Читать книгу: «Die Bestie im Menschen», страница 5

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Jacques hockte jetzt auf einem Knie und blickte hinüber zum schwarzen Schlunde des Tunnels, aber ein erneutes Schluchzen fuhr ihm durch die Nerven in den Nacken, er fiel rücklings zur Erde und wälzte sich, vor Schmerz aufschreiend, auf dem Boden umher. Dieses Mädchen, dieses Mädchen hatte er tödten wollen! Da kam es wieder, dieses spitzige, gräßliche Gefühl, als hätte er die Scheere sich selbst in die Brust gestoßen. Kein Vernunftgrund schaffte ihm Ruhe: er hatte sie tödten wollen, er würde sie tödten, wenn sie noch mit geöffnetem Kleide und entblößter Brust vor ihm läge. Er war gerade sechzehn Jahre alt, er erinnerte sich dessen ganz genau, da hatte ihn das Uebel zum ersten Male gepackt. Eines Abends hatte er mit einem um zwei Jahre jüngeren Mädchen, der Tochter eines Verwandten, gescherzt: sie war gefallen, er hatte ihre Beine gesehen und war über sie hergefallen. Er erinnerte sich, im folgenden Jahre ein Messer geschärft zu haben, um es einer anderen, einer Blondine, die täglich an seiner Thür vorüberging, in die Kehle zu stoßen. Der Hals dieses Mädchens war sehr fett und rosig, er hatte sich bereits den Platz ausgesucht, wo er das Messer ansetzen wollte, nämlich bei einem kleinen braunen Zeichen unter dem Ohre. Und das waren nicht die einzigen, deren Erinnerung ihm die Brust beengte, auf der Gasse hockende, zufällig zu Nachbarinnen gewordene Frauen, alle diese hatten die Mordlust in ihm entfacht; eine namentlich, eine jung verheirathete Frau, die im Theater neben ihm saß und außerordentlich laut lachte. Mitten in einem Act mußte er aufstehen, um sie nicht anzufallen. Alle diese kannte er kaum, warum also dieser Zorn auf sie? Jedesmal, wenn ihn diese blinde Wuth befiel, schien es ihm ein brennender Durst nach Rache für verjährte längst vergessene Beleidigungen zu sein. Das Unheil also, welches die Frauen seinem Geschlecht gebracht, ihre von Mann zu Mann gesteigerte Schlechtigkeit, hatte seinen Ursprung wirklich in so ferner Zeit, vielleicht gar begann es mit dem ersten im Dunkel der Höhlen begangenen Betrug? Aus seinem Anfalle heraus fühlte er die Nothwendigkeit, das Weib zu bekämpfen und zu bezwingen, es todt hinzustrecken wie eine Anderen für immer abgejagte Beute. Sein Schädel barst unter der Anstrengung des Denkens, er war zu unwissend, um sich die rechte Antwort zu geben. In dem Angstgefühl zu Thaten gedrängt zu werden, denen gegenüber seine Willenskraft gleich null war, und deren Grund er nicht einsehen konnte, stumpfte sich sein Gehirn ab.

