Читать книгу: «Die Bestie im Menschen», страница 3

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In dem herniedersinkenden Abend spiegelten sich die fernen Häuser nur noch in schwarzen Umrissen wieder; über den mächtigen Eisenbahndamm lag ein violetter, dichter Nebel. Namentlich nach les Batignolles zu war die Strecke wie in Asche getaucht, durch welche die Eisenrippen des Pont de l'Europe nur noch undeutlich herüberschimmerten. Der über Paris noch schwebende letzte Wiederschein des untergegangenen Tages reflectirte auf den Scheiben der großen Ankunftshallen, während sich unter ihnen die Finsternis; immer massiger ansammelte. Jetzt blitzten kleine Lichtpunkte auf, man zündete die Gaskörper längs der Bahnsteige an. Auch ein mächtiger, weißer Lichtschein war vorhanden, die Laterne der Lokomotive eines Zuges nach Dieppe, dessen Koupeethüren schon geschlossen waren. Der Maschinenführer wartete nur noch auf das Zeichen des diensthabenden Unterinspectors. Es war da etwas nicht in Ordnung gewesen, der Weichensteller hatte durch ein rothes Signal mitgetheilt, daß der Fahrweg noch nicht offen sei; eine Rangirmaschine hatte erst einige Waggons fortholen müssen, welche durch ein schlecht ausgeführtes Manöver mitten auf der Hauptader stehen geblieben waren. Unaufhörlich sausten zwischen dem unentwirrbaren Knäuel von Rädern hindurch und an den auf den Wartesträngen unbeweglich stehenden Waggonreihen vorüber Eisenbahnzüge durch das starker und stärker werdende Dunkel. Einer ging nach Argenteuil, ein andrer nach Saint-Germain; nach langer Fahrt traf ein dritter von Cherbourg ein. Die Signale, das Gepfeife, die Töne der Signalhörner folgten sich ununterbrochen; von allen Seiten tauchten nacheinander rothe, grüne, gelbe und weiße Lichter auf; es herrschte um diese unbehagliche Zeit ein Chaos im Bahnbetriebe, daß es aussah, als müßte alles aufeinanderrennen. Aber alles ging glatt vorüber, mit der stets gleichen sanften, in der Dämmerung nur halb erkennbaren Bewegung wickelte sich das Knäuel immer wieder auf. Das rothe Signal des Weichenstellers erlosch jetzt, die Lokomotive pfiff und der Zug nach Dieppe setzte sich in Bewegung. Vom weiten, grauen Himmel begannen vereinzelte Regentropfen zu fallen. Es schien eine regnerische Nacht werden zu wollen.

Als Roubaud sein Gesicht zurückwandte, sah es finster und verbissen aus, als hätte die Nacht da draußen auch auf sein Antlitz ihre Schatten gesenkt. Er war mit sich einig, sein Plan gemacht. Durch das Halbdunkel spähte er nach der Kukuksuhr.

»Fünf Uhr zwanzig Minuten,« sagte er.

Er war betroffen: in knapp einer Stunde hatten sich so viele Dinge abgespielt! Ihm kam es vor, als hätten sie sich hier seit Wochen gegenseitig aufgefressen.

»Fünf Uhr zwanzig Minuten. Wir haben also noch Zeit.«

Séverine wagte nicht ihn zu fragen, doch ihre angsterfüllten Blicke wichen nicht von ihm. Sie sah ihn im Schranke wühlen und Papier, ein Fläschchen Dinte und einen Federhalter hervorziehen.

»Du wirst jetzt schreiben.«

»Wem?«

»Ihm natürlich. –Setze Dich.«

Sie hielt sich instinctiv von einem Stuhle fern, ohne recht zu wissen, was er wollte. Er aber packte sie, führte sie an den Tisch und drückte sie dort mit solcher Wucht auf den Stuhl nieder, daß sie sich nicht wieder erhob.

»Schreibe: »»Reisen Sie heute Abend mit dem Schnellzuge um sechs Uhr dreißig Minuten und zeigen Sie sich erst in Rouen.««

Sie hielt wohl die Feder, aber ihre Hand zitterte, ihre Furcht vermehrte die unbekannte Absicht ihres Mannes. Was bezweckte er mit diesen beiden nichtssagenden Zeilen? Sie wagte sogar, fragend den Kopf zu ihm zu erheben.

»Was willst Du beginnen? ... Ich bitte Dich, erkläre mir ...« »Schreibe, schreibe,« wiederholte er mit seiner harten, befehlenden Stimme.

