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3.1 Intuitives Spiegeln

Wechselseitige Anpassung, Imitation und Mimikry werden in der psychologischen Fachsprache synonym verwendet, um zwei Individuen zu beschreiben, die dasselbe oder ein ganz ähnliches Verhalten zeigen (engl.: »matching«). Auch der Ausdruck Spiegeln (engl.: »mirroring«) wird oft gleichbedeutend mit den genannten Ausdrücken gebraucht; einige Experten reservieren das Spiegeln jedoch für die Beschreibung zweier Personen, die dieselbe Körperposition einnehmen oder motorischen Funktionen spiegelverkehrt ausüben, so als ob sie ein Spiegelbild kopieren. In diesem Buch verwenden wir Anpassung, Mimikry, Imitation und Spiegeln als Synonyme, wenn wir auf eine Unterscheidung nicht ausdrücklich hinweisen.

Die Imitation des Verhaltens eines anderen Individuums findet sich in der gesamten Tierwelt in verschieden starker Ausprägung. Am besten entwickelt ist sie bei uns Menschen (Iacoboni 2009a). Moderne bildgebende Techniken zur Visualisierung und Kartierung von Hirnfunktionen legen nahe, dass ein zentrales neuronales Netzwerk im Gehirn das Erkennen des Verhaltens einer anderen Person (ihrer Körperhaltung, Gestik, Gesichtsausdrücke, Redestile etc.) und das darauffolgende Imitieren dieses Verhaltens durch den Betrachter vermittelt. Dieses Netzwerk interagiert mit geeigneten anderen neuralen Systemen und führt so zu verschiedenen Formen nachahmenden Verhaltens (ebd.). Babys imitieren die Gesichtsausdrücke Erwachsener schon einige Minuten nach der Geburt (Meltzoff a. Decety 2003). Es wird angenommen, dass diese angeborene, Verknüpfung der Beobachtung des Verhaltens einer anderen Person mit dessen unmittelbarer intuitiver Spiegelung Kindern zu verstehen ermöglicht, dass andere ihnen ähnlich sind. Auch soll auf diese Weise Empathie für Artgenossen bewirkt werden (ebd.).

Einige der interessantesten neurobiologischen Entdeckungen bezüglich Mimikry wurden bei Experimenten mit Affen gemacht und folgten dem Motto »Was ein Affe sieht, das macht er nach«. In den frühen 1990iger-Jahren untersuchten Giuseppe di Pellegrino und seine Kollegen von der Forschungsgruppe um Giacomo Rizzolatti, dem Direktor der Abteilung für Neurowissenschaften an der Università degli Studi in Parma, Italien, die Neuronen im prämotorischen Kortex von Affen. Ihre Arbeit deckte spezifische Aktivierungsmuster für Handbewegungen der Tiere auf, wie Greifen, Halten oder Zerren (di Pellegrino et al. 1992). Eines Tages bemerkten die Forscher zufällig, dass dasselbe Muster der Aktivierung motorischer Neuronen, das sie bei verschiedenen Handbewegungen der Affen identifiziert hatten, auch dann auftrat, wenn die Affen sich selbst gar nicht bewegten, die Forscher aber dabei beobachteten, wie diese die gleichen Handbewegungen ausführten. Die Neuronen der Affen feuerten synchron zu den Bewegungen der Forscher. Neuere Arbeiten der Forschungsgruppe haben gezeigt, dass auditive Stimuli (Hörreize) ähnliche Effekte haben können (Kohler et al. 2002). Affen sind also nicht nur gut darin, andere zu imitieren, sie scheinen es auch zu genießen, selbst imitiert zu werden. Sie schauen nämlich lieber einer Person zu, die ihre eigenen Bewegungen nachmacht, als einer Person, die das nicht tut (Paukner et al. 2005).

Diese Forschungsergebnisse an Affen gaben den Anstoß zu weiteren Studien über die »Spiegelneuronen« und ihre Rolle bei Imitation, Empathie und sozialer Interaktion. Mit modernen MRT-Techniken ist es den Forschern gelungen, die Existenz der Spiegelneuronen auch beim Menschen nachzuweisen. Fest verknüpfte Schaltkreise für die Imitation sind in einigen Bereichen des menschlichen Gehirns identifiziert worden: Da gibt es die Schaltkreise im dorsolateralen präfrontalen Kortex, die wahrscheinlich das Lernen durch Nachahmung erleichtern; die Interaktion mit dem limbischen System, von der angenommen wird, dass sie grundlegend für das soziale Spiegeln und die Fähigkeit zur Empathie ist; und Simulationen von Gesichtsausdrücken, die eventuell das Akzeptieren der Emotionen anderer Menschen vermitteln (Iacoboni 2009a).