Abermals stürzte sich beim Schimmer seiner Laternen ein Zug mit Getöse in den Tunnel, das, wie beim Donner allmählich erstarb. Jacques hatte sich aufgerichtet und sein Schluchzen eingestellt, als glaubte er, diese gleichgültige, zusammengepferchte, ihm unbekannte Menge könnte ihn hören. Er nahm jetzt eine unverdächtige Haltung an. Schon immer hatte er nach solchen Anfällen beim geringsten Geräusch die Gewissensbisse eines Schuldbehafteten empfunden! Ruhig, glücklich, fern von aller Welt lebte er nur auf seiner Lokomotive. Wenn sie ihn beim Erzittern ihrer Räder pfeilschnell davonführte, wenn er die Hand an der Kurbel seine ganze Wachsamkeit auf die Strecke und die Signale lenken mußte, dachte er an nichts anderes, mit vollen Lungen athmete er die reine, ihm sturmwindartig zugewehte Luft ein. Aus diesem Grunde liebte er seine Maschine, als wäre sie eine friedfertige Geliebte, von der er nur Glückseligkeiten zu erwarten hätte. Nach Verlassen der Gewerbeschule hatte er trotz seiner großen Intelligenz sich die Laufbahn eines Lokomotivführers gewählt, um ein einsames, betäubendes Leben führen zu können. Auch war er nicht ehrgeizig. Nach vier Jahren war er bereits Lokomotivführer erster Klasse und bezog als solcher einen Gehalt von zweitausendachthundert Franken, der mit den Heiz- und Putzprämien auf über viertausend wuchs. Mehr verlangte er nicht. Er sah seine Kameraden der zweiten und dritten Klasse, welche die Gesellschaft selbst in solche eintheilte, die Hilfsarbeiter, die sie als Lehrlinge annahm, fast immer Arbeiterinnen heirathen, ausgemergelte Frauen, die man nur zur Zeit der Abfahrt sah, wenn sie ihren Männern die Vorrathskörbchen brachten. Ehrgeizige Kameraden dagegen, namentlich solche, die eine Fachschule durchgemacht hatten, warteten mit ihrer Heirath, bis sie Depotchefs geworden, in der Hoffnung, eine Bürgerliche zu bekommen, eine Dame mit Hut. Ihm war alles das gleichgiltig, er floh ja doch die Frauen. Er wollte nie heirathen, sondern stets allein und abermals allein rastlos dahinrollen. Seine Vorgesetzten stellten ihn daher auch als einen Musterlokomotivführer hin, weil er nicht trank und nicht davonlief. Die bummlerisch veranlagten Kameraden natürlich neckten ihn wegen seiner ausbündig guten Führung, die Solideren aber erschreckte er, wenn er stumm, mit farblosen Augen und schrecklich verzerrtem Gesicht in seine Traurigkeit verfiel. Er erinnerte sich nicht mehr, wie viele Stunden er in seinem Kämmerchen in der Rue Cardinet schon zugebracht haben mochte, von welchem aus er das Depot von les Batignolles erblicken konnte, zu welchem seine Lokomotive gehörte. Er wußte nur, daß es so ziemlich seine sämmtlichen Freistunden gewesen waren, die er wie ein in seiner Zelle eingeschlossener Mönch dort verlebte. Hier kämpfte er gegen den Aufruhr seiner begehrlichen Wünsche mit Hilfe des Schlafes an, den er nur auf dem Bauche liegend fand.

Jacques versuchte aufzustehen. Was machte er in dieser feuchten, nebligen Winternacht hier im Grase? Das Land blieb in Schatten gehüllt; nur am Himmel war es hell, dort ruhte noch der feine Dunst, die mächtige Kuppel aus unpolirtem Glas, vom dahinter verborgenen Monde mit einem fahlen, gelblichen Scheine durchleuchtet. Der düstere Horizont schlummerte in todesähnlicher Unbeweglichkeit. Auf! Es mußte schon auf neun Uhr gehen und es war rathsamer, heim zu gehen und sich auf's Ohr zu legen. Aber seine Beklemmung spiegelte ihm vor, wie er jetzt zu den Misard kommen, die Treppe zur Vorratskammer hinaufsteigen, sich auf das Heu werfen und im Raume nebenan, durch eine dünne Plankenwand nur von dem seinen getrennt, Flore athmen hören würde! Er wußte sogar, daß sie sich nie einschloß, daß er also ohne Umstände bei ihr würde eintreten können. Und wieder überlief ihn ein heftiger Schauder, dachte er an das entkleidete Mädchen mit den vom Schlafe widerstandslosen, heißen Gliedern. Noch einmal drückte ihn das Schluchzen zu Boden. Er hatte sie tödten wollen, er wollte sie noch tödten! Der Gedanke, daß er sich jetzt anschicken wollte, sie nach seiner Heimkehr in ihrem Bette zu tödten, würgte und zerrte an ihm. Was half es ihm, daß er keine Waffe zur Hand haben, daß sie seinen Kopf mit ihren beiden Armen niederdrücken würde; er fühlte, das Uebel würde ihn dennoch gegen seinen Willen antreiben, die Thür zu ihrer Kammer zu öffnen und sie zu erwürgen. Unter dem Geißelhieb des raubthierartigen Instinktes und unter dem Zwange, das alte Unrecht zu rächen, konnte er nicht anders. Nein, nein! Lieber wollte er die ganze Nacht im Freien zubringen, als dorthin zurückkehren! Mit einem Sprunge stand er auf den Beinen. Er entfloh.