Dann tauchte er ohne Zorn, ohne Schimpfworte, aber mit einer so eisernen Nachdrücklichkeit, daß es sich wie eine Centnerlast auf sie niedersenkte und ihre Sinne schwinden machte, seine Augen tief in die ihrigen.

»Was ich thun will, Du wirst es bald sehen ... Und daß Du mich nur verstehst, was ich beginne, das thun wir Beide gemeinsam ... Wir bleiben später auch hübsch bei einander, es giebt nämlich dann so etwas Bindendes zwischen uns Beiden.«

Er erschreckte sie so, daß sie es noch einmal wagte, sich zu widersetzen.

»Nein, nein, erst will ich wissen ... Ich schreibe nicht eher, bis ich weiß, um was es sich handelt.«

Er war des vielen Redens müde. Er nahm ihre zarte Kinderhand in die seine und preßte sie in seiner eisernen Faust wie in einem Schraubstock, er hätte sie zerquetscht, wenn sie noch länger widerstrebt haben würde. Sie sollte unter Schmerzen seinen Willen kennen lernen. Sie schrie auf, alles brach in ihrem Innern und widersetzte sich nicht länger. Eine Ignorantin wie sie, die in ihrer passiven Milde nichts gelernt hatte, konnte nicht anders als gehorchen: ein williges Instrument für die Liebe wie für den Tod.

»Also schreibe, schreibe.«

Und sie schrieb mühsam mit ihrer armen gefolterten Hand, was er verlangte.

»Gut so, immer recht artig,« sagte er, als er den Brief in Händen hatte. »Inzwischen bringe hier alles wieder in Ordnung. Ich hole Dich bald ab.«

Er war vollständig gelassen. Er brachte vor dem Spiegel den Knoten seiner Kravatte in Ordnung, nahm seinen Hut und ging. Sie hörte, wie er die Thür zweimal verschloß und den Schlüssel herauszog. Die Dunkelheit wuchs mehr und mehr. Séverine blieb noch einen Augenblick auf dem Stuhle sitzen und lauschte gespannt auf die von draußen hereindringenden Geräusche. Nebenan in dem Zimmer der Zeitungsverkäuferin ein beständiges Heulen und Winseln; wahrscheinlich war ein Hündchen dort eingesperrt. Bei den Dauvergne war das Piano verstummt. Dagegen hörte man ein Geklapper von Topfen und sonstigem Geschirr. Die beiden Wirthschaftsvorsteherinnen hatten jetzt in der Küche zu thun. Claire bei einem Hammel-Ragout, Sophie bei einem Salatkopf. Und sie, allein, halb ohnmächtig hier oben in der schrecklichen Öde der hereinbrechenden Nacht, mußte hören, wie Jene heiter lachten.

Seit sechs und ein viertel Uhr stand die Lokomotive des Schnellzuges nach Havre bereits gekuppelt vor dem Zuge. Die Halle war mit Waggons überfüllt. Daher hatte der Zug nicht in der Halle aufgestellt werden können. Er hielt draußen neben dem Bahnsteig, der in eine Art schmalen Defilées auslief, in dem Dunkel des tintenschwarzen Himmels, das von den wenigen längs des Fußsteiges aufgestellten Gaslaternen, die eher qualmigen Sternlein ähnelten, kaum nothdürftig erhellt wurde. Der soeben vorübergegangene Platzregen hatte einen eisigkalten Windzug hinterlassen, den man hier auf dem freien, mächtigen Raume ganz besonders spürte. Dieser Windhauch drängte auch den Nebel zurück bis zu den spärlichen Lichterreihen der Häuser in der Rue de Rome. Ebenso ungeheuerlich als trostlos der Anblick dieses durchnäßten, hier und dort von einem blutrothen Lichte durchblitzten, mit undurchsichtigen Massen, einzeln stehenden Lokomotiven und Waggons, mit Unmengen von Zugtheilen auf den Remisesträngen besetzten Terrains. Und aus diesem Schattensee heraus schallten Lärm, scheinbar von Riesen ausgestoßene, fieberhaft beschleunigte Athemzüge, das Kreischen der Dampfpfeifen, ähnlich dem Schreien einer vergewaltigten Frau, der Ton jammernder, seiner Signalhörner und daneben das Gebrause in den benachbarten Straßen. Befehle wurden laut ertheilt, es sollte noch ein Waggon herangeschoben werden. Die Schnellzugslokomotive ließ aus einem Ventil einen mächtigen Dampfstrahl heraus. Der weiße Strahl stieg hinauf in all dieses Schwarz und zerstäubte dort in kleine Rauchwölkchen und diese bethauten das so unsäglich weit am Himmel ausgespannte Kleid des Todes mit ihren heißen Thränen.

