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Beispiel 2: Von Befreiungstheologen – die gibt’s wirklich noch und wieder und die werden auch, sagt man, zusehends mehr an Zahl und Rang – ist Pierre Bourdieu soeben jüngst auch entdeckt und in Verwendung genommen worden. Und zwar um eine Befreiungstheologie für Europa aufzubauen. Eine europäische Befreiungstheologie! Ein, vor Jahrzehnten zuerst und zuvorderst von Arbeiter- und Armenpriestern ausgesprochenes, Grundprinzip jeglicher Befreiungstheologie lautet ja bekanntlich: Sehen, Urteilen, Handeln! Dieses Sehen, Urteilen, Handeln!, in gewissem Sinne das Gewissen, wird nun jetzt von den Befreiungstheologen mit Bourdieus Elend der Welt und mit den Feinen Unterschieden in Kombination gebracht, insbesondere mit dem Habitusbegriff. Denn der Habitus – das sind ja eben die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, also just Sehen, Urteilen und Handeln (und zugleich aber deren Beschränktheit, Unfreiheit; das Eingesperrtsein im Körper, im Gehirn, in der Lebenswelt). Ein Grundwerk der Befreiungstheologie in der Dritten Welt stammt bekanntlich von einem Österreicher. Von Adolf Holl. Jesus in schlechter Gesellschaft. Ein anderes Werk Holls, Die linke Hand Gottes. Biographie des Heiligen Geistes, gehört, habe ich mir sagen lassen, zu den Lieblingsbüchern des österreichischen Jungbischofs Glettler. Bruno Kreiskys Lieblingsbuch, nebstbei bemerkt, soll Holls Kinder- und Jugendbuch Wo Gott wohnt gewesen sein. Wie auch immer, der seiner sakralen Befugnisse enthobene Priester Holl hat vor 20 Jahren eine Mischung aus Burleske, Krimi, Liebes- und Religionsgeschichte verfasst, die sogar im Vatikan Freunde gefunden haben soll, nämlich Falls ich Papst werden sollte. Als der neue Papst Franziskus eingesetzt wurde, ging sogar das Gerücht, Hollywood wolle auf der Stelle Holls Papstbuch verfilmen. In besagtem amüsanten kleinen, kompakten Werk jedenfalls nimmt sich Papst Holl Pierre Bourdieu zum Berater. Der Feinen Unterschiede wegen. Sozusagen weil Religion Geschmackssache ist. Und auch, weil für Bourdieu Gott irgendwie die Gesellschaft ist.

Beispiel 3: Elisabeth List, die Energische, stets Streitbare, die Grazer feministische Philosophin, im ersten erlernten Beruf Volksschullehrerin, seit langem nun mit schwerer Krankheit zu kämpfen habend und den Rollstuhl oft als Freiheit erlebend, als Befreiung vom Krankenlager nämlich, betrachtete Anfang dieses unseres 3. Jahrtausends da hier Bourdieus Einmischungsbuch in die Feminismen dieser Welt -– Die männliche Herrschaft – mit beträchtlicher Mentalreservation. Das sei so alles nichts Neues unter der Sonne. Und stimmen tue es so auch nicht wirklich. Das gelte sowohl für Bourdieus Verständnisse von Liebe als auch für seine Resümees der Frauenbewegung. Alles nichts Neues von Bourdieu. Und auch nicht wirklich hilfreich. Die Frauenleben in Bourdieus Elend der Welt freilich interessierten List sehr wohl und weit mehr, also die junge Polizistin dort zum Beispiel oder die kleine Geschäftsfrau im rabiaten Problemviertel oder die entlassene Sekretärin oder die müde Postangestellte oder die pensionierte Sozialarbeiterin im Altersheim, verzweifelte, oder die Psychologievokabeln studierende, sich davon endlich Hilfe erhoffende Schullehrerin oder die junge Migrantin und ihre Mutter oder die abservierte Frauenhausleiterin oder die Putzfrau mit Schulden und schwer krankem Mann – und so weiter und so fort. Die Lebenskonstellationen, Bewältigungsversuche dieser Frauen solle man doch aus Bourdieus Elend der Welt gleichsam herauslösen und mithineinpublizieren in Bourdieus Die männliche Herrschaft, meinte List dazumal. Letztgenannte Schrift gewänne dadurch beträchtlich an Nutzen und Verständlichkeit. Wäre nicht mehr so umständlich. Und wäre auch realpolitisch weit relevanter. Und einmal dazumal meinte List, dass man vielleicht wirklich, um