Und abermals jagte er wohl eine halbe Stunde über das düstre Gefilde, als wollte ihn die losgelassene Meute aller Schrecken der Hölle zu Tode Hetzen. Er jagte die Anhöhen hinauf, er kroch in enge Schluchten. Hinter einander stellten sich ihm zwei Bäche entgegen, er durchschritt sie, wobei er bis zu den Hüften versank. Ein ihm den Weg verlegendes Gebüsch brachte ihn zur Verzweiflung. Sein einziger Gedanke war, immer geradeaus und so weit als möglich zu laufen, um der wüthenden Bestie in seinem Innern zu entfliehen. Seit sieben Monaten schien sie ihm verjagt zu sein, und er hatte sich wieder Mensch gefühlt; und jetzt heulte sie von Neuem, abermals mußte er sie bekämpfen, um nicht von ihr auf die erste Frau, die ihm der Zufall in den Weg führen würde, gehetzt zu werden. Die große Stille, die mächtige Einsamkeit in der Runde beruhigten ihn indessen allmählich ein wenig und ließen ihn von einem stummen, einsiedlerischen Leben, ähnlich dieser Gegend, träumen, in welchem man auch abseits von den gebahnten Pfaden umherschweifen könnte, ohne einem menschlichen Wesen zu begegnen. Unbewußt war er im Kreise gegangen und im großen Bogen wieder an dem bebuschten Abhang des Eisenbahndammes, oberhalb des Tunnels gelangt. Er machte zornig kehrt, weil er fürchtete, auf Menschen zu stoßen. Um eine Anhöhe herum gedachte er den Weg abzuschneiden, verlief sich aber und stieß nun erst recht auf die Hecke längs der Geleise hart am Eingang zum Tunnel neben der Wiese, auf der er kurz zuvor sich in Schmerzen gekrümmt hatte. Da stand er nun besiegt, als ihn das noch ferne, von Sekunde zu Sekunde anschwellende, aus der Tiefe der Erde heraufschallende Dröhnen eines Zuges an diese Stelle bannte. Es war der Schnellzug nach Havre, der Paris um sechs Uhr dreißig Minuten verlassen hatte und hier um neun Uhr fünfundzwanzig Minuten vorüberkommen mußte; diesen Zug führte Jacques einen Tag um den andern.

Er sah zunächst den dunklen Schlund sich erhellen, wie die Oeffnung eines Backofens, in welchem das Reisig entzündet wird. Das Geräusch näherte sich, plötzlich sprang die Lokomotive daraus hervor mit ihrem großen runden, blendenden Auge, deren Licht die Gegend zu durchdringen suchte und auf den Schienen weit voraus schon ein zweites Feuer zu entzünden schien. Aber das Ganze war eine blitzartige Erscheinung, denn vorüber flüchtete die Reihe von Waggons mit ihren grell beleuchteten Koupeefenstern, vorüber sausten die mit Reisenden gefüllten Koupee's mit einer so schwindelerregenden Schnelligkeit, daß das Auge unmittelbar an den gesehenen Bildern zweifelte. Aber Jacques hatte in dieser Viertelsekunde dennoch durch die hellerleuchteten Scheiben eines Koupee's gesehen, wie ein Mann einen zweiten auf den Sitz niedergedrückt hielt und ihm ein Messer in den Hals stieß, während eine schwarze Masse, vielleicht eine dritte Person, vielleicht heruntergestürztes Gepäck, mit ihrem ganzen Gewicht auf den krampfhaft angezogenen Beinen des Opfers lastete. Schon entfloh der Zug und verschwand in der Richtung von la Croix-de-Maufras, und man sah in der Dunkelheit nichts weiter mehr von ihm als die drei Schlußlaternen, das rothe Dreieck.