Um sechs Uhr zwanzig Minuten erschienen Roubaud und Séverine. Sie hatte soeben der Mutter Victoire in der Bedürfnißanstalt neben den Wartesälen den Schlüssel des Zimmers eingehändigt. Er drängte sie vorwärts mit der besorgten Miene eines von seiner Frau aufgehaltenen Gatten: er, den Hut im Genick, ungeduldig und unduldsam, sie mit dem Schleier vor dem Gesicht zögernd, wie gebrochen von Müdigkeit. Eine Fluth von Reisenden wälzte sich über den Perron, sie mischten sich unter die anderen und eilten an der Reihe der Waggons entlang, um noch ein leeres Koupee erster Klasse erhaschen zu können. Und immer lebhafter wurde hier das Gewühl, die Gepäckträger rollten die vollen Karren zum Gepäckwagen hinter der Lokomotive, ein Beamter bemühte sich, eine zahlreiche Familie unterzubringen, der Unter-Inspector im Dienst beleuchtete mit der Signallaterne die Kuppelungen der Wagen, um zu sehen, ob sie fest aufgeschraubt wären. Roubaud hatte soeben ein leeres Koupee entdeckt und wollte Séverine gerade beim Einsteigen behilflich sein, als ihn der Bahnhofsvorsteher Herr Vandorpe bemerkte, der gemeinsam mit seinem ersten Assistenten für den Fernverkehr, Herrn Dauvergne, beide Hände auf dem Rücken, den Veranstaltungen zur Anhängung des verlangten Waggons zusah. Man begrüßte sich und mußte natürlich plaudern.

Zuerst sprach man über den Vorfall mit dem Unterpräfecten, der zu Jedermanns Befriedigung nun beigelegt war. Dann war die Rede von einem frühmorgens in Havre geschehenen und telegraphisch mitgetheilten Unfall: die Treibstange einer Lokomotive, der Lison, welche am Donnerstag und Sonnabend den um sechs Uhr dreißig Minuten abgehenden Schnellzug zu führen hatte, war gebrochen, gerade als man in den Bahnhof einfuhr. Die nothwendig gewordene Reparatur zwinge nun den Maschinenführer Jacques Lantier, einen Landsmann von Roubaud, und seinen Heizer Pecqueux, den Mann der Mutter Victoire, zu einer zweitägigen Unthätigkeit. Vor der Waggonthür stand Séverine, sie war noch nicht eingestiegen; ihr Gatte trug bei der Unterhaltung mit den Herren eine auffallende Heiterkeit zur Schau, auch sprach er sehr laut. Jetzt gab es einen Ruck, der Zug rollte um einige Meter weit zurück: die Lokomotive stieß die vorderen Waggons auf den zur Schaffung eines reservirten Koupees verlangten. Es war der Wagen Nummer 293. Henri Dauvergne junior, welcher in seiner Eigenschaft als Zugführer mitfuhr und Séverine durch den Schleier erkannt hatte, zog sie noch rechtzeitig zur Seite, sonst wäre sie von der offen stehenden Koupeethür getroffen worden. Dann entschuldigte er sich lächelnd und erzählte in aufmerksamer Weise, daß jenes Koupee für einen der Verwaltungsräthe der Gesellschaft reservirt werde, der es erst eine halbe Stunde vor Abgang des Zuges bestellt habe. Sie lächelte nervös, sie wußte eigentlich nicht warum, und er ging seinem Dienste wieder nach. Er war von ihr entzückt, er hatte bei sich schon oft gedacht, daß ein Verhältniß mit ihr keine unangenehme Sache sein müßte.