die Gegenwart und das, was bevorstehe, zu verstehen, Bourdieus Herrschaftsanalysen insgesamt gedanklich flugs den Masken der Niedertracht assoziieren sollte, also dem weltweiten Bestund inzwischen Longseller der französischen Viktimologin Hirigoyen. Diese vertritt ja die Überzeugung, dass gegenwärtig die Politik, die Unternehmen, die Betriebe, die Familien, die Mafia und unsere Gesellschaft als ganze zunehmend ident funktionieren. Nämlich derart, dass sie Menschen in ihrem Alltag dazu bringen, zu belügen, zu quälen, zu demütigen. Die narzisstisch Perversen, die malignen Narzisse, die im jeweiligen großen oder kleinen System Machthabenden eben, lösen eine Katastrophe aus, die sie dann, sich selber als Retter aufspielend, den erschöpften Opfern anlasten. Und während eben die Peiniger sich selber als Retter aus der Not geltend machen, müssen die Opfer den Peinigern allein schon dafür dankbar sein, dass diese die Tortur endlich beenden. Oder wenigstens zwischendurch unterbrechen. Die Widerstandsfähigkeit eines Menschen ist nun einmal nicht unbegrenzt, sondern erschöpft sich. Und der maligne Narziss andererseits, der perverse Aggressor, der jeweilige große und kleine Machthaber, gibt seinen permanenten Kampf nur dann auf, wenn das Opfer ihm zeigt, dass es sich von nun an nichts mehr gefallen lassen wird. Das sei das Einzige, was hilft – öffentlich und wahrheitsgemäß und so schnell wie möglich zu sagen, was gerade geschieht; was angetan wird. Den Blick, die Gesten und die Wörter des Peinigers, die das Opfer verinnerlicht hat, muss das Opfer so schnell wie möglich wieder losbekommen. Das sei die erste und wichtigste aller Revolten. – Bei Bourdieu nun findet sich tatsächlich genau dasselbe als Grundwahrheit festgeschrieben, nämlich dass man sich selber ja nie mit den Augen der Herrschenden sehen dürfe. Ja nicht sich selber mit den Augen der Herrschenden sehen! Und ja nicht über dasselbe reden wie die Herrschenden und ja nicht auf dieselbe Weise reden wie diese! Sondern immer gerade das reden, worüber nicht geredet wird; das sagen, was gerade nicht gesagt wird.

Was List bei ihren für sie existenziellen Arbeiten über das Selbstverständliche und über das Lebendige immer interessiert hat, in Besonderheit an Bourdieu, ist der Habitus-Begriff. Dass Habitus so viel bedeutet wie die Hirngrenzen eines jeweiligen Menschen, aus denen er nicht herauskann; seine Denk-, Wahrnehmungs-, Empfindungs-, Gefühls-, Werte- und Handlungsschemata, in denen er eingesperrt ist. Worden ist. Was List einmal, im Jahr 2000 war das, zirka halb spaßig, halb ernstlich gleichsam in Auftrag gegeben hat, ist eine Art handliches kleines Habitus-Wörterbuch à la Fremdsprachen-Langenscheidt; eine jederzeit greifbare verlässliche Übersetzungshilfe, ein Bestimmungsbuch, Menschenbestimmungsbuch. In dieser Handreichung, Verständigungshilfe von Mensch zu Mensch, von Menschengruppe zu Menschengruppe solle gleichsam drinnen stehen, was ein Mensch denkt, empfindet und so weiter und aber eben auch das, was er nun einmal nicht kann, und aber eben auch das, was er sich wünschen würde. Das einem Menschen Zumutbare also und das ihn Überfordernde sollen drinnen stehen. Mit diesem Menschenbestimmungsbuch könnte man ansonsten Schicksalhaftes wirkungslos und unschädlich machen. Die sozialen Bestimmungen eben mit all den Folgen, Situationen, Abläufen, Zwängen, Gewalttätigkeiten, erlernter Hilflosigkeit. Besagtes Habituswörterbuch solle aber ja elementar und klein gearbeitet sein, sozusagen für kleine Leute, und z. B. sowohl für Zugewanderte als auch Hiergeborene. Und eben ja ganz konkret gegen die konkreten Missverständnisse, Probleme und Konflikte zwischen den verschiedenen Schichten, Milieus, Klassen gut soll es sein, das Wörterbuch. Interkulturell wie gesagt sowieso. Aber eben innerhalb der eigenen Kultur solle es auch interkulturell sein, weil ja z. B. jede