Читать книгу: «Die Bestie im Menschen», страница 4

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Sie fiel erschöpft und von dem abermaligen Getute erschreckt in den Stuhl zurück. Misard war es, der auf der Schwelle seiner Wächterbude einen nach Havre gehenden Zug meldete. Trotz ihrer hartnäckigen Weigerung, ihm die Erbschaft anzuvertrauen, empfand sie dennoch eine heimliche, stetig zunehmende Angst vor ihm, die Furcht des Kolosses vor dem Insect, von dem er sich angefressen fühlt. Der signalisirte Zug, ein Lokalzug, der Paris um zwölf Uhr fünfundvierzig Minuten verlassen hatte, meldete sich durch dumpfes Rollen. Man hörte ihn den Tunnel verlassen, sein lauteres Keuchen unter freiem Himmel. Unter dem Donner seiner Räder passirte er dann mit der ganzen Wucht seiner Waggons wie ein unwiderstehlicher Sturmwind.

Jacques erhobene Augen sahen die kleinen quadratförmigen Wagenscheiben vorüberfliegen, hinter welchen die Köpfe der Reisenden wie im Fluge sichtbar wurden. Er wollte Phasie von ihren düstern Gedanken abbringen und sagte:

»Sie beklagen sich, liebe Pathe, nie eine Katze in diesem Loch zu sehen und, blicken sie dorthin, haben da eine ganze Welt!«

»Wo? Eine Welt?« fragte sie erstaunt, weil sie nicht gleich begriff. »Ach so vorüberfahrende Leute. Da habe ich etwas Rechtes! Ich kenne sie weder noch kann ich mich mit ihnen unterhalten.«

»Aber mich kennen Sie doch,« meinte er, noch immer lächelnd, »ich komme doch oft genug hier vorüber?«

»Dich kenne ich allerdings; ich weiß, um wieviel Uhr Dein Zug hier vorbeikommt und ich passe Dir auf. Aber Du jagst vorbei, vorbei! Gestern hast Du so mit der Hand gemacht; ich konnte leider nicht antworten ... Nein, nein, auf diese Weise verkehre ich nicht gern mit der Welt.«

Allein die Vorstellung von der Menschenmenge, welche die hin und her verkehrenden Züge durch die schweigende Oede täglich an ihr vorüberschleppten, stimmte sie doch nachdenklich und so blieb ihr Auge auf den Geleisen haften, auf welche bereits die Nacht herniedersank. Als sie noch auf ihren Füßen stand und ab und zu ging, ja, selbst wenn sie mit der Fahne im Arm vor der Barriere stand, hatte sie an dergleichen nie gedacht. Aber wirre, ihr selbst nicht faßbare Träumereien summten ihr durch den Kopf, seit sie ihre Tage auf diesem Stuhle zubrachte und an nichts weiter zu denken hatte, als an ihren stumpfsinnigen Kampf mit ihrem Manne. Es erschien ihr drollig, so verlassen in dieser Einode leben zu müssen und dabei täglich ununterbrochen einen Strom von Männern und Frauen im Sturmwind der dampfenden Eisenbahnzüge, die das Haus erzittern machten, vorüberflüchten zu sehen. Wohl möglich, daß dort die ganze Welt passirte, nicht nur Franzosen, auch Fremde, Leute aus fernen Gegenden. Heutzutage bleibt ja keiner mehr zu Hause hocken und, wie es hieß, würden ja alle Völker bald ein einziges bilden. Das heißt man Fortschritt. Alle sollen Brüder sein und gemeinsam in das gelobte Land fahren. Sie versuchte sie zu zählen, einen Durchschnitt zu finden, so und so viel in jedem Waggon: aber sie kam nicht weit, es wurden ihrer zu viele. Oft glaubte sie Physiognomien zu erkennen, die eines Herrn mit blondem Barte, gewiß ein Engländer, der in jeder Woche einmal nach Paris fuhr; oder die einer kleinen brünetten Dame, welche jeden Mittwoch und Sonnabend vorüberkam. Aber wie der Blitz waren sie wieder fort, sie war nicht einmal sicher, ob sie jene auch wirklich gesehen habe, denn die Gesichter tauchten ineinander, verwischten sich und verschwanden eins in das andere, als wären sie alle von einer Form und einem Aussehen. Der Strom fluthete vorüber und hinterließ keine Spuren seines Daseins. Besonders aber stimmte es sie traurig, daß während dieses ewigen Vorbeirollens, inmitten dieses spazieren gefahrenen Wohllebens und Reichthums, diese fortwährend in Bewegung befindliche Menschenmenge von Phasie's Dasein keine Ahnung hatte, nicht wußte, daß diese sich in Lebensgefahr befand, ja daß, wenn ihr Mann eines Abends sein Werk vollbracht haben würde, selbst dann die Eisenbahnzüge beständig sich neben ihrem Leichname kreuzen und nicht einmal das im Innern dieses einsamen Häuschens begangene Verbrechen beargwöhnen würden.