Die Uhr wies auf sechs Uhr siebenundzwanzig Minuten. Noch drei Minuten Zeit. Roubaud, der selbst während seines Plauderns mit dem Vorsteher die Thüren der Wartesäle nicht außer Augen gelassen hatte, verließ plötzlich diesen und trat zu Séverine. Der Waggon war inzwischen rückwärts gerollt, sie mußten also einige Schritte bis zu ihrem Koupee zurücklegen. Er stieß seine Frau in den Rücken, als sie vor ihm ging und zwang sie durch einen Druck am Handgelenk, einzusteigen, wobei sie es trotz ihrer angstvollen Folgsamkeit nicht unterließ, rückwärts zu blicken, um zu sehen, was hinter ihr vorging. Es kam noch ein verspäteter Reisender. Er hielt nur eine Reisedecke in der Hand, der breite Kragen seines dicken blauen Ueberziehers war so weit heraufgeklappt, der Rand seines runden Hutes so tief in das Gesicht heruntergezogen, daß man bei dem unstäten Flackern der Gasflammen von seinem Gesicht nur einen Theil des weißen Bartes erkennen konnte. Trotz des durchsichtigen Verlangens des Reisenden, nicht gesehen zu werden, konnten es die Herren Vandorpe und Dauvergne nicht unterlassen, ihm zu folgen. Erst als er vier Waggons weiter das reservirte Koupee bestieg, grüßte er sie. Er war es. Séverine zitterte am ganzen Körper und sank auf das Polster. Ihr Gatte brach ihr fast den nicht losgelassenen Arm, als wollte er ihr frohlockend zu verstehen geben, daß er seine Beute jetzt halte und seiner Sache nun gewiß sei.

In einer halben Minute mußte es halb schlagen. Ein Zeitungsverkäufer bot die Abendblätter an, auf dem Perron wandelten noch einige Reisende umher, um ihre Cigarretten zu Ende zu rauchen. Jetzt stiegen Alle eine: man hörte von beiden Enden des Zuges her die Beamten die Thüren zuschlagen. Roubaud war unangenehm überrascht, als er in der einen Ecke des Koupees, das er für leer gehalten hatte, stumm und unbeweglich eine dunkle Masse lehnen sah, eine Dame in Trauer, es entfuhr ihm aber ein lauter Ausdruck des Zornes, als die Thür plötzlich nochmals geöffnet wurde und ein Beamter ein Paar hereindrängte, einen dicken Mann und eine dicke Frau, die pustend auf die Sitze sanken. Der Zug mußte sich sogleich in Bewegung setzen. Der Regen begann von Neuem fein zu fallen und durchnäßte das wieder im Nebel verschwimmende Gelände; unaufhörlich kreuzten sich hier die Eisenbahnzüge, von denen man nur eine Reihe kleiner, erleuchteter Fenster im Vorüberfahren erkennen konnte. Grüne Lichter tauchten auf und zur ebenen Erde tanzten einige Laternen. Nichts zu sehen als eine unermeßliche Dunkelheit, aus welcher nur die vom schwachen Widerschein des Gaslichts erhellten riesigen Glasdächer der Fernverkehrshallen auftauchten. Alles war düster, selbst die Geräusche klangen abgeschwächt; alles erstickte der Lärm von der Lokomotive, die jetzt ihre Ventile geöffnet hatte und zischende Wirbel von weißen Dämpfen hinausließ. Eine Wolke stieg herauf und schwebte wie ein Bahrtuch empor; dichte schwarze Rauchsäulen, von denen man nicht wußte, woher sie kamen, hoben sich von ihr ab. Und der Himmel schien sich noch mehr zu verdunkeln, ein Gewölk von Ruß schien sich über das nächtliche, von der eigenen Gluth verzehrte Paris zu lagern.

Jetzt hob der Unter-Inspector die Laterne empor, damit der Maschinist das Signal zur Abfahrt geben konnte. Zweimaliges Pfeifen und dort unten, wo der Weichensteller seinen Posten hatte, verschwand das rothe Licht, um einem weißen Platz zu machen. An der Thür des Gepäckwagens stand der Zugführer und wartete auf den Befehl zur Abfahrt, welchen er weitergab. Abermals ein langgedehnter Pfiff, der Maschinist öffnete seinen Regulator und setzte die Lokomotive in Bewegung. Man fuhr, zuerst kaum merklich, dann ging es schneller und schneller. Der Zug fuhr unter dem Ponte de l'Europe hindurch und stürzte sich dem Tunnel von Les Batignolles entgegen. Man sah von ihm nur noch, wie blutende offene Wunden, die drei Schlußlaternen, das rothe Dreieck. Einige Sekunden noch konnte man seinen Weg in dem schwarzen nächtlichen Schauer verfolgen. Jetzt flog er dahin und nichts konnte mehr seinen Lauf unter vollem Dampfe aufhalten. Er verschwand.