In spannenden aktuellen Experimenten zu den therapeutischen Wirkmechanismen im Rahmen der Arzt-Patienten-Beziehung wurden Patienten mit chronischen Schmerzen und die sie behandelnden Akupunkteure gleichzeitig mit MRT-Hyperscanning (funktionaler Magnetresonanz) untersucht (Ellingsen et al. 2020). Dabei ist es gelungen, Gesichtsausdrücke und Hirnsignale der beiden Beteiligten zu korrelieren, unmittelbar während echte oder simulierte Akupunktur appliziert wurde. Wie sich zeigte, spiegelten die Akupunkteure die Gesichtsausdrücke ihrer Patienten wider, wenn schmerzhafte Akupunkturstimuli erwartet wurden, und sogar die Hirnaktivität beider Beteiligten zeigte vergleichbare Reaktionen. Die synchronisierte Aktivität betraf Hirnregionen, die normalerweise mit dem Lesen der Emotionen des beobachteten Gegenübers assoziiert sind. Diese Studie untermauert, dass das Spiegeln von Gesichtsausdruck und Emotionen den Eindruck einer persönlichen Bindung zwischen Patient und Behandler positiv beeinflusst.

3.2 Spiegeln und (bewusst) nicht spiegeln

Das Imitieren von Handlungen ist ein Weg, um die Botschaft zu senden: »Ich bin wie du.« Einer der Vorteile, »gleich« zu sein, ist sozialer Natur. Menschen wertschätzen andere, die so sind wie sie. Andere zu imitieren vergrößert nachweislich die eigene Akzeptanz durch die Imitierten und begünstigt harmonische soziale Interaktionen (Chartrand a. van Bargh 1999). So ist es kein Wunder, dass Kulturen oder Individuen, die stärker auf Wechselbeziehungen ausgerichtet sind, sich tendenziell besser an das Verhalten anderer anpassen als Kulturen oder Individuen, die sich durch größere Unabhängigkeit auszeichnen (van Baaren, Maddux a. Chartrand 2003).

Während die Anpassung an das Verhalten anderer Menschen unter normalen Bedingungen automatisch abläuft, haben wir oft beobachtet, dass dieser Mechanismus gehemmt wird, wenn Gespräche kontrovers verlaufen oder ein Gesprächspartner unter Stress steht. Diese Hemmung lässt sich vielleicht auf die bekannte Tendenz des Menschen zurückführen, seine natürliche Neigung zur Imitation zu verringern, wenn er sich mehr um sich selbst sorgt als um seine Wechselbeziehung mit oder Abhängigkeit von anderen (ebd.).

Während der von uns angebotenen Ausbildungen in Kurzzeitbegleithypnose lassen wir die Teilnehmenden oft eine emotional aufgeladene Unterhaltung spielen, in der sich eine Person so uneinsichtig und störrisch wie möglich verhalten soll. Das Ergebnis ist immer, dass die Partner Haltungen einnehmen, die nicht zueinander passen. Im zweiten Teil dieser Übung wird dann einer der beiden Teilnehmenden aufgefordert, die Körpersprache und Gestik des anderen zu spiegeln. Jedes Mal werden die Interaktionen in diesem zweiten Teil der Übung viel harmonischer, egal wie stark der Gegenspieler versucht, unkooperativ zu bleiben. Wie sich empirisch eindeutig gezeigt hat, erzeugt die Anpassung an die Körperhaltungen und Gesten des Konversationspartners Harmonie und erleichtert den Kontakt.

Menschen in Rapport nehmen unbewusst ähnliche Körperhaltungen ein. Wenn wir andere Menschen sehen, scheinen wir oft zu spüren, wer von ihnen einen guten Kontakt zu seinem Gesprächspartner hat und wer nicht. Vielleicht haben Sie sich dabei ertappt, das zu erraten, wenn Sie Paare in einem Restaurant sehen. Hatten Sie unbewusst die Körperhaltungen beobachtet und bewertet?