Phasie's Augen blieben am Fenster haften. Ihre wirren Empfindungen zu erklären, dazu hätte es einer längeren Zeit bedurft, sie faßte daher ihre Gedanken kurz so zusammen:

»Solche Eisenbahn ist eine schöne Erfindung, darüber ist weiter kein Wort zu verlieren. Man reist schnell, man ist weiser geworden ... Aber wilde Thiere bleiben wilde Thiere und wenn man selbst noch bessere Maschinen erfinden würde, wilde Thiere würde es immer geben.«

Jacques nickte bejahend mit dem Kopfe. Er sah soeben, daß Flore einem Karren, der zwei mächtige Steinblöcke führte, die Barriere öffnete. Die Landstraße wurde fast ausschließlich vor den Kärrnern aus Bécourt benutzt; es kam daher höchst selten vor, das Flore des Nachts aufstehen mußte, um die mit einem Vorlegeschloß versehene Barriere zu öffnen. Als er das Mädchen vertraut mit dem Kärrner, einem jungen gebräunten Manne, plaudern sah, rief er aus:

»Oho! Cabuche ist wohl krank, sein Vetter Louis fährt ja sein Gespann? ... Der arme Cabuche, sehen Sie ihn oft, Pathe?«

Sie hob die Hände ohne zu antworten und seufzte tief auf. Es hatte sich im vergangenen Herbst hier ein Drama abgespielt, das gewiß nicht geeignet war, ihr die Gesundheit wiederzugeben: ihre jüngere Tochter Louisette, welche als Hausmädchen bei Frau Bonnehon in Doinville diente, hatte sich eines Abends, halb wahnsinnig, zu ihrem guten Freunde Cabuche geflüchtet, der mitten im Walde ein Häuschen besaß, und war in seinen Armen gestorben. Es liefen Gerüchte umher, die den Präsident Grandmorin eines Verbrechens gegen die Sittlichkeit beschuldigten, aber man wagte nicht, sie sich laut zu wiederholen. Die Mutter selbst, die wohl genau wußte, wie die Sache lag, vermied es, auf diesen dunklen Punkt zurückzukommen. Heute aber sagte sie doch:

»Nein, er kehrt nicht mehr bei uns ein. Er wird immer mehr zum bissigen Wolf ... Die arme Louisette, dieses liebe, zarte, sanfte Geschöpf! Sie würde mich gewiß geliebt und gepflegt haben, während Flore ... Du lieber Gott, ich will mich gewiß nicht beklagen, aber sie hat so etwas Störendes an sich, es muß alles nach ihrem Kopf gehen, hoch hinaus ist sie und heftig, und manchesmal bleibt sie stundenlang fort ... Alles das ist so traurig, so sehr traurig!«

Jacques Blicke folgten dem Wagen, der jetzt über die Schienen rollte, während er aufmerksam zuhörte. Die Räder blieben oft an den Geleisen hängen und der Fuhrmann mußte mit der Peitsche knallen, während Flore durch Schreien die Pferde anfeuerte.

»Teufel auch,« meinte Jacques, »wenn jetzt ein Zug käme, das gebe einen netten Brei!«

»Keine Furcht,« antwortete Tante Phasie. »Flore ist mitunter höchst eigenthümlich, aber sie kennt ihr Geschäft und ist sehr umsichtig ... Gott sei Dank, in den letzten fünf Jahren ist hier nichts vorgekommen. Vordem wurde ein Mann gerädert. Wir haben es nur mit einer Kuh zu thun gehabt, die beinahe den ganzen Zug zur Entgleisung brachte. Man hatte den Körper des armen Thieres hier und den Kopf dort unten, dicht beim Tunnel, gefunden ... Wenn Flore wacht, kann man auf beiden Ohren schlafen.«

Der Karren war glücklich hinüber, man hörte das Knirschen der Räder in den Geleisen ferner und ferner. Phasie's Gedanken kehrten zu ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Kapitel des körperlichen Wohlbefindens von sich und anderen, zurück.

»Und Dir geht es jetzt ganz gut? Erinnerst Du Dich noch an die Krankheit, an welcher Du bei uns littest und für die selbst der Arzt keinen Namen fand?

Sein Blick flimmerte unstät.

»Mir geht es sehr gut, Pathe.«

»Wirklich? Also der Schmerz hinter den Ohren, der Dir das Gehirn zu durchbohren schien, die plötzlichen Fieberanfälle und die jähe Schwermuth, die Dich wie ein Thier in einen einsamen Winkel niederzukauern zwang, alles das hat aufgehört?«

Je mehr sie sprach, desto heftiger wurde in ihm das Gefühl der Uebelkeit, so daß er sie schließlich kurz angebunden unterbrechen mußte.