Zweites Kapitel

In einem von der Eisenbahn durchschnittenen Park und so nahe den Geleisen, daß alle vorüberfahrenden Züge es bis in seine Grundmauern erzittern machen, liegt in schräger Linie das Landhaus von la Croix-de-Maufras. Wen einmal die Reise an ihm vorübergeführt hat, der verliert es nicht mehr aus der Erinnerung, selbst wenn er nichts Näheres von ihm weiß. Es ist immer geschlossen und mit seinen grünen Fensterläden zum Schutze vor den westlichen Regengüssen macht es den Eindruck wüster Oede. Und diese Verlassenheit scheint die Einsamkeit dieses verlorenen Winkels noch zu erhöhen; auf eine Meile in der Runde begegnet man keiner menschlichen Ansiedlung.

Nur das Bahnwärterhäuschen steht in dem Winkel der Landstraße, die über den Eisenbahndamm fort nach dem fünf Kilometer entfernten Doinville führt. Niedrig, mit rissigen Mauern und von Schwamm angefressenen Dachziegeln kauert es wie ein armseliger Bettler inmitten des mit Gemüsebeeten bestellten, von einer lebendigen Hecke eingeschlossenen herrschaftlichen Gartens, in welchem sich auch ein tiefer Schöpfbrunnen vorfindet. Der im gleichen Niveau mit der Bahnstrecke liegende Uebergang befindet sich genau halbwegs zwischen Malaunay und Barentin, vier Kilometer von jeder Ortschaft entfernt. Er wird übrigens sehr wenig benutzt, die halbmorsche Barriere öffnet sich fast nur für die Blockwagen der Kärrner aus dem in einer Entfernung von einer halben Meile mitten in der Forst gelegenen Bécourt. Man kann sich kein abseitigeres, von Menschen mehr gemiedenes Nest denken als dieses, denn der lange Tunnel nach Malaunay hin schneidet jeden Verkehr ab; so kann man zum Beispiel nach Barentin nur auf einem schlecht unterhaltenen Fußpfade gelangen, der längs der Bahnstrecke führt. Aber auch dort sieht man nur selten Leute.

An dem Abend aber, an welchem unsere Erzählung begann, sah man gegen Dunkelwerden bei einer milden, aber trüben Witterung einen Reisenden, der den Zug in Barentin verlassen hatte, mit lang ausholenden Schritten den Fußpfad nach la Croix-de-Maufras verfolgen. Das Gelände bildet hier eine ununterbrochene Folge von Thälern und Abhängen und durch dieses wellige Land führt die Eisenbahn abwechselnd auf künstlich aufgeschütteten Dämmen und in der Tiefe zwischen den Bergen. Dieser beständige Terrainwechsel, die Höhen und Tiefen zu beiden Seiten der Strecke, verhindern die Anlegung von Landstraßen. Das Gefühl großer Einsamkeit wird dadurch noch vermehrt; das dürre, weiß schimmernde Erdreich ist unbebaut geblieben; halbwüchsige Bäume krönen einige Schwellungen des Bodens, während tief unten durch die Thäler von Weiden beschattete Bäche rieseln. Wieder andre, kreidige Anhöhen sind vollständig nackt und unfruchtbare Abhänge folgen sich; das Schweigen und die Bangigkeit des Todes lagert über der Gegend. Der junge, kräftige Reisende beschleunigte seinen Schritt, als wollte er der Traurigkeit dieses milden Halbdunkels über diesem einsamen Stückchen Erde entrinnen.

In dem Garten beim Bahnwärterhäuschen schöpfte eine große, kräftige Blondine, ein achtzehnjähriges junges Mädchen mit starken Lippen, grünlich schimmernden Augen und einer niedern Stirn unter den schweren Haarflechten Wasser aus dem Brunnen. Niedlich konnte man sie kaum nennen, denn sie hatte kräftige Hüften und muskulöse Arme wie ein Mann, Als sie eben den den Fußpfad heruntersteigenden Fremden bemerkte, ließ sie den Eimer fallen und eilte vor die durchbrochene Thür, welche die lebendige Hecke abschloß.

»Oho! Jacques!« rief sie.

Jener blickte auf. Er mochte sechsundzwanzig Jahre zählen und war ebenfalls groß gewachsen und sehr gebräunt, ein hübscher Bursche mit einem runden regelmäßigen Gesicht, das leider zu stark entwickelte Kinnbacken verunzierten. Seine dicht stehenden Haare, ebenso sein Schnurrbart lockten sich so tiefschwarz, daß dadurch das Fahle seiner Gesichtsfarbe noch verstärkt wurde. Die Feinheit seiner auf den Backen glattrasirten Haut hätte auf einen Herrn der besseren Gesellschaft schließen lassen, wenn man nicht auf der andern Seite die untilgbaren Merkmale des Handwerkers erblickt haben würde: die Schmiere, welche seine Mechanikerhände schon gelb zu färben begann; übrigens waren diese Hände trotzdem klein und geschmeidig.