Wie auf den Platz gebannt folgten die Blicke des jungen Mannes dem Zuge, dessen Brausen in dem großartigen Frieden des Todes, der auf der Gegend ruhte, erstarb. Hatte er wirklich richtig gesehen? Er zweifelte jetzt daran und wagte nicht mehr die ihm wie vom Blitze zugetragene und von ihm entführte Begebenheit als eine Thatsache zu behaupten. Kein einziger Gesichtszug der beiden Hauptacteure dieses Dramas stand ihm lebendig vor der Erinnerung. Die dunkle Masse war vielleicht eine über den Körper des Opfers gefallene Reisedecke. Und doch war es ihm, als hätte er unter einer aufgelösten Menge dichten Haares ein feines, bleiches Profil erkannt. Aber alles mischte sich in einander und verflog wie ein Traum. Noch einmal trat das vermeintliche Profil vor seine innern Blicke, dann verlor er es ganz und gar. Das Ganze war wahrscheinlich überhaupt nur eine Einbildung. Alles das aber machte sein Mark erstarren; er gab schließlich selbst zu, daß es eine Sinnestäuschung gewesen sein mochte, welche die schreckliche Krisis seines Zustandes heraufbeschworen hatte.

Fast eine ganze Stunde noch trieb sich Jacques, den Kopf mit wüsten Gedanken voll, auf den Feldern umher. Er war wie zerschlagen, eine Art Entnervung hatte ihn befallen, das eisige Gefühl in seinem Innern hatte das Fieber ausgelöscht. Er kam schließlich, ohne es gewollt zu haben, nach la Croix-de-Maufras zurück. Als er vor dem Bahnwärterhäuschen stand, überlegte er, daß es besser sei, nicht einzutreten, sondern in der kleinen Hütte neben dem Schuppen zu schlafen. Aber ein Lichtstrahl drang durch die Thür und mehr unbewußt als bewußt öffnete er. Ein unerwarteter Anblick bannte ihn auf die Schwelle.

Misard hatte in der That den in der Ecke stehenden Buttertopf von seinem Platze gerückt. Mit allen vieren lag er auf dem Boden, neben sich hatte er eine Laterne stehen und mit der Faust pochte er leise an verschiedene Stellen der Wand. Das Geräusch der aufgehenden Thür ließ ihn den Kopf zurückwenden. Er zeigte aber keine Spur von Verlegenheit und sagte höchst gelassen:

»Ich suche Streichhölzchen auf, die mir heruntergefallen sind.«

Als er nun den Buttertopf wieder an Ort und Stelle gebracht hatte, setzte er hinzu:

»Ich habe mir eben die Laterne geholt, weil ich beim Nachhausegehen ein Individuum habe auf den Schienen liegen sehen ... Ich glaube, er ist todt.«

Jacques hatte der Gedanke, Misard beim Suchen nach Tante Phasie's Schatz ertappt zu haben, fast übermannt. Aber die jähe Gewißheit, daß sein Zweifel grundlos und die Beschuldigungen der Tante berechtigte waren, wurde durch die Neuigkeit von dem Funde eines Leichnams sofort verdrängt. Er vergaß das zweite Drama, das sich hier in diesem abseits von der Welt gelegenen Häuschen abspielte. Die Szene im Koupee, die kurze Vision von der Ermordung eines Mannes durch einen zweiten tauchte mit blitzartiger Schnelligkeit wieder vor ihm auf.