»Ich versichere Sie, es geht mir ausgezeichnet ... Mir fehlt gar nichts mehr.«

»Desto besser, mein Junge, desto besser ... Wenn es Dir auch schlecht ginge, mit mir stände es deshalb doch nicht anders. In Deinem Alter ist man auch immer gesund. Ach, die Gesundheit, es giebt nichts Schöneres .. Es ist jedenfalls hübsch von Dir, daß Du mich besuchst, anstatt Dich sonstwo besser zu unterhalten. Du issest bei uns und schläfst oben in der Vorrathskammer, neben Flore's Zimmerchen.«

Noch einmal schnitt ihr das Signalhorn das Wort ab. Die Nacht war nun vollständig hereingebrochen. Als Beide zum Fenster hinausblickten, unterschieden sie nur undeutlich die Umrisse von Misard und einem zweiten Manne. Es hatte soeben sechs geschlagen und Misard übergab den Dienst seinem Stellvertreter, der die Nachtwache hatte. Jetzt war er endlich frei, nachdem er zwölf Stunden in dieser nur mit einem Tische unter der Apparatplatte, einem niedrigen Stuhle und einem Ofen ausgestatteten Bude zugebracht hatte, dessen zu starke Gluth ein forwährendes Offenhalten der Thür verlangte.

»Aha, da ist er, er wird gleich kommen,« murmelte Tante Phasie, von Furcht ergriffen, vor sich hin.

Der signalisirte Zug kam mit dem von Sekunde zu Sekunde lauter werdenden Getöse wuchtig näher. Der junge Mann mußte, gerührt von dem elenden Zustande, in welchem er sie sah und bemüht, sie zu trösten, sich vorbeugen, um verständlich zu werden.

»Hören Sie, Pathe, sollte er wirklich schlechte Gedanken haben, so läßt er sie vielleicht fallen, wenn er weiß, daß ich mich hineinmische ... Sie thaten gut, mir die tausend Franken anzuvertrauen.«

»Meine tausend Franken?« rief sie empört. »Weder Dir noch ihm ... Lieber krepire ich, sage ich Dir!«

In diesem Augenblick sauste der Zug mit orkanartiger Gewalt vorüber, als hätte er alles, was ihm im Wege stand, zerschmettert. Vom Winde gefaßt erbebte das Haus. Dieser nach Havre bestimmte Zug war sehr besetzt, denn am kommenden Sonntage sollte dort ein Fest, der Stappellauf eines Schiffes, gefeiert werden. Trotz der Schnelligkeit des Zuges hatte man das Gefühl, daß hinter den erleuchteten Scheiben die Koupees voller Menschen steckten, die Vision einer Reihe dicht gedrängter Köpfe, deren Profil man genau erkannte. Sie folgten sich und verschwanden. Welch eine Welt! Menge auf Menge, schier endlos inmitten des Rollens der Wagen, des Keuchens der Lokomotiven, des Anschlagens des Telegraphen und des Läutens der Glocken. Das Eisenbahnnetz, ein niedergekauertes riesenhaftes Wesen schien es zu sein, mit dem Kopfe in Paris, den Wirbelbeinen längs der ganzen Strecke der Linie, den Füßen und Händen in Havre und den andern Endpunkten. Und das zog und zog vorüber, mechanisch, triumphirend, der Zukunft entgegen mit einer mathematischen Genauigkeit, freiwillig verkennend, was ihm zu beiden Seiten, verborgen und doch lebendig im Menschen zurückgeblieben ist: die ewige Leidenschaft und das ewige Verbrechen.