»Guten Abend, Flore,« gab er zurück.

Aber seine Augen, die so lange groß und schwarz in die Welt geblickt hatten, schienen zu erbleichen, als blende sie ein röthlicher Dunst. Die Lider klappten auf und nieder und die Augäpfel wanderten zur Seite. Ein Gefühl unsäglicher Verlegenheit, ja des Uebelseins ließ ihn furchtbar leiden; selbst der ganze Körper machte eine instinktive Rückwärtsbewegung.

Sie stand unbeweglich da. Ihre Blicke waren fest auf ihn gerichtet, so daß ihr das unfreiwillige Erzittern, dessen er vergebens Herr zu werden sich bemühte, nicht entgangen war. Sie kannte es bereits, es überfiel Jenen jedesmal, wenn er sich einem weiblichen Wesen näherte. Sie schien darüber ernst und traurig gestimmt. In seiner Verlegenheit, die er gern verborgen hätte, fragte er sie, ob ihre Mutter zu Hause wäre, obwohl er ganz genau wußte, daß diese leidend und nicht im Stande war, fortzugehen. Sie antwortete durch ein bloßes Nicken mit dem Kopfe und trat zur Seite, damit Jener sie beim Vorübergehen nicht zu streifen brauchte. Dann ging sie, ohne weiter ein Wort zu verlieren, stolz aufgerichtet zum Brunnen zurück.

Jacques durchschritt eilig den schmalen Garten und betrat das Haus. Im ersten Gemach, einer mächtigen Küche, die gleichzeitig Speise- und Wohnzimmer, saß einsam am Tisch in einem Strohstuhle, die Füße mit einem alten Shawl umwickelt, Tante Phasie, wie man sie schon als er noch ein Kind nannte. Sie war eine Cousine seines Vaters, ebenfalls eine Lantier, die gleichzeitig seine Pathe war und ihn im Alter von sechs Jahren zu sich genommen hatte, als seine Eltern plötzlich nach Paris ausgerückt waren und ihn in Plassans, woselbst er auch später die Gewerbeschule besuchte, zurückließen. Es war seit jener Zeit in ihm ein Gefühl lebhafter Erkenntlichkeit zurückgeblieben; daß er seinen Weg gemacht habe, dankte er nur ihr, behauptete er. Als er Locomotivführer erster Klasse bei der Westbahngesellschaft geworden war, nachdem er zwei Jahre bei der Bahn in Orleans gearbeitet hatte, fand er seine Tante mit ihren beiden Töchtern erster Ehe an einen Bahnwärter, namens Misard verheirathet in diesem verlorenen Winkel von la Croix-de-Maufras wieder. Heute sah die ehemals so große und kräftige Tante Phasie, trotzdem sie kaum fünfundvierzig Jahre zählte, abgemagert und eingeschrumpft, von fortwährenden Schauern durchschüttelt, wie eine Sechzigerin aus.

Sie stieß einen Ruf freudigen Erstaunens aus.

»Wie, du bist es, Jacques! ... Ach, welche Ueberraschung, mein großer Junge!«

Er küßte ihr die Wangen und erzählte ihr, daß er einen zweitägigen, unfreiwilligen Urlaub habe nehmen müssen: seine Lokomotive, die Lison, habe des Morgens bei der Ankunft in Havre einen Bruch an der Treibstange erlitten; die Reparatur dauere vierundzwanzig Stunden, er trete also seinen Dienst erst am Abend des folgenden Tages, zum sechs Uhr vierzig Schnellzug wieder an. Er habe die Gelegenheit benutzt, um sie umarmen zu können. Er wolle hier übernachten und erst morgen früh mit dem Zuge um sieben Uhr sechsundzwanzig Minuten von Barentin aus zurückkehren. Und während er ihre armen abgezehrten Hände umfaßt hielt, erzählte er ihr, wie sehr ihn ihr letzter Brief beunruhigt habe.