Anpassung ist wichtig

Um den Effekt des Spiegelns und des bewussten Nicht-Spiegelns zu demonstrieren, baten wir zwei unserer ärztlichen Kollegen, uns bei zwei Videos zu helfen, in denen sie eine schwierige Kommunikationssituation darstellen sollten. Wir machten heimlich mit G., der die Rolle des Arztes spielen sollte, aus, dass er die Körperhaltung seines Kollegen H., der den Patienten spielte, bewusst nicht spiegeln sollte. H. wusste nichts von unserer Anweisung an G. Im Drehbuch stand, dass der Patient schon eine Weile auf seine Behandlung gewartet hatte. Gerade, als er an der Reihe war, wurde ihm von G. gesagt, dass Notfall dazwischengekommen sei und er den Raum verlassen und ein anderes Mal wiederkommen müsse. Der Patient (H.) wurde von uns im Vorfeld heimlich angewiesen, sich so stur wie möglich zu verhalten. Damit war er so erfolgreich, dass er schließlich den Arzt (G.) dazu brachte, verzweifelt den Raum zu verlassen.

Als wir diesen Videoclip während einer Podiumsdiskussion zum Thema Kommunikationstraining auf einem nationalen Medizinertreffen zeigten, erklärten wir dem Publikum, dass wir G. instruiert hatten, ein bestimmtes Verhalten nicht zu zeigen, was dann den Ton der gefilmten Interaktion beeinflusst hatte. Wir ließen die Zuschauer raten, welche Anweisung wir gegeben hatten. Die Teilnehmenden stimmten überein, dass diese Kommunikation sehr schlecht verlaufen war, konnten aber den Grund dafür nicht angeben. Einzelne Wortmeldungen beschrieben verschiedene Verhaltensweisen oder Auslassungen, für die G. eindeutig nicht verantwortlich gemacht werden konnte. Es wurde Kritik laut, er hätte vergessen, sich dem Patienten vorzustellen oder die Vorgänge nicht erklärt und dem Patienten nicht zugehört, was aber alles nicht zutraf. Zum Glück konnten wir das Video zurückspulen und mehrere Zuschauer mussten zugeben, bei ihren Vermutungen übersehen zu haben, dass der Arzt sich am Anfang sehr wohl vorgestellt und dem Patienten die Hand geschüttelt, seine Vorgehensweise erklärt und dem Patienten zugehört hatte.

Bevor wir das Rätsel auflösten, zeigten wir ein zweites Video mit denselben Schauspielern. Darin spielte G. wieder den Arzt und bekam von uns wiederum heimliche Instruktionen. Dieses Mal wurde er jedoch angewiesen, alle Körperhaltungen und -bewegungen des Patienten zu imitieren. Obwohl H., der Patient, sein Bestes gab, sich daneben zu benehmen, schaffte er es diesmal einfach nicht, aggressiv und unvernünftig zu agieren. Und G. spürte nicht den Stress, den er im ersten Video erlebt hatte, als er den Patienten nicht spiegeln durfte. Die Zuschauer bewerteten das Verhalten von G. im zweiten Video als sehr gut, es gelang ihnen aber nicht herauszufinden, welchen Verhaltensaspekt G. im zweiten Video gezeigt und im ersten Video vermieden hatte. Erst als wir das zweite Szenario wiederholten, lachten viele Teilnehmenden laut über die Nachahmung, die jetzt offensichtlich geworden war.

(Tagebucheintrag von E. Lang)

3.3 Wie man richtig spiegelt

Beim Spiegeln gibt es etwas sehr Wichtiges zu beachten: Man muss jene Art des Nachmachens vermeiden, die das Gegenüber lächerlich machen könnte. Es gibt zwei Schutzmaßnahmen vor dieser Assoziation: Die erste Maßnahme, mit der Sie vermeiden können, dass der Gesprächspartner Ihre Bewegungen als Nachäffen empfindet, ist das leichte, zeitliche Verzögern Ihres Spiegelns. Warten Sie also einen Moment, bevor Sie ihn imitieren. Die zweite Maßnahme ist, ein hundertprozentiges und kontinuierliches Imitations-Playback zu vermeiden.

Imitieren Sie stattdessen durch spiegelverkehrte Haltungen oder Bewegungen. Wenn Ihr Gesprächspartner sich z. B. mit dem Daumen der rechten Hand die Brille in der Mitte des Gestells zurechtrückt, nehmen Sie dazu, nach einer kleinen Verzögerung, den Daumen Ihrer linken Hand. Imitieren ist wirksam, egal ob eine Position exakt gespiegelt wird – wenn z. B. beide Gesprächspartner ihre Arme verschränken – oder nur symbolisch, wenn also der beobachtete Partner seine Arme kreuzt, der Beobachter aber nur seine Hände; wenn der beobachtete Partner seine Beine auf Oberschenkelniveau übereinanderschlägt und der Beobachter auf Knöchelebene; wenn der beobachtete Partner sein rechtes Ohr berührt und der Beobachter sein linkes Ohr.