Flore war die erste, welche die Küche betrat. Sie zündete eine kleine Petroleumlampe an, die keinen Lichtschirm hatte, und stellte sie auf den Tisch. Kein Wort wurde gewechselt, kaum ein Blick glitt zu Jacques hinüber, der den Rücken ihr zugekehrt, am Fenster stand. Auf dem Herde hielt sich eine Kohlsuppe warm. Sie servirte sie gerade, als auch Misard erschien. Er bezeugte keine weitere Ueberraschung, den jungen Mann hier zu erblicken. Er hatte ihn vielleicht kommen gesehen, aber er fragte ihn nicht, er kannte eben keine Neugierde. Ein Händedruck, drei kurze Worte, nichts weiter. Jacques mußte aus sich heraus die Geschichte von der gebrochenen Treibstange, seiner Absicht, seine Pathe zu umarmen und hier zu übernachten nochmals wiederholen. Misard hatte durch ein sanftes Neigen des Hauptes sein Einverständniß mit alledem zu erkennen gegeben, man setzte sich und aß ohne Hast, zunächst schweigsam. Phasie, die schon seit dem Morgen den Napf nicht außer Acht gelassen hatte, in welchem die Krautsuppe kochte, ließ sich auch einen Teller voll reichen. Aber als sich ihr Mann erhoben hatte, um ihr das von Flore vergessene Eisenwasser zu reichen, eine Karaffe, in welcher Nägel schwammen, nahm sie nichts. Er, demüthig und dienstbar, mit einem krankhaften Husten behaftet, sah nicht so aus, als ob er die ängstlichen Blicke bemerkte, mit denen sie seine geringsten Bewegungen verfolgte. Als sie Salz verlangte, welches auf dem Tische nicht zu sehen war, sagte er zu ihr, sie würde es noch einmal bereuen, so viel Salz zu essen, das mache sie gerade krank. Er erhob sich, um es zu holen und brachte ihr in einem Löffel ein paar Finger voll. Das Salz nahm sie voll Vertrauen; es reinige Alles, meinte sie. Dann sprach man von der seit einigen Tagen eingetretenen wirklich warmen Witterung, von einem in Maromme vorgekommenen Unglücksfall. Jacques mußte schließlich glauben, daß seine sonst so aufgeweckte Pathe an Alpdrücken leiden müsse, denn er konnte nichts in dem Benehmen des gefälligen Männchens mit den farblosen Augen entdecken, was zum Mißtrauen herausforderte. Länger als eine Stunde saß man beisammen. Viermal war Flore beim Tönen des Signalhornes auf einen Augenblick verschwunden. Die Züge jagten vorüber und brachten die Gläser auf dem Tische zum Klirren, aber keiner der Tischgenossen schenkte ihnen irgend welche Aufmerksamkeit.

Abermals ein Signal mit dem Horn, doch diesmal kam Flore, die soeben abgedeckt hatte, nicht zurück. Sie ließ ihre Mutter und die beiden Männer bei einer Flasche Apfelweinschnaps allein. Die drei blieben noch eine halbe Stunde sitzen. Dann nahm Misard, der vorher seine Blicke einen Augenblick forschend auf eine Ecke des Gemaches gerichtet hatte, seine Mütze und schritt mit einem einfachen Guten Abend zur Thür hinaus. Er wilddiebte in den Bächen der Nachbarschaft, in denen es prächtige Aale gab, und er ging nie eher schlafen, bis er seine Netze gründlich visitirt hatte.

Kaum war er fort, sah Phasie ihren Pflegesohn bedeutsam an.

»Glaubst Du nun? Hast Du gesehen, wie sich sein Blick dort in die Ecke wühlte? ... Es ist ihm nämlich gerade eingefallen, ich könnte meinen Schatz dort hinter dem Buttertopf verborgen haben ... O, ich kenne ihn, ich weiß genau, daß er heute Nacht den Topf von der Stelle rücken wird.«

Ein plötzlicher Schweiß drang durch die Poren ihres Körpers und ein heftiges Zittern schüttelte ihre Glieder.

»Da, sieh her, auch das noch! Er wird mir zu viel eingegeben haben, ich habe einen bittern Geschmack im Munde, als ob ich alte Sousstücke verschluckt hätte. Gott weiß, warum ich durchaus nichts von ihm nehmen will. Man möchte am liebsten gleich in's Wasser gehen. Heute Abend geht es leider nicht mehr, weil ich jetzt zu Bett muß. Also lebe wohl, mein Junge, da Du schon um sieben Uhr sechsundzwanzig Minuten abfährst, werde ich Dich nicht mehr sehen können. Und Du kommst bald wieder? Wir wollen hoffen, daß Du mich hier noch vorfindest.«

Er half ihr in ihr Zimmer, wo sie sich hinlegte und auch sofort zusammengekauert einschlief. Allein geblieben, zögerte er einen Augenblick und überlegte, ob er auch nach oben steigen und sich auf das Heu in der Vorratskammer strecken sollte. Die Uhr war aber jetzt erst dreiviertel auf acht, also es noch zu früh zum Schlafen. Er verließ das Gemach und ließ die kleine Petroleumlampe in dem leeren, träumenden Häuschen brennen, das von Zeit zu Zeit durch den jähen Donner eines vorüberfahrenden Zuges erschüttert wurde.

