, probiert er im Geiste aus, wie das klingt: Herr Doktor May. Darf ich bekannt machen: Herr Doktor May. Dieser Artikel stammt vom Doktor. Bring mal die Druckfahnen rauf zum Doktor! Hat gewonnen, die Zeitschrift, seitdem Doktor May sie redigiert.

Er schaut in die Augen der Frau und sucht ein Zwinkern darin, Argwohn, verstecktes Lächeln. Doch sie erwidert unbewegt seinen Blick, sie ist an solche Kunden gewöhnt. Vielleicht ein kleiner Beamter oder ein Kontorfuchser, wer weiß, wem er imponieren will. Doktor, der doch nicht. »Wir können jederzeit nachdrucken.«

Er zahlt und flieht fast aus dem Laden. Nach hundert Schritten probiert er wieder: Guten Morgen, Herr Doktor! Fräulein Ey wünscht das mit einem Knicks. Nein, im Verlag wird er sich nicht als Doktor ausgeben. Überhaupt nicht so bald.

Eine Stunde lang bürstet er den Anzug, die Schuhe. Er hält Blumen in der Hand, als er an Münchmeyers Tür schellt. Ein Mädchen öffnet, Münchmeyer begrüßt seinen Gast im Korridor. Er amüsiert sich: May wirkt aufgeregt wie ein Lehrling, der zum erstenmal ein Mädchen zum Tanz holt. Mein Gott, zweiunddreißig ist der Mann, sieben Jahre war er hinter Gittern, und da sagt man nun, Knast zähle doppelt!

Das Speisezimmer hat sich May dreifach so groß vorgestellt, er prallt an der Tür fast auf die Damen, dahinter steht gleich der Tisch. Er hat Schritte tun wollen auf eine ausgestreckte Hand zu, jetzt findet er kaum Raum, Frau Münchmeyers Rechte zum ersten Handkuß seines Lebens hochzuziehen. Fräulein Ey kichert, das gilt nicht ihm, aber er münzt es auf sich, da er beim Handkuß der Dame des Hauses nicht gegenübersteht, sondern aus Raummangel im spitzen Winkel. »Ihr Gatte war so freundlich …«

»Nehmen Sie bitte Platz, Herr May!« Aber May weiß nicht wo, in seinen Geschichten locken die Damen die Herren, die den Salon betreten, mit bloßem, vollem Arm auf ein Sofa an ihre Seite. Er kann sich doch wohl nicht an den gedeckten Tisch setzen; zwischen ihm und einem Stühlchen hat Minna Ey einen Schrank geöffnet, Münchmeyer sagt: »Mit der Suppe haben wir noch ein bißchen Zeit. Na, kommen Sie rüber! Sagen Sie mal, spielen Sie eigentlich ein Instrument?«

»Klavier, ich hab’s auf dem Lehrerseminar gelernt. Aber ich hab’s vernachlässigt, leider.«

Vernachlässigt, diese Formulierung findet Münchmeyer urkomisch. »Ich spiele Geige. Vielleicht musizieren wir gelegentlich mal zusammen?« Münchmeyer erwähnt nicht, daß er als junger Mann auf Dörfern zum Tanz aufgespielt hat.

Am Rücken von Fräulein Ey vorbei bugsiert er May zu einer Seitentür, vor Ledersesseln stehen sie jetzt, vor einem Bücherschrank und einem Gemälde: eine weitgewandete junge Frau neigt sich zu einem verwundeten Soldaten, der in einem Korbstuhl auf einer Veranda ruht.

»Wissen Sie, Herr May, daß ich einmal mit meinem Mann in Waldheim war?«

Diese Stimme ist hinter ihm, die Stimme von Frau Münchmeyer klingt über seinem Kopf, da wird ihm bewußt, daß er sitzt, während die Frau steht, er drückt sich eilig hoch und wendet sich halb zu ihr. »Ich kenne nichts von Waldheim außer« – er will sagen: außer dem Zuchthaus, er fürchtet, es klänge erkältend in diesem Zimmer und zu dieser Stunde.