Das Nachahmen zur Herstellung von Rapport beschränkt sich nicht auf das Spiegeln von Körperpositionen. Es ist hilfreich, sich auch an andere nonverbale Schlüsselelemente der Kommunikation anzupassen. Wenn Sie z. B. sehen, dass Ihr Gesprächspartner den Kopf hängen lässt und wegsieht, können Sie diese Bewegungen ebenfalls spiegeln. Ein anderer Parameter, den man beachten sollte, ist der Sprechrhythmus. Wenn eine Person langsam spricht und oft Pausen einlegt – vielleicht, um nach Zeichen eines Verständnisses Ihrerseits zu suchen –, können Sie dieses Tempo spiegeln. Wenn das Sprachmuster der Person flott und schnell ist, vermeiden Sie langsame, penible Erklärungen.

Die Anpassung an das Verhalten eines Patienten kann gelegentlich dem allgemeinen Verständnis eines »angemessenen« Benehmens einer medizinischen Fachkraft widersprechen. Oft wird eine offene Körperhaltung gegenüber dem Gesprächspartner als professionell angesehen. Früher hielten Forscher aufgrund von Experimenten eine aufrechte, offene Haltung für erwünscht und effektiv. Doch nachdem sie Personen ausgewertet hatten, die in eine konfrontative Unterhaltung verwickelt waren, revidierten sie diese Meinung. Unter solch konfrontativen Bedingungen kam es zu einem besseren Rapport zwischen den beteiligen Gesprächspartnern, wenn beide sich zurücklehnten und so voneinander wegbewegten, als wenn wie gewöhnlich die eine Person (die Fachkraft) versuchte, sich aufrecht zu positionieren, unabhängig davon, was die andere tat (Bernieri et al. 1996).

Sollte Ihr Gegenüber Sie darauf ansprechen, dass Sie ihn imitieren, oder falls Sie sich selbst beim Spiegeln irgendwie unwohl fühlen, können Sie sich Folgendes klarmachen. Im Grunde geht es beim Spiegeln darum, dass Sie für einen Moment erfahren wollen, wie sich Ihr Patient fühlt, um mit diesem intuitiv erworbenen Wissen die Interaktion sinnvoll fortzuführen. Immer mehr Untersuchungen zeigen die Verbindung zwischen Körperhaltung und Mimik einerseits und den damit einhergehenden Gefühlen andererseits: Ist man beispielsweise froh, tendiert man dazu, aufrechter zu stehen und lebhafter zu sein. Ist man dagegen traurig, lässt man oft den Kopf hängen, bewegt sich langsam oder runzelt die Stirn. Diese Verbindung zwischen Körper und Seele ist jedoch keine Einbahnstraße: Beispielsweise ist es möglich, mit der lokalen Injektion von Botulinumtoxin, das die Stirnmuskeln vorübergehend lähmt, die Symptome einer therapieresistenten Depression zu verbessern (Parsaik et al. 2016).

Merke

 Das spiegelnde Imitieren anderer ist in unserem Gehirn fest verankert und ein automatisch ablaufendes, natürliches Phänomen.

 Menschen im Kontakt, die ein gutes Verhältnis, einen guten Draht zueinander haben, neigen dazu, die Körperhaltung ihres Gegenübers zu spiegeln.

 Wenn Menschen gestresst sind oder sich auf sich selbst konzentrieren, imitieren sie ein Gegenüber weniger.

 Das aktive Spiegeln der Körperbewegungen erzeugt in Gegenüber schnell Rapport und das Gefühl, emotional verstanden zu werden.

 Wenn man jemanden aktiv spiegelt, verzögert man am besten seine Anpassung an dessen Körperbewegungen und vermeidet exaktes Kopieren, damit die Nachahmung nicht als Nachäffen missverstanden wird.

Gelegenheiten zum Üben

Suchen Sie sich Gruppenfotos heraus und stellen fest, wer sich darauf in Rapport mit jemand anderem befindet. Stehen Menschen auf dem Foto nahe beieinander und nehmen ähnliche Haltungen ein? Springt das Nachahmen bei aufgereihten Personen von einer Reihe zur nächsten über? Wer hat seine Hände gefaltet, und in welche Richtung weisen die Körper? Vielleicht stellen Sie amüsiert fest, wer wen imitiert. Wenn Sie jährlich erstellte Fotos derselben Arbeitsgruppe vergleichen, kann es interessant sein zu sehen, wie Leute, die sich früher imitierten, es jetzt nicht mehr tun, oder umgekehrt. Wenn Sie in die internen Gruppensituationen am Arbeitsplatz eingeweiht sind, wird dies für Sie noch interessanter.