Draußen fühlte sich Jacques von der Milde der Luft angenehm überrascht, welche Regen zu verkünden schien. Eine gleichmäßige, milchartige Wolke hatte den ganzen Himmel überzogen und der hinter ihr verborgene unsichtbare Vollmond tauchte das Himmelsgewölbe in einen röthlichen Schimmer. Weit hinein sah er in das Land, dessen im friedlichen Schlummer ruhende Wiesen, Abhänge und Bäume sich in diesem gleichmäßigen todten Lichte dunkel abhoben. Er durchschritt den kleinen Küchengarten, dann wollte er nach Doinville zu spazieren gehen, weil die Straße nach jener Richtung weniger schroff aufstieg. Aber der Anblick des jenseits des Eisenbahndammes schräg aufsteigenden, einsamen Hauses zog ihn an; da die Barriere schon für die Nacht geschlossen war, überschritt er die Geleise bei dem Pförtchen. Er kannte dieses Haus sehr gut, denn er sah es ja auf jeder Fahrt beim Dröhnen seiner brummenden Maschine. Eine unklare Empfindung, die sein Anblick hervorrief, ärgerte ihn, er wußte selbst nicht, warum. Jedesmal fürchtete er, es könnte verschwunden sein, und erboste sich, wenn er es noch an derselben Stelle vorfand. Noch nie hatte er die Thüren oder Fenster offen gesehen. Er wußte nichts weiter, als daß es dem Präsidenten Grandmorin gehörte. An diesem Abend aber trieb ihn ein unstillbares Verlangen dorthin, um vielleicht mehr zu erfahren.

Lange stand Jacques auf der Landstraße vor der Pforte. Er trat einige Schritte zurück, reckte sich in die Höhe und versuchte, sich klar zu werden. Der den Garten theilende Bahndamm hatte vor dem Hause ein schmales, von Mauern umschlossenes Parterre übrig gelassen; weiter hinten dagegen weitete sich ein ziemlich ausgebreitetes Terrain, welches nur von einer lebenden Hecke eingefriedet war. Im röthlichen Wiederschein dieser nebligen Nacht machte das Haus in seiner Verlassenheit einen unsäglich traurigen Eindruck. Jacques überlief es kalt und er wollte eben weiter gehen, als er ein Loch in der Hecke bemerkte. Der Gedanke, daß es feige wäre, nicht hineinzugehen, trieb ihn durch die Lücke. Sein Herz schlug zum Brechen. Doch gerade, als er an einem zerfallenen kleinen Gewächshause vorüberschreiten wollte, bannte ihn ein an der Thür desselben kauernder Schatten.

»Wie, Du bist es?« rief er erstaunt, er hatte Flore erkannt. »Was thust Du hier?«

Auch sie war überrascht zusammen gefahren.

»Du siehst,« sagte sie jedoch gleich gefaßt, »ich hole mir Stricke. Es liegen hier so viele umher und faulen, ohne zu etwas zu nutzen. Daher hole ich sie mir, so oft ich welche gebrauche.«

In der That hockte sie mit einer starken Scheere in der Hand am Boden. Sie entwickelte die Enden der Stricke und durchschnitt widerstrebende Knoten.

»Kommt der Eigenthümer nie hierher?« fragte der junge Mensch.

Sie lachte.

»Pah, seit der Geschichte mit Louisette hat es keine Gefahr. Der Präsident wird es nicht wagen, auch nur seine Nasenspitze in la Croix-de-Maufras hineinzustecken. Ich kann unbesorgt ihm seine Stricke nehmen.«

Er schwieg und sein Gesicht trübte sich bei der Erinnerung an jenen unglücklichen Vorfall, den Flore wachrief.

»Und glaubst Du wirklich, was Louisette erzählte? Glaubst Du, daß er ihr nachstellte und daß sie sich bei ihrer Vertheidigung verletzte?«

Sie hörte auf zu lachen und rief heftig:

»Nie hat Louisette gelogen und Cabuche ebenso wenig ... Cabuche ist mein Freund.«