»Ein Mensch auf der Strecke, wo denn?« fragte er erbleichend.

Misard war nahe daran zu erzählen, daß sich zwei Aale in seinen Netzen gefangen hätten, die er vorhin im Galopp nach Hause getragen habe, um sie zu verstecken. Aber wozu sich diesem Knaben anvertrauen? Er machte daher nur eine unbestimmte Bewegung und erwiderte:

»Dort unten, vielleicht fünfhundert Meter von hier ... Weiter weiß ich nichts, müssen mal erst die Sache bei Licht betrachten.«

Jacques hörte in diesem Augenblicke über sich eine dumpfe Erschütterung. Er war so geängstet, daß er zusammenfuhr.

»Das ist nichts,« sagte der Vater, »Flore rumort wahrscheinlich.«

Der junge Mann hörte jetzt in der That das Umhertappen zweier nackter Füße auf dem Estrich. Sie hatte zweifellos auf ihn gewartet und durch ihre nur halbgeschlossene Thür ihn kommen gehört.

»Ich begleite Euch,« sagte Jacques .. »Ihr glaubt wirklich, daß er todt ist?«

»Zum Teufel auch, mir scheint es so. Die Laterne wird es ja zeigen.«

»Und was haltet Ihr davon? Ein Unfall wahrscheinlich?«

»Vielleicht. Irgend einen Strick, der sich hat überfahren lassen, oder vielleicht auch ein aus dem Koupee gesprungener Reisender.«

Jacques überlief es kalt.

»Kommt schnell, kommt schnell!«

Noch nie hatte ihn das Fieber, zu sehen und wissen zu wollen, so gepackt. Während sein Gefährte vollständig gleichgiltig auf dem Eisenbahndamm dahinschritt, wobei die Laterne hin- und her schwankte, deren runde Helle sanft an den Schienen entlang glitt, lief er voraus. Diese Langsamkeit ärgerte ihn. Ihn trieb ein physisches Verlangen, dieselbe Gluth, welche den Gang der Liebenden zum Stelldichein beflügelt. Er empfand Furcht vor dem ihn erwartenden Anblick und doch flog er mit gespannten Muskeln dorthin. Als er an Ort und Stelle anlangte, fiel er beinahe über die dicht neben den Schienen liegende dunkle Masse. In seiner Aufregung konnte er nichts deutlich erkennen. Fluchend rief er dem Anderen zu, der noch mehr als dreißig Schritt zurück war:

»So beeilt Euch doch, in des Teufels Namen. Vielleicht kann man ihm noch helfen, wenn er noch lebt.«

Misard aber schwankte gemächlich weiter. Als er endlich seine Laterne über den Körper des Verunglückten hielt, sagte er:

»O je, der hat seinen Theil.«

Das zweifellos aus dem Waggon gestürzte Individuum war höchstens fünfzig Centimeter von den Schienen entfernt mit dem Gesicht nach dem Boden auf den Leib gefallen. Man sah von seinem Kopfe nur den mit dichten weißen Haaren bedeckten hintern Theil. Seine Beine lagen gespreizt. Sein rechter Arm schien wie ausgerenkt, der andere lag unter der Brust. Sein Anzug verrieth einen Angehörigen der bessern Stände. Er trug einen weiten Paletot von blauem Tuch, elegante Stiefel und seine Wäsche. Der Körper zeigte keine Spuren der Vergewaltigung, nur war viel Blut aus einer Halswunde geronnen und hatte den Hemdkragen besudelt. »Ein Bürger, der sein Fett fort hat,« bemerkte Misard nach einigen Minuten lautloser Prüfung.