Beobachten Sie die Körperhaltung der Sie umgebenden Menschen und Ihre eigene, und nützen Sie das Spiegeln als Indikator, um festzustellen, wer sich mit wem in Rapport befindet. Besonders wenn einige von Ihnen dieses Kapitel gelesen haben oder im Spiegeln ausgebildet sind, feiern Sie spontan gelegentlich eine Art »Rapportfest«, wie wir das manchmal amüsiert nennen, wenn wir uns während eines Meetings alle in identischen Spiegelbildern wiederfinden.

4 Den eigenen Rhythmus anpassen – Matching

Fallbeispiel 4: Schreie im Flur

Die Frau des Patienten war gerade erst informiert worden, dass der Zustand ihres Mannes kritisch sei und er sich in den nächsten Tagen einer weiteren Operation unterziehen müsse. Das Paar, das seit über 50 Jahren verheiratet war, war gerade erst in die USA übergesiedelt. Während ihres gemeinsamen Lebens hatten es überaus schwierige Situationen gemeistert, und der Mann hatte immer für seine Frau gesorgt und war ihre emotionale Stütze gewesen. Es war für die Frau unerträglich, sich mit dem Gedanken zu konfrontieren, den Mann, der ihr so viel bedeutete, zu verlieren; sie wurde immer aufgeregter. Sie rannte den Flur entlang und fing an, zu schreien, zu gestikulieren und das Krankenhauspersonal zu beleidigen und zu bedrohen. Sie konnte sich nicht mehr beruhigen.

Das Team wollte schon das Wachpersonal rufen. Elvira Lang bat die Beteiligten, sich noch einen Augenblick zu gedulden. Sie näherte sich der schreienden Frau und begann mit ihr zu interagieren, indem sie ihre Bewegungen nachahmte. Elvira Lang imitierte das wilde Gestikulieren der Frau und ihre laute Stimme so gut wie möglich. Sie schwang ihre Arme so energisch auf und ab, wie es die Frau tat, und antwortete auf die schrillen Fragen und Klagen mit fast der gleichen lauten Stimme. Während der nächsten 30 Sekunden verringerte Elvira Lang Ausmaß und Geschwindigkeit ihrer Armbewegungen, tat tiefere und langsamere Atemzüge und senkte allmählich ihre Stimme. Die Patientin folgte dieser Führung und sehr bald sprachen beide schon viel gemäßigter, bis sich die Frau einigermaßen unter Kontrolle hatte und auf eine Weise kommunizierte, die besser zu dieser kritischen Situation passte.

Elvira Langs anfängliche Stimmlage und Bewegungen waren wahrscheinlich sehr »unangemessen« für einen Arzt. Diese eher ungewöhnliche Reaktion auf die verzweifelte Frau des Patienten war aber nötig, um eine Verbindung zu ihr und Rapport herzustellen. Es war sicher eigenartig, eine Ärztin laut schreien und gestikulieren zu sehen – auch wenn es nur für einige Momente war –, aber es war definitiv hilfreicher, als nur zuzusehen, wie das Wachpersonal die von ihren Ängsten überwältigte Frau wegführt.

(Fallnotizen von E. Lang)

Was dieser Fall zeigt: Es ist leicht, Rapport bei einer anderen Person herzustellen, wenn man ihre Körperhaltungen und Gesten, ihre Stimme oder ihr Atemmuster spiegelt. Am Anfang bestimmt die Person, die Sie spiegeln, den Rhythmus. Wenn Sie sich synchronisiert haben, können Sie das Tempo verringern und die andere Person mit Ihrem Beispiel hin zu wünschenswerteren Verhaltensweisen leiten (Leading).

4.1 Anpassen als Führungsprinzip

Dasselbe Prinzip, dass Sie in Kapitel 3, »Rapport durch Spiegeln der Körperhaltung herstellen«, gelernt haben, kann auch auf das Imitieren des Rhythmus der Gestik, der Tonfärbung und der Sprechgeschwindigkeit oder des Atemmusters angewandt werden. Spricht ein Patient zum Beispiel mit einer langsamen und niedergeschlagenen Stimme, dann könnte er hinter dem fröhlichen Geplapper seines Gegenübers mangelndes Verständnis vermuten. Auf der anderen Seite würde die emotionslose, ruhige Ansprache eines laut schreienden, wild gestikulierenden Patienten, wie in Fallbeispiel 4 diesen wahrscheinlich noch wütender machen.