»Ach ja, mein Junge, so geht es auch nicht mehr weiter. Wie nett von Dir, daß Du meinen Wunsch, Dich zu sehen, errathen hast. Aber ich weiß, wie schwer Du loskommen kannst, daher wagte ich es nicht, Dich hierher zu bitten. Jetzt bist Du da und ich habe so viel auf dem Herzen!«

Sie unterbrach sich und warf einen mißtrauischen Blick durch das Fenster. In der fortschreitenden Dämmerung sah man jenseits der Strecke ihren Mann Misard auf seinem Posten in einer der Holzbuden, die alle fünf oder sechs Kilometer aufgestellt und zur Sicherstellung des Verkehrs untereinander telegraphisch verbunden sind. Während seine Frau und später Flore mit dem Dienst bei der Uebergangsbarriere betraut waren, mußte er selbst das Amt eines Bahnwärters versehen.

Sie senkte sich schüttelnd die Stimme, als ob er sie hätte hören können.

»Ich glaube fest, er will mich vergiften!«

Jacques sprang bei dieser vertraulichen Mittheilung überrascht auf. Auch seine Augen wandten sich dem Fenster zu und er fühlte von Neuem, wie ein schwacher, rother, mit goldenen Punkten besäter Schleier den klaren Blick seiner schwarzen Augen verdunkelte.

»Aber welcher Gedanke, Tante Phasie!« murmelte er. »Er sieht ja so sanft und nachgiebig aus.«

Ein Zug nach Havre mußte im nächsten Augenblick vorüberkommen. Misard war aus dem Wachthäuschen getreten und hatte die Barriere hinter sich geschlossen. Während er durch einen Druck auf den Hebel das Signallicht sich in ein rothes verwandeln ließ, betrachtete ihn Jacques. Er war ein kleiner, abgezehrter Mann mit einem armseligen durchfurchten Gesicht und farblosem spärlichem Haarwuchs; augenscheinlich ein schweigsamer, sich bei Seite drückender, geduldiger und vor seinen Vorgesetzten buckelnder Beamter. Inzwischen war er in die Bretterbude zurückgegangen, um in sein Wachtbuch die Zeit des Vorbeipassirens des Zuges zu vermerken und an zwei Knöpfen der elektrischen Leitung zu drücken. Der eine meldete dem rückwärts stationirten Wärter, daß der Weg frei sei, der andre dem nächsten, daß der Zug komme.

»Ach Du kennst ihn eben nicht,« begann Tante Phasie von Neuem. »Ich sage Dir, irgend eine Gemeinheit hat er mir angethan ... mir, die ich so stark war, daß ich diesen Menschen mit Haut und Haaren hätte essen können und nun frißt mich dieses Nichts, dieser Knopf von einem Manne bei lebendigem Leibe auf!«

Ihr dumpfer und scheuer Haß ließ sie sich ins Fieber reden. Sie leerte ihr Herz aus, entzückt, einen Zuhörer zu haben. Wo hatte sie nur ihren Kopf, als sie diesen Habenichts, diesen geizigen Duckmäuser heirathete, sie, die um fünf Jahre älter war als er und schon zwei Töchter, damals im Alter von sechs und acht Jahren besaß? Jetzt waren es bald zehn Jahre her, seit sie diesen Geniestreich ausgeführt und bisher hatte sie ihn noch in jeder Stunde zu bereuen gehabt: ein Leben voller Elend, wie verbannt in diesem eisigen Winkel des Nordens, der sie schaudern machte, langweilig zum Sterben und keinen Menschen, nicht einmal eine Nachbarin, mit der man hätte reden können. Er war ein früherer Steinsetzer, der jetzt als Bahnwärter zwölfhundert Franken verdiente. Sie erhielt fünfzig Franken für den Dienst an der Barriere, den jetzt Flore versah. So sah ihre hoffnungslose Gegenwart, so ihre hoffnungslose Zukunft aus; keine Aussicht auf ein besseres Leben, als in diesem, tausend Meilen von jedem lebenden Wesen entfernten Loche sterben zu müssen. Davon erzählte sie Jacques aber nichts, welchen Trost sie gehabt, ehe sie erkrankte, als ihr Gatte noch als Streckenarbeiter thätig war und sie mit ihren beiden Töchtern den Dienst an der Barriere allein versehen mußte. Ihr Ruf als der einer schönen Frau war damals ein so weit verbreiteter, daß die Strecken-Inspectoren nie an ihrem Häuschen vorübergingen, sie erweckte sogar Nebenbuhlerschaft, so daß selbst die abgelösten Aufseher mit verdoppelter Aufmerksamkeit stets unterwegs waren. Der Gatte genirte nicht; er war zu Jedermann unterwürfig, glitt zur Thür hinaus, ging und kam, ohne etwas zu merken. Leider aber waren diese Vertröstungen nun vorüber. Jetzt war sie in dieser Einsamkeit wochen- und monatelang an diesen Stuhl gefesselt und fühlte von Stunde zu Stunde ihren Körper mehr und mehr abnehmen.