»Faßt ihn nicht an, das ist verboten,« sagte er dann zu Jacques, der mit offenem Munde sich nicht zu rühren wagte. »Bewachen Sie ihn, ich will inzwischen nach Barentin laufen und den Bahnhofsinspector benachrichtigen.«

Er hob seine Laterne in die Höhe und sah nach dem Kilometerpfahl.

»Schön, gerade bei Pfahl 153 also.«

Er stellte die Laterne auf den Boden neben die Leiche und entfernte sich schleppenden Schritts.

Jacques bewegte sich nicht, als er allein war. Er blickte unentwegt auf diese träge am Boden liegende Masse, deren Umrisse das flackernde Licht kaum erkennen ließ. Die Aufregung, die vorhin seine rasende Wanderung veranlaßt, der fürchterliche Magnet, der ihn hier festbannte, sie weckten in ihm den gleichen scharfen, sein ganzes Wesen durchblitzenden Gedanken: der andere, der mit dem Messer zugestoßen, der hatte es gewagt! Der war bis an's Ziel gelangt, der hatte getödtet! O nur nicht feige sein, seinen Sinn befriedigen und dann tief hinein das Messer! Seit zehn Jahren marterte ihn dieser Gedanke. Sein Fieber malte ihm eine Verachtung seiner selbst, eine Bewunderung für den Anderen vor, besonders aber das unstillbare Verlangen, zu sehen und die Augen zu weiden an diesem menschlichen Fetzen, diesem zerbrochenen Hanswurst, diesem Waschlappen, zu welchem ein einziger Messerstich ein menschliches Geschöpf umwandeln kann. Seinen Traum hatte der andere verwirklicht. Das war es also! Wenn er tödtete, würde ihm dasselbe, was da vor ihm lag, bleiben. Sein Herz schlug zum Springen, seine lüsterne Mordlust machte ihn angesichts dieses tragischen Todes rasend Ein Schritt brachte ihn näher an die Leiche heran; er glich jetzt einem nervösen Kinde, das sich die Furcht abgewöhnen will. –Ja, er würde es wagen, auch er würde es wagen!

Ein Schnauben hinter seinem Rücken zwang ihn, zur Seite zu springen. Von seinen Gedanken gepackt, hatte er das Kommen eines Zuges überhört. Fast wäre er zermalmt worden. Der heiße Athem, das fürchterliche Keuchen der Maschine warnten ihn noch rechtzeitig. Der Zug schoß in einem Orkan von Lärm, Rauch und Flammen vorüber. Er war ebenfalls sehr besetzt. Der Strom von Reisenden nach Havre zu dem Feste am nächsten Tage fluthete noch immer. Ein Kind hatte sein Näschen gegen die Scheibe gedrückt und blickte in die dunkle Landschaft hinaus. Profile von Männern hoben sich ab und eine junge Frau ließ eine Fensterscheibe hinunter, um ein mit Butter und Zucker beschmiertes Stück Papier hinauszuwerfen. Lustig fuhr der Zug in die Ferne; er ahnte nicht, daß seine Räder fast einen Leichnam berührt hatten. Und der Körper ruhte noch immer auf dem Gesicht, umflackert von dem unsteten Licht der Laterne inmitten dieses überwältigenden Friedens der Nacht.

Jacques verlangte es, die Wunde zu sehen, so lange er noch allein war. Aber die Furcht, man könnte vielleicht bemerken, daß er den Kopf berührt habe, hemmte sein Vorhaben. Er hatte sich ausgerechnet, daß Misard nicht vor dreiviertel Stunden mit dem Stationsvorsteher zurück sein könnte. Er zählte die Minuten, er dachte an Misard, diesen schleichenden, stillen Jammermenschen, der mit der ruhigsten Miene von der Welt mit kleinen Dosen Giftes ebenfalls mordete. Der Mord war also weiter kein Kunststück? Denn alle Welt mordete ja. Von Neuem beugte er sich über den Todten, das Verlangen kitzelte ihn so, daß ihm der ganze Körper juckte. Er wollte gar zu gern sehen, wie das gemacht worden, was da eigentlich ausgeflossen war, vor allem das rothe Loch! Wenn er den Kopf vorsichtig anfaßte, konnte kein Mensch etwas merken. Aber etwas anderes, eine sich selbst nicht eingestandene Furcht hielt ihn zurück, die Furcht vor dem Blut. Immer und überall gesellte sich in ihm zu dem Verlangen die Angst. Nur noch eine Viertelstunde mußte er allein aushalten und trotz seiner Furcht würde er sein Vorhaben vielleicht gewagt haben, wenn nicht ein Rascheln an seiner Seite ihn hätte erschrecken lassen.