»Natürlich logierten Sie nicht im Gasthof.« Die Stimme Münchmeyers dröhnt halb unter May, ein Meckern folgt. May hat die Knie eingeknickt, da ruft Fräulein Ey: »Die Suppe, wollt ihr schon die Suppe?«

Er findet aus seiner halb stehenden, halb zur Seite gedrehten Haltung heraus und in den Sessel hinunter, er lächelt Münchmeyer an; als er sich dieses Lächelns bewußt wird, erschrickt er: Es gibt keinen Grund dafür. »Nach Waldheim bin ich zu Fuß«, dringt es von seiner Zunge, »von Mittweida.« An einen Gendarmen gekettet, ein zweiter ging hinterher, aber das erwähnt er nicht. »Und fort bin ich mit der Eisenbahn. Den Berg zum Bahnhof hinauf.« Von dort und vom Zug aus sah ich noch einmal das Zuchthaus – auch das bleibt ungesprochen.

»Also die Suppe!« Minna Ey ruft, Münchmeyer macht schnaufend eine Handbewegung: Was soll man tun gegen diese Diktatur!

Zwischen den Schwestern findet er Platz und plagt sich mit der Überlegung ab, wer von beiden seine Tischdame sei, wer er vorzulegen habe – hat er vorzulegen? Das Mädchen serviert Brühe mit Eierstich. »Nehmen Sie sich von den Croutons«, bittet Frau Münchmeyer. »Ich weiß nicht, ob Sie sehr verwöhnt sind.« So konversiert sie jedesmal, wenn sie Rebhühnercroutons serviert. »Nein, gar nicht«, er errötet und beugt sich über den Teller, um es zu verbergen. Sein rechter Unterarm bleibt auf dem Tisch liegen, während er den Löffel zum Mund führt, das merkt er und richtet sich erschrocken auf, kommt ins Husten, beinahe ins Prusten, von einer Sekunde auf die andere beginnt er zu schwitzen.

»Joi, joi, joi«, begütigt Münchmeyer. »Bißchen heiß vielleicht?«

»Nehmen Sie sich Zeit, Herr May.« Pauline Münchmeyer legt den Löffel auf den Tellerrand. Vielleicht sollte man sich gar nicht mehr um diesen Stiesel kümmern, irgendwie wird er sich durchwursteln. Was tut man nicht alles für die Firma! Für den hätte eine Kaffee-Einladung genügt. Diese Krawatte, mein Gott! Ob Minna ihn noch immer rührend findet? Ach, Schwesterchen, du mit deinem Männergeschmack!

May beißt in ein Crouton wie Münchmeyer, kaut langsam wie Münchmeyer, nickt schmeckerisch. »Wunderbar zur Suppe!« Münchmeyer hat schon zu Ende gelöffelt, May holt auf. Tischunterhaltung bröckelt: Frau Münchmeyer fühle sich noch immer beengt: Was jetzt in Strießen für herrschaftliche Wohnungen gebaut würden, sechs Zimmer, eine ganze Etage! Münchmeyer, der nicht möchte, daß May glaubt, der Verlag werfe Unsummen ab, brummt, die Miete für diese Wohnung hier sei happig genug. Neue Möbel kämen ja gar nicht in Frage. Wer in der Krise Sprünge mache, fliege aufs Kreuz, man kenne Beispiele. Wo der Verlag im Wandel sei. Frau Münchmeyer schwärmt: Ein orientalischer Salon mit Löwenfell und arabischem Segel, wie heißt es doch gleich? May weiß es, hat aber den Mund voll, und ehe er gekaut und geschluckt hat, redet Minna von Papierpreisen, Druckerlöhnen – Münchmeyer wiederholt nicht sonderlich freundlich: Bleibt auf dem Teppich! Zum Hammelrücken nimmt May zuviel Soße und quetscht die Kartoffeln hinein zu einem mißfarbenen Brei. Beim Aufblicken sieht er, wie Fräulein Ey belustigt seinen Teller mustert, da meint er, seine Schultern zögen sich wie im Krampf zusammen; wenn es schlimmer werden sollte, wird er die Arme nicht mehr bewegen können, dann fallen ihm Messer und Gabel aus der Hand und klirren gegen den Tellerrand, Frau Münchmeyer wird davonstürzen. Um dieser Furcht zu begegnen, muß er sich aufrichten, er streckt sich, daß Münchmeyer fragt: »Haben Sie sich verschluckt?« May schüttelt den Kopf, nein, gar nicht.