»Vielleicht jetzt auch Dein Geliebter?«

»Er? Da müßte ich ja eine famose Dirne sein! ... Nein, er ist mein Freund, einen Liebhaber habe ich nicht und will auch keinen.« Sie hatte ihren mächtigen Kopf aufgerichtet, dessen schwere, blonde Flechten tief in die Stirn hingen. Ihre ganze kräftige und geschmeidige Persönlichkeit strömte eine ungezähmte Entschlossenheit aus. Es hatte sich schon ein Märchen um ihre Person in der Umgegend gebildet. Man erzählte von ihr die wildesten Sachen: da hätte sie einen Wagen beim Herannahen eines Zuges mit einem Ruck von den Schienen gerissen, hier einen den Abhang von Barentin allein herunterlaufenden Waggon, dort einen wild gegen den Zug anstürmenden Stier aufgehalten. Diese Kraftproben machten kein geringes Aufsehen und natürlich waren alle Männer hinter ihr her. Da man sie stets auf den Feldern sah, sobald sie mit ihrer Arbeit fertig, oder in verborgenen Winkeln einsam, stumm und unbeweglich mit in die Luft starrenden Augen, so glaubte man zuerst, man würde mit ihr ein leichtes Spiel haben. Aber die ersten, welche das Abenteuer gewagt hatten, wagten es nicht zum zweiten Male. Sie liebte es, stundenlang in einem Bache in der Nähe nackt zu baden. Eines Tages hatten ihr gleichaltrige junge Männer sie dabei belauscht; Flore aber hatte sie gesehen und ohne sich erst die Mühe zu nehmen, ihr Hemd überzustreifen, hatte sie sich einen gelangt und ihn so zugerichtet, daß man sie fortan unbehelligt ließ. Dann erzählte man sich auch noch eine Geschichte von ihr mit einem Weichensteller von der Gabelung bei Dieppe, jenseits des Tunnels: ein gewisser Ozil, ein sehr ehrenhafter Mann von dreißig Jahren, dem sie Muth gemacht zu haben schien, versuchte es eines Abends auch, sie zu vergewaltigen. Er dachte sich die Sache sehr leicht, bekam aber einen Hieb mit dem Stock, daß er fast leblos liegen blieb. Ja, sie war eine kriegerische, jeder Gemeinheit abholde Jungfrau, und bald hatten es die Leute in der Gegend weg, daß sie ihren Kopf auf der rechten Stelle habe.

Als Jacques hörte, daß sie keinen Gefallen an einem Liebhaber hätte, fuhr er fort sie zu sticheln.

»Also wird aus Deiner Hochzeit mit Ozil nichts? Ich habe mir erzählen lassen, daß Du alle Tage mit ihm im Tunnel zusammentriffst.«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Pah, meine Hochzeit ... Im Tunnel, das wäre so ein Spaß! Zweieinhalb Kilometer im Dunkeln galoppiren in der steten Angst, von einem Zuge erfaßt zu werden, wenn man nicht die Augen offen hat. Man muß den Lärm hören, den so ein Zug da unten vollführt! .. Der Ozil war ein langweiliger Kerl. Er war noch nicht der rechte.«

»Du willst also einen Andern?«

»Ich weiß nicht, ich weiß wirklich nicht.«

Während sie sich mit dem Aufknüpfen eines Gewirrs von Knoten abquälte, ohne damit fertig zu werden, schüttelte sie ein abermaliges Gelächter. Ohne den Kopf zu heben, als wäre sie ganz vertieft in ihre Verrichtung, fragte sie:

»Und Du, hast Du schon eine Geliebte?«

Jacques wurde ernst. Seine Augen wandten sich zur Seite in die Nacht hinaus und flimmerten unstät.

»Nein,« antwortete er kurz.

»Es stimmt also,« meinte sie. »Man hat mir nämlich erzählt, daß Du die Frauen haßtest. Und dann kenne ich Dich auch nicht erst seit gestern. Etwas Liebenswürdiges bekommt man von Dir überhaupt nicht zu hören ... Warum ist das so?«

Er schwieg, sie ließ die Knoten fahren und blickte zu ihm auf.

»Liebst Du nur Deine Lokomotive? Man macht sich darüber schon lustig, wie Du weißt. Man behauptet, Du putztest sie in einem fort, um sie recht leuchten zu lassen, als hättest Du nur für sie Deine Zärtlichkeiten übrig. Ich darf Dir das schon sagen als Deine Freundin.«

Auch er betrachtete sie in der bleichen Helle des bedeckten Himmels. Er erinnerte sich, daß sie schon als kleines Kind heftig und eigensinnig gewesen war, aber so oft er kam, ihm mit der Leidenschaftlichkeit einer Wilden an den Hals sprang. Später verlor er sie mehrfach aus den Augen, jedesmal aber, wenn er sie wiedersah, schien sie gewachsen; trotzdem fiel sie auch dann noch ihm um den Hals, aber die Flammen in ihren großen, klaren Augen genirten ihn mehr und mehr. Jetzt war sie ein herrliches, begehrenswerthes Weib, er war zweifellos noch immer ihre Jugendliebe. Sein Herz klopfte heftig, er hatte das plötzliche Gefühl, daß er der von ihr Erwartete sei. Mit dem Blut zugleich aber stieg eine wachsende Verwirrung ihm zu Kopf, die ihn folternde Angst drängte ihn zunächst zur Flucht. Jedesmal, wenn das Verlangen nach einem Weibe in ihm aufstieg, wurde er wie toll und sah alles roth.