Es war Flore. Sie stand neben dem Leichnam und betrachtete ihn wie er. Sie mußte überall sein, wo es ein Unglück gab; wenn man meldete, daß ein Thier von einem Zuge zermalmt oder ein Mensch überfahren worden sei, sah man sie sicher herbeigelaufen kommen. Sie hatte sich wieder angezogen, sie wollte den Todten sehen, von welchem ihr Vater gesprochen. Nachdem sie einen Blick darauf geworfen, zögerte sie keinen Augenblick. Sie bückte sich, hob mit der einen Hand die Laterne auf und mit der anderen drehte sie den Kopf herum.

»Achtsam, es ist verboten,« mahnte Jacques leise.

Sie zuckte mit den Schultern. Der Kopf zeigte sich jetzt in dem gelblichen Lichte, das Gesicht eines Greises mit einer großen Nase und den blauen Augen eines ehemals blonden Menschen, die weit offen standen. Unter dem Kinn klaffte die entsetzliche Wunde, ein tiefer und erweiterter Schnitt durch die Kehle, als wäre mit dem Messer suchend darin herumgewühlt worden. Die rechte Seite der Brust war vollständig mit Blut begossen. Auf der linken Seite schimmerte in dem Knopfloche des Ueberziehers die Rosette der Ehrenlegion wie ein vereinzelter, dorthin verirrter Blutstropfen.

Flore stieß einen leisen Schrei der Ueberraschung aus.

»Bei Gott, der Alte!«

Jacques beugte sich noch weiter hinunter, um besser sehen zu können, wobei sein Haar das ihrige streifte. Sein Athem ging ihm fast aus, so weidete er sich an dem Schauspiel.

»Der Alte, der Alte!« wiederholte er, ohne zu wissen, was er sagte.

»Ja doch, der alte Grandmorin –der Präsident.«

Einen Augenblick noch sah sie prüfend in das bleiche Antlitz mit den zusammengebissenen Lippen und den unheimlich blickenden Augen. Schon begann die Todesstarre den Körper steif zu machen. Sie ließ den Kopf fallen, der auf den Boden aufschlug und die Wunde verdeckte.

»Nun hört das Gescherze mit jungen Mädchen auf,« begann sie etwas leiser. »Das ist gewiß wegen Einer so gekommen ... O meine arme Louisette! O dieses Schwein, so hat man es recht gemacht!«

Ein langes Schweigen trat ein. Flore hatte die Laterne wieder hingestellt und wartete. Verstohlene Blicke wanderten zu Jacques hinüber, der, durch den Todten von ihr getrennt, kaum noch athmete und wie kopflos von dem soeben Gesehenen, wie ohnmächtig dastand. Es mußte bald elf Uhr sein. Sie geduldete sich noch einige Augenblicke, sie schien überrascht von seinem Schweigen. Eine nach den Vorgängen des Abends natürliche Verlegenheit hinderte sie, zuerst zu sprechen. Jetzt ließen sich aber Stimmen vernehmen, es war der Vater, der den Bahnhofsinspector geholt hatte. Sie wollte nicht gesehen werden und entschloß sich daher, ihn anzureden.

»Du willst nicht bei uns schlafen?«

Er zitterte, ein innerer Kampf schien ihn erbeben zu lassen.