Über Käsestangen quält er sich dem Ende der Mahlzeit zu, eine Viertelstunde später weiß er schon nicht mehr, was er gegessen hat. Da ärgern sich in der Küche die Schwestern, diesen verklemmten Kerl zum Essen geladen zu haben. Man ist kein Nachhilfeinstitut für Zukurzgekommene. Das nächste Mal setzt man Bratwurst und Bier vor. Das Dienstmädchen kreischt. Minna Ey: »Aber er hat mir leid getan!«

»Lad ihn noch mal ein und gib ihm Unterricht, wie man das Messer anfaßt.« Das sollte ein Spaß sein, aber Minna lacht nicht.

Drin im Herrenzimmer verbreitet sich der Verleger indessen über die Krise, in die manche Unternehmen gestürzt sind. Viel zuviel Geld war im Umlauf durch die fünf französischen Milliarden, zu hektisch sind manche Aktiengesellschaften an den Ausbau gegangen. Wer nichts verdient, kauft keine Zeitschrift; wenn sich die Zusammenbrüche häufen, wird sich das auch für das Haus Münchmeyer bemerkbar machen. Also behutsam einen Schritt nach dem anderen. »Mal zur Sache: Was hielten Sie davon, Redakteur des ›Beobachters‹ zu werden?«

»Ich muß mich ja ständig in Ernstthal melden.«

»Vielleicht schaffen Sie die Arbeit an einem Tag.« Natürlich müsse sich May einige Praktiken aneignen im Umbruch, im Korrigieren der Satzfahnen und so weiter, aber das sei erlernbar. Man könne es einrichten, daß May dem jetzigen Redakteur, der sich verändern wolle, über die Schulter schaue. Münchmeyer weiß, daß er auf solche Weise einen Hilfsredakteur gewinnt, der umsonst arbeitet. »Vielleicht, daß Sie sich bis zum März eingewöhnen?«

May ringt sich durch: »Und das Gehalt?«

»Wird sich nach Ihrem Können richten.« Münchmeyer bietet eine Zigarre an und nimmt sich vor, wenn sie aufgeraucht ist, zu verstehen zu geben, daß damit die Einladung ihr Ende habe. Kein Likör, er hat sich großzügig genug gezeigt. Mitleid mildert seine Stimmungslage: Mein Gott, vor fünf, sechs Jahren haben seine Frau und er auch noch nicht von Porzellan gegessen, ihr Einkommen ist explodiert. Pauline übertreibt, keine Frage. May muß sich in dieser Umgebung doppelt als der arme Schlucker vorkommen, der er ist. Immerhin, er erkennt seine Grenzen.