»Was stehst Du noch?« begann Flore von Neuem, »so setze Dich doch.«

Er zögerte abermals. Doch er fühlte seine Füße schwach werden und von dem Drange getrieben, es noch einmal mit der Liebe zu versuchen, ließ er sich neben sie auf den Haufen Stricke nieder. Er sagte nichts, da ihm die Kehle wie ausgedörrt schien. Sie, die Schweigsame, Stolze, schwatzte dagegen jetzt, daß sie kaum zu Athem kam. Sie schien sich betäuben zu wollen.

»Es war eine Dummheit von Mutter, Misard zu heirathen. Das wird ihr schlecht bekommen ... Mich geht es ja weiter nichts an, ich habe genug zu thun. Und will ich einmal dazwischen fahren, dann schickt mich Mutter zu Bett ... Mag sie sehen, wie sie mit ihm fertig wird. Ich lebe außerhalb des Hauses. Ich habe an zukünftige Dinge zu denken ... Ich habe Dich heute früh von einem Strauch aus, unter welchem ich saß, auf Deiner Lokomotive vorüberfahren sehen. Aber Du siehst ja nie hin ... Ich werde Dir auch sagen, woran ich immer denke, aber nicht jetzt, erst später, wenn wir erst vollständig gute Freunde geworden sind.«

Sie hatte die Scheere fallen lassen und er hatte, noch immer stumm, sich ihrer beiden Hände bemächtigt. Entzückt ließ sie sie ihm. Trotzdem durchzuckte sie, als er jene an seine brennenden Lippen führte, ein jungfräulicher Schrecken, die Kriegerin in ihr erwachte und bäumte sich bei dieser ersten Annäherung des Bösen streitbar auf.

»Nein, nein, lasse mich, ich will nicht ... Verhalte Dich hübsch ruhig, wir wollen plaudern ... Ihr Männer denkt nur an so etwas. Wenn ich Dir wiederholen wollte, was mir Louisette an dem Tage, als sie bei Cabuche starb, erzählt hat! ... Uebrigens wußte ich schon von der Unzucht des Präsidenten, denn er kam oft mit jungen Mädchen hierher ... Von einer vermuthet das kein Mensch, weil er sie später verheirathet hat ...«

Er hörte nicht hin, er hörte nicht zu. Er umschlang sie und drückte bei der brutalen Umarmung seinen Mund heftig auf den ihren. Ein halbunterdrückter Schrei, nein, mehr ein sanfter, von Herzen kommender Klageruf entschlüpfte ihr, das Geständniß ihrer so lange unterdrückten Liebe. Aber sie kämpfte und wehrte sich halb unbewußt. Sie wünschte ihn sich, trotzdem rang sie mit ihm, sie wollte von ihm besiegt sein. Wortlos, Brust an Brust, mit fliegendem Athem, suchte eines das andere unterzubekommen. Einen Augenblick schien sie die Stärkere zu sein. Sie würde ihn wahrscheinlich geworfen haben, so sehr er sich auch sträubte, wenn er sie nicht an der Kehle gepackt hätte. Die Taille sprang auf und die beiden festen, von dem Ringen geschwollenen Brüste schimmerten wie flüssige Milch durch das Dunkel. Sie sank auf den Rücken, sie gab sich besiegt.

Anstatt seinen Sieg zu benutzen, kniete er, an allen Gliedern zitternd, athemlos vor ihr und starrte sie an. Dann schien ihn eine Wuth, eine Wildheit zu packen, seine Augen suchten nach einer Waffe, einem Steine, nach irgend etwas, um sie zu tödten. Seine Blicke entdeckten die aus dem Gewirr der Knoten hervorleuchtende Scheere. Er griff nach ihr und war schon im Begriff, sie in den weißen Hals, zwischen die rosig schimmernden weißen Brüste zu tauchen, als ihn ein eisiger Schauder ernüchterte. Er warf die Scheere von sich und entfloh wie wahnsinnig, während sie mit geschlossenen Augenlidern liegen blieb und nicht anders dachte, als daß er sie verschmähte, weil sie ihm widerstanden hatte.

Jacques floh durch die melancholische Nacht. Im Galopp rannte er den Fußsteig einer Anhöhe empor und taumelte auf der andern Seite in eine enge Schlucht hinunter. Unter seinen Schritten davonrollende Kieselsteine erschreckten ihn, er drang links durch die Gebüsche und auf einem Umweg nach derselben Seite wieder hinaus, wodurch er rechts auf ein leeres Plateau gerieth. Er ließ sich herab und gerieth gegen die den Bahndamm einfriedigende Hecke: ein Zug kam schnaubend und dampfend vorüber. Er erschrak und begriff zuerst nicht recht. Ach, ganz recht, da fährt ja alle Welt vorüber, in einem fort, während er hier mit fliegenden Pulsen fiebert! Er kletterte abermals hinauf und abermals hinunter. Immer wieder stieß er auf die Geleise, bald auf der Sohle tiefer Schluchten, an Abgründen entlang, bald auf Abhängen, deren riesige Barrikaden die Fernsicht abschnitten. Dieses wüste, von Anhöhen kupirte Gelände glich einem ausgangslosen Labyrinthe. Durch die gruftähnliche Trostlosigkeit dieser unbebauten Länderstrecken jagte ihn sein Wahnsinn. Schon lange war er auf den Höhen und Abhängen umhergeklettert, als er vor sich eine schwarze Oeffnung, den offenen Schlund des Tunnels erblickte. Ein bergauf fahrender Zug stürzte sich heulend und pfeifend dort hinein und verschwand, als hätte ihn die Erde verschlungen, mit einem Gedröhne, von dem noch lange hernach der Boden erzitterte.