»Ich sage Dir,« schloß sie, »er stellt mir nach und so klein er ist, er wird mit mir fertig werden.«

Ein plötzliches Anschlagen der Signalglocke ließ sie ihren unstäten Blick wieder nach draußen richten. Der weiter oben stationirte Wärter meldete Misard einen nach Paris gehenden Zug, und der Zeiger des vor dem Fenster angebrachten Kantonnements-Apparates hatte sich gemäß der Richtung des Zuges geneigt. Misard stellte den Läuteapparat ab und trat ins Freie, um den Zug durch zweimaliges Tuten zu signalisiren. Flore zog in demselben Augenblick die Barriere nieder, dann präsentirte sie die in dem Lederfutteral steckende Fahne. Man hörte den hinter einer Kurve herannahenden Zug, einen Schnellzug, mit wachsendem Dröhnen sich nähern. Wie ein Blitz, der das erzitternde Häuschen bedrohte, fuhr er inmitten eines Orkans vorüber. Flore war inzwischen bereits zu ihren Gemüsebeeten zurückgekehrt, während Misard erst das Signal gab, daß die Strecke in der Richtung des soeben passirten Zuges gesperrt sei, und dann durch den Druck des Hebels das rothe Licht verlöschen machte, als Zeichen, daß die entgegengesetzte Richtung frei sei. Ein abermaliges Läuten, verbunden mit einer entsprechenden Bewegung des zweiten Zeigers verkündeten ihm, daß der vor fünf Minuten vorübergekommene Zug bereits den nächsten Posten passirt habe. Er trat in die Bude, meldete es den beiden nächsten Wärtern, schrieb die Passagezeit ein und wartete. Immer der gleiche Dienst, den er durch zwölf Stunden täglich versah; in seiner Bude lebte er, aß er, ohne jemals drei Zeilen einer Zeitung zu lesen, ja selbst ohne einen Gedanken in seinem flachen Schädel zu fassen.

Jacques, der seine Pathe ehedem mit den Verwüstungen neckte, die sie in dem Herzen der Weginspectoren anrichtete, konnte sich nicht enthalten, lächelnd zu sagen:

»Vielleicht ist er eifersüchtig.«

Phasie aber hatte nur ein mitleidiges Achselzucken, während sich ein Lächeln aus ihren armen gebleichten Augen drängte.

»Du, mein lieber Junge, sagst das? ... Er eifersüchtig! Er hat sich den Teufel um mich gekehrt, seit ich ihm nichts mehr einbrachte.«

»Nein, nein,« fuhr sie zitternd fort, er machte sich nichts daraus, er macht sich nur aus dem Gelde etwas ... Es hat ihn geärgert, daß ich ihm nicht die tausend Franken gab, die ich im vorigen Jahre von meinem Vater erbte. Er drohte mir, das brachte mir Unglück, ich erkrankte ... Ich bin seitdem nicht wieder gesund geworden, ja, seitdem nicht mehr.«

Der junge Mann verstand, er glaubte an schwarzseherische Gedanken der leidenden Frau und versuchte sie ihr auszureden. Aber ihr eifriges Kopfschütteln belehrte ihn, daß sie darüber ihre eigenen, unzerstörbaren Ansichten habe, so daß er schließlich sagte:

»Nichts ist einfacher, um der Geschichte ein Ende zu machen: Geben Sie ihm die tausend Franken.«

Wie von einer außergewöhnlichen Kraft getrieben, schnellte sie empor.

»Meine tausend Franken, niemals!« rief sie aufgebracht heftig aus. »Eher will ich krepiren ... Ah, sie sind gut geborgen, gut versteckt. Das Haus kann man auf den Kopf stellen, man wird sie doch nicht finden ... Er hat genug gekramt, der Schuft! Ich habe es in der Nacht recht gut gehört, wie er an die Mauern klopfte. Such, Such! Sehen möchte ich, wie er mit der langen Nase abzieht, das Vergnügen würde meine Geduld wieder stärken ... Möchte wissen, wer zuerst locker lassen wird, er oder ich. Ich bin mißtrauisch, ich esse nur, was auch er verzehrt. Und selbst wenn ich zusammenbrechen sollte, so würde er die tausend Franken doch nicht bekommen. Lieber lasse ich sie in der Erde.«

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