Während das Spiegeln des Patienten Ihnen dabei helfen kann, schnell Rapport mit ihm herzustellen, ist es weder für Sie noch für den Patienten wünschenswert, in einem Zustand voller Stress und Trauer oder mit sonstigem Unwohlsein stecken zu bleiben. Ihr Ziel ist es letztlich, den Patienten in ein besser austariertes emotionales und körperliches Gleichgewicht zu bringen, in dem er wieder Zugriff auf seine Ressourcen bekommt. Um dieses Ziel zu erreichen, machen Sie sich zunutze, dass Ihr Spiegeln keine Einbahnstraße ist (Miles, Nind a. Macrae 2009; van Baaren, Maddux a. Chartrand 2003). Wenn Sie beim Patienten bleiben und sich an dessen Rhythmus anpassen (Matching), bis Sie beide synchronisiert sind, wird der Patient unbewusst damit anfangen, auch Sie zu spiegeln. Ihre Änderungen des Rhythmus erlauben dem Patienten im Sinne einer Anleitung (Leading), seinen momentanen Zustand zu verlassen, Ihrem Beispiel zu folgen und in einen Zustand überzugehen, in dem der Patient sich besser fühlt und wieder Zugang zu den eigenen Ressourcen erhält.

Gestresste Patienten atmen oft schnell und flach. In diesem Kontext hat das Nachahmen des Rhythmus das Ziel, den Patienten anzuleiten, sich zu entspannen und tiefer, langsamer und regelmäßiger zu atmen. Dies kann schnell erreicht werden. Wenn man den Atemrhythmus des Patienten für kurze Zeit spiegelt und dann einen tiefen Atemzug nimmt, danach langsam mit einem leisen »ahh« ausatmet und eine Haltung einnimmt, die den Brustkorb weitet, kann das den Patienten rasch zurück in sein inneres Gleichgewicht bringen. Es ist beim Spiegeln wichtig, nicht zu lange zu hyperventilieren, damit es Ihnen nicht schwindelig wird.

Wenn Ihr Patient zusammengesunken und traurig dasitzt, können Sie eine ähnliche Körperhaltung einnehmen, einige Momente mit leiser, weicher Stimme sprechen und ihn dann in eine Position des Selbstvertrauens führen, mit hörbarem, tiefem Einatmen und zufrieden-entspannter Ausatmung. Wie im folgenden Tagebucheintrag von Elvira Lang gezeigt wird, können diese einfachen Handlungen sogar verhindern helfen, dass ein Patient in einer Notlage intubiert werden muss.

Das Ultimatum

Ein Mann wurde nach einem Motorradunfall auf einer Traumatrage in die Notaufnahme gebracht. Körper und Halswirbelsäule waren fixiert worden. Seine Augen waren weit aufgerissen und voller Angst. Er trug eine Sauerstoffmaske, und sein Atem ging sehr schnell. Der Betreuer in der Notaufnahme machte sich große Sorgen, der Patient könne das Bewusstsein verlieren, wenn er weiter so schnell und flach atmet. Er wies den Patienten einige Male ohne Erfolg an, langsamer zu atmen. Verzweifelt warnte er den Patienten: »Wenn Sie weiter so atmen, bleibt uns nichts anderes übrig, als Sie zu intubieren.« Ob der Patient verstand, was das bedeutet, oder nicht – diese Warnung half ihm jedenfalls nicht dabei, sich zu beruhigen.

Da näherte sich eine unserer Krankenpflegerinnen dem Patienten, stellte sich ihm vor und begann, die rasche Atemweise des Patienten nachzuahmen. Sie passte sich für ein paar Atemzüge dem Rhythmus des Patienten an und verlangsamte ihren Atemrhythmus nach und nach auf ein normales Niveau. Der Patient folgte ihr dabei und atmete langsamer. Die Krankenpflegerin bemerkte dies und ermutigte ihn. Mit sanfter Stimme sagte sie: »Gut, hmmm«, atmete weiter normal und wiederholte vertrauensvoll: »So ist es gut, hmm.« Ihr spiegelndes Verhalten und ihre Anleitung (Leading) waren erfolgreich. Eine Intubation war nicht erforderlich.

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