Jacques stürzte neben dem Eisenbahndamm zu Boden, seine Beine trugen ihn nicht weiter. Auf dem Bauche liegend und das Gesicht tief in den Rasen gedrückt schluchzte er krampfhaft. Das Uebel, von dem er sich geheilt wähnte, war also wirklich wiedergekommen? Er hatte dieses Mädchen tödten wollen! Ein Weib tödten, ein Weib tödten wollen! Von Jugend auf, je mehr das Fieber und die Sehnsucht nach dem Besitz eines Weibes in ihm wuchsen, desto stärker wurde auch dieses Verlangen. Andere träumen beim Erwachen der Mannbarkeit nur von dem Besitz des Weibes, in ihm aber gährte der Gedanke, dann eine zu tödten! Er konnte es nicht leugnen, er hatte die Scheere ergriffen, um sie ihr in das Fleisch zu stoßen, sobald sein Auge dieses gesehen, in dieses Fleisch, in diese warme weiße Brust. Und nicht in einem Anfalle von Wuth, sondern lediglich aus dem Vergnügen an der Sache heraus. Dieses Vergnügen verlangte so mächtig seine Befriedigung, daß er am liebsten im Galopp zurückgelaufen wäre um sie zu morden, hätten seine Hände sich nicht mit aller Gewalt in den Erdboden gekrampft. Und gerade sie, mein Gott, diese Flore, die er hatte aufwachsen sehen, dieses wilde Kind, von dem er sich so heißgeliebt fühlte! Seine gekrümmten Finger wühlten sich noch tiefer in das Erdreich, das Schluchzen zerriß ihm die Kehle, es war ein Röcheln fürchterlichster Verzweiflung.

Dann rang er nach Ruhe, er wollte klar sehen. Welch ein Unterschied war eigentlich zwischen ihm und den Anderen? Er hatte es sich schon in seiner Jugend dort unten in Plassans gefragt. Seine Mutter Gervaise erhielt ihn allerdings etwas zeitig, sie zählte damals erst fünfzehn und ein halbes Jahr, und er war noch dazu der zweite, denn Claude wurde ihr geboren, als sie knapp vierzehn alt war. Aber keiner seiner Brüder, weder Claude, noch der nach ihm geborene Etienne litt unter der Jugend seiner Mutter und seines knabenhaften Vaters, des schönen Lantier, dessen schlechtes Herz Gervaise so viele Thränen kosten sollte. Vielleicht litt auch ein jeder seiner Brüder an irgend einem Uebel und gestand es nur nicht ein. Der Aelteste namentlich, den es so heiß danach verlangte, ein Maler zu sein, daß man ihn und sein Genie für halb verrückt hielt. Mit seiner Familie war es entschieden nicht richtig, viele Mitglieder derselben hatten etwas weg. In gewissen Stunden fühlte er sehr wohl diesen erblichen Riß. Seine Gesundheit war keine schlechte, nur hatten ihn die Furcht und die Scham vor seinen Krisen etwas abmagern lassen. Aber von Zeit zu Zeit verlor er das Gleichgewicht seines Lebens und dann schien es, als zeigte sein Wesen Risse und Löcher, aus welchen sein eigenes Selbst inmitten einer dichten Rauchwolke entströmte, in welcher alles sich anders gestaltete. Er war dann nicht mehr Herr über sich, sondern gehorchte nur seinen Muskeln wie eine wüthende Bestie. Dabei trank er nicht, er versagte sich selbst das kleinste Glas Branntwein, denn er hatte bemerkt, daß der unbedeutendste Tropfen Alkohol ihn verrückt machte. Er kam schließlich zu der Ueberzeugung, daß er die Schuld der Anderen bezahlen müßte, der Väter und Großväter, die Trinker gewesen waren, der Generationen von Trunkenbolden, die sein Blut verdorben hatten. Was er fühlte, war eine schrittweise Vergiftung, eine Wildheit, die ihn mit dem im Dickicht lauernden Wolf, der auch Frauen frißt, auf eine Stufe stellte.

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