»Nein, nein!« stieß er endlich mit der letzten Kraft der Verzweiflung hervor.

Sie rührte sich nicht, aber die glatt herniederfallende Linie ihrer kräftigen Mädchenarme drückte deutlich genug ihren Kummer aus. Sie wollte, daß er ihr ihr Widersetzen nicht nachtrage und fragte nochmals demüthig:

»Du wirst also nicht zu uns kommen, ich soll Dich nicht wiedersehen?«

»Nein, nein!«

Die Stimmen kamen näher. Ohne nach seiner Hand zu haschen, denn er schien absichtlich den Todten zwischen sich und ihr zu lassen, ja selbst ohne ihm das kameradschaftliche Lebewohl aus ihren Kindertagen zugerufen zu haben, ging sie davon und verlor sich in der Finsterniß. Ihr Athem ging rauh, als unterdrückte sie ein Schluchzen.

Gleich darauf war der Bahnhofsinspector mit Misard und zwei Arbeitern zur Stelle. Er konstatirte ebenfalls sofort die Identität: es war in der That der Präsident Grandmorin. Er kannte ihn sehr gut, denn er sah ihn oft genug auf seiner Station den Zug verlassen, wenn er sich nach Doinville zu seiner Schwester, Frau Bonnehon, begab. Der Körper konnte auf dem Platze bleiben, wo er lag, nur ließ er ihn mit einem von einem seiner Leute mitgebrachten Mantel bedecken. Ein Beamter sollte mit dem elf Uhr Zuge von Barentin abreisen, um den kaiserlichen Prokurator in Rouen von dem Geschehenen zu benachrichtigen. Doch war auf das Erscheinen desselben vor fünf oder sechs Uhr Morgens nicht zu rechnen, denn er mußte gemeinsam mit dem Untersuchungsrichter, dem Gerichtsschreiber und einem Arzt an die Unglücksstätte kommen. Der Bahnhofsvorsteher ließ also einen Mann, der sich während des übrigen Theiles der Nacht mit einem zweiten abzulösen hatte, mit der Laterne als Wache bei dem Todten zurück.

Ehe Jacques sich entschloß, in irgend einem Schuppen der Station Barentin, von wo aus er erst um sieben Uhr zwanzig Minuten nach Havre zurückkehren konnte, seine müden Glieder auszustrecken, stand er dort noch lange unbeweglich, wie besessen. Der Gedanke, daß man den Untersuchungsrichter erwarte, verwirrte ihn, als wäre er selbst ein Mitschuldiger. Sollte er sagen, was er beim Vorüberjagen des Schnellzuges gesehen hatte? Er entschloß sich zunächst, es sagen zu wollen, denn was hatte er zu fürchten? Uebrigens war es zweifellos seine Pflicht. Dann aber überlegte er sich, wozu würde das gut sein? Er konnte kein einziges thatsächliches Factum melden, er konnte keine einzige genaue Einzelheit von dem Mörder angeben. Er wäre ein Thor, sich da hineinzumischen, seine Zeit zu vergeuden und sich aufzuregen, ohne Nutzen für irgend Jemand. Nein, nein, er wollte lieber nichts sagen! Er ging endlich davon, sah sich aber noch zweimal nach der düsteren Masse um, welche der vom gelblichen Scheine der Laterne beleuchtete Körper am Boden bildete. Eine empfindlichere Kälte sank vom nebligen Himmel auf die Trostlosigkeit dieser Einöde mit ihren dürren Anhöhen hernieder. Zug folgte noch immer auf Zug. Ein sehr langer ging nach Paris. Die unerbittliche mechanische Kraft trieb sie an einander vorüber ihren fernen Zielen, der Zukunft entgegen. Sie achteten nicht darauf, daß sie das halb abgeschnittene Haupt dieses Menschen streiften, den ein andrer Mensch umgebracht hatte.

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