»Vielleicht, daß wir so verbleiben: Sie machen sich mit der Redaktionsarbeit vertraut. Die letzte Entscheidung vertagen wir?« Münchmeyer legt Jahrgangsmappen auf den Tisch, zeigt, hier und da wird man verändern müssen. Gerichtsberichte, Marktberichte, Anekdoten aus dem Heer. Natürlich immer wieder Erinnerungen von Teilnehmern des Einigungskrieges. Schulter an Schulter mit Bayern und Preußen. Das hier ist superb: Ein sächsischer Füsilier rettet vor Paris einem Preußen das Leben und verliert dabei sein eigenes. Vorher erkennen beide: Vier Jahre vorher haben sie bei Königgrätz gegeneinander gefochten. »Übrigens, ein Kriegerverein braucht für seine Zeitschrift ein Gedicht über unseren König. Seine Schlachten, na eben ’n Heldenepos.«

»Ich könnt’s versuchen.«

»Ein Freund vom Stammtisch hat mich gefragt. Viel springt nicht dabei heraus, aber Kleinvieh – schaffen Sie’s bis nächste Woche?«

Ja, verspricht May, ja. Er hat aufgeraucht; über Münchmeyer hängt das Bild mit dem verwundeten Krieger, aus der Zimmerecke heraus biegt sich ein Palmwedel halb davor. Schwere überkommt May vom Essen und nervlicher Anspannung. Münchmeyer müßte sich auflösen, eine Frau müßte eintreten, sanft, mit weißen Armen. Wieder Schritte auf dem Korridor, da schrickt er auf. »Ich darf mich verabschieden, Herr Münchmeyer. Ihrer Frau Gemahlin …«

»Sie hat sich ein wenig hingelegt.«

»Dann darf ich bitten …«

Münchmeyer steht schon, ehe May aus dem Sessel findet. Auf dem Korridor setzt May noch einmal zu Dankessätzen an, aber Münchmeyer unterbricht: »Am Dienstag wie immer.«

Drei Tage lang quält sich May wegen seines mißlungenen Debüts, immer wieder fällt ihm ein, wie Minna Ey auf seinen Teller gestarrt hat. In einem Geographiebuch schlägt er nach und übernimmt, daß die Inder seit 3102, die Chinesen seit 2449 und die Babylonier seit 2107 vor Christi Geburt astronomische Beobachtungen anstellten. Er schreibt: Wer verspürte keine Demut angesichts dieser Zahlen!

Zum erstenmal schaut er zu, wie Druckseiten umbrochen werden. Ein Metteur redet ihn mit du an, May kontert scharf: »Ich bin kein Lehrling!«

Der Metteur blickt erstaunt über die Brillengläser. »Lehrlinge brauchen keinen Einstand zu geben.« Die Setzer brüllen vor Lachen.

Am Abend reimt er:

Horch, klingt das nicht wie ferner Schwerterklang?

Die Marsch bebt unter dampfenden Schwadronen.

Es jagt der Tod den weiten Plan entlang.

Und erntet unter brüllenden Kanonen.

Bei Düppel ist’s, des Dänen trotzger Sinn

will deutsches Recht in deutschen Landen beugen …

Erst das Reimpaar notieren: Mit goldnem Stift – Schrift. Jahren – Scharen. Grauen – Vertrauen. Weiter im Rhythmus:

Denn die Geschichte schreibt mit goldnem Stift

Und mißt Triumphe nicht nach kurzen Jahren.

Drum glänzt es fort in heller Flammenschrift:

»Der Löwe Sachsens ist’s mit seinen Scharen!«

Durch Böhmens Wälder wälzt sich wild die Flut,

Ein Einziger steht ohne Furcht und Grauen …

Die Niederlage bei Königgrätz sollte er nicht ausmalen, Albert focht auf der unterliegenden Seite. Doch den Rückzug, liest man allenthalben, soll er glänzend organisiert haben. Rasch zum Einigungskrieg: Scharen – Haaren – Paaren – waren – fahren. Er läßt sich einwiegen, die nächsten Strophen schwingen wie von selbst:

Wer sind die Helden, die mit Eisenarm

Die fränkischen Cohorten niederschlugen

Und in der Feinde dichtgedrängten Schwarm

Mit starker Faust die Fahnen Deutschlands trugen?

Dem Frager naht ein bärtiger Sergeant,

Des Tages Spur in den zerzausten Haaren.

»Die Leute, Herr, sind uns gar wohl bekannt:

Der Löwe Sachsens ist’s mit seinen Scharen!«

Abermals Schlachtgetümmel, Fanfaren, Sieg und deutsche Einheit, der Held kehrt in sein Land zurück, die Wogen der Siegesfreude schlagen über ihm zusammen. Friede nun: Gezückt – gerückt – entzückt – beglückt. Erst einmal den Schluß:

Nehmt den Pokal, das volle Glas zur Hand,

Erhebt den Blick zum freien deutschen Aaren,

Und hell und jubelnd schall es durch das Land:

»Der Löwe Sachsens hoch mit seinen Scharen!«

May überliest, Verwunderung überkommt ihn, wie rasch ihm dieses Poem gelungen ist. Unter den Titel schreibt er: »Rückblick eines Veteranen.«

Drei Tage später liest Münchmeyer das Gedicht. Kein Lob, kein Tadel. »Die Leute werden’s nehmen. Kommen Sie mit dem Umbruch zurecht?«

Ja, ja. Er fühlt Druck auf der Brust, der rührt nicht vom Rauchen, nicht vom krummen Sitzen in den Nächten her. Nur einer würde ihn jetzt verstehen: Kochta.

Münchmeyer schlägt eine Zeitschrift auf und mäkelt: Die paar Zeilen hier hätte May nicht umlaufen lassen sollen, so was kürzt man raus, hier meinetwegen: Weg mit dem Absatz, verstehen Sie? Also nächstes Mal!

Nachmittags umrundet er Häuserblocks in der Nähe seines Zimmers. Es ist diesiger Herbst, die Nebel der Elbe sind über die Ufer gedrungen und füllen die Stadt. An solch einem Tag, entsinnt er sich, an dem es nie richtig hell wird, hat sich in Waldheim ein Züchtling erhängt.

Eine Schankwirtschaft betritt er, kein Kunde ist darin, der Besitzer verbeugt sich. May läßt sich Kästchen zeigen, schnuppert. Etwas Besonderes suche er, nicht zu schwer, dennoch Format. »Eine Zigarre mit Charakter«, der Wirt wagt sich eine Preisstufe höher. May nennt Importfirmen aus Bremen, diese Namen standen auf den Ballen, die er in Waldheim auftröselte.

»Ich bekomme nächste Woche eine exquisite Sorte.«

»Schicken Sie mir bitte davon ein Dutzend zur Probe. Heute nehme ich zwei Dutzend von diesen.«

»Sehr gern, der Herr. Wohin darf ich …«

May überreicht eine Visitenkarte. Der Wirt liest. »Verbindlichsten Dank, Herr Doktor!«

An diesem Abend arbeitet er weiter an der Geschichte des Försterssohns Brandt, die Feder gleitet. Fünf Seiten, eine Zigarre, eine Pause während der ersten Züge. »Eine gewaltige, hoffnungslose Liebe lag zusammengepreßt in der Tiefe ihres Herzens. Die gewaltige Expansivkraft derselben bedurfte nur eines Funkens, um die Explosion, die Eruption hervorzubringen, welche in dieser Schicksalsstunde sich Bahn brach.« Sechs Seiten, vielleicht mit einem Ruck bis Seite zehn. Er kennt das füllende Mittel der direkten Rede:

»Wozu?«

»Fragt der Mensch auch noch dieses!«

»Nun, was denn?«

»Der Hausers Eduard ist futsch!«

»Ah! Sapristi!«

»Und die Engelchen ist futsch!«

»Oh!«

»Ja, aber zu Hause ist er nicht gewesen!«

»Ja, ich weiß es!«

»Was, Sie wissen es?«

»Ja.«

»Und das sagen Sie so ruhig?«

»Wie soll ich es denn sagen?«

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Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
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470 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783954627240
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Правообладатель:
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