Schicht, jedes Milieu eine eigene Kultur hat und ist. Die feinen Unterschiede und Das Elend der Welt hat List somit in eine Art kleine Fibel für den Elementarunterricht und als Art österreichisches Wörterbuch, Schulwörterbuch, für den alltäglichen zwischenmenschlichen Gebrauch gezielt umzubauen vorgeschlagen. Anfang unseres Jahrtausends wie gesagt hatte sie das im Sinn. Als Handreichung eben gegen zwischenmenschlichen Schmerz und Stress. Ein Wörterbuch der gegenseitigen Hirngrenzen wie gesagt. Was List da an Bourdieu dazumal wirklich interessierte, an den Feinen Unterschieden genauso wie am Elend der Welt, ist eben das Selbstverständliche, Lebendige, Existenzielle, Lebensweltliche, Übersetzbare. Die Grundforderung des Norbert Elias ist das bekanntlich, nämlich: Wir haben nur eine Aufgabe: Mit Menschen freundlich zu leben. Das Wichtigste, meinte List, sei jetzt eben die Psychologie, Sozialpsychologie, die Psychologie der Solidarität. Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen, jede nach ihren Fähigkeiten, jeder nach ihren Bedürfnissen. Jede Sozialbewegung, die das nicht vermag, gehe und sei verloren. So einfach sei das: Entweder gemeinsam oder kaputt. Unter Garantie habe Bourdieu das auch so gesehen, sonst wäre er ja blöd gewesen.

Das von List in Auftrag gegebene österreichische Hirngrenzenwörterbuch für den Schul- und Alltagsgebrauch ist meines Wahrnehmens bislang nicht realisiert worden, ebenso wenig Schwendters AlternativdenkerInnenlehrbuch für jedweden österreichischen Schultyp. Auch nicht Zilians Studie über den kaputten österreichischen Fußball. Einzig das österreichische Sozialstaatsvolksbegehren wurde realisiert. Jedoch ignorierten die schwarzblaue Regierung und de facto auch die rote Parlamentsopposition repräsentativdemokratisch die mehr als 717.000 Unterschriften aus dem Jahr 2002. Seither hat zuvorderst Werner Vogt, eine Zeitlang auch Wiener Pflegeombudsmann, erster überhaupt in Österreich, sich beharrlich bemüht, dass das Sozialstaatsvolksbegehren schnellstens wiederholt wird. Stephan Schulmeister hat es genauso versucht, gar europaweit, insbesondere unmittelbar in der Weltwirtschaftskrise. Doch wollen, scheint’s, z. B. die Gewerkschaften gar nicht, dass der Sozialstaat in die Verfassung kommt. Weder in die österreichische noch in die europäische. Als ob die Roten allerorten andere Sorgen hätten als den Sozialstaat. Die Grünen und die APO detto. Wie auch immer, das kommunikationsfreudige Sozialstaatsvolksbegehren da hier war jedenfalls seit inzwischen groteskerweise fast Jahrzehnten stets auch als rechtzeitiger, gemeinsamer, präventiver Lern- und Sammelprozess gedacht. Gerade auch, damit die Wahlkämpfe endlich anders geführt werden. Nämlich endlich aufs wirklich Lebenswichtige sich zentrierend. Des Juristen Oliver Scheiber jüngster Letzter Aufruf an die Sozialdemokratie hat offensichtlich sehr Ähnliches bis dasselbe im Sinne – und erging daher nicht alleine nur an die SPÖ und Wien. Aus Vogts Berufsbericht, Arztroman, der zugleich eine Sozial-, APO- und Elitengeschichte der Zweiten Republik ist und eine Historiographie des Sozialstaates da hier, könnte hier und jetzt jedenfalls gelernt werden, was alles hier und jetzt trotz der allgegenwärtigen Ohnmachtsgefühle sehr wohl real möglich ist, nämlich reales Unglück in reales Glück zu drehen. Ins Leben eben, wie bei einer Geburt, wenn die Lage zuerst falsch ist.

Mit den meisten, sehr verehrte Damen und Herren, der in meinem Referat bislang Genannten habe ich einmal in irgendeiner Form zusammengearbeitet oder Gespräche geführt, welche bereits publiziert sind oder es noch werden. Auswege lautet der Reihetitel. Mein Teil bei diesen vertratschten, aber sehr wohl existenziellen Gesprächen war in heuristischer Absicht bisweilen gleichsam die eines Agent provocateur, nämlich, soweit meiner Wenigkeit möglich, Bourdieusches samt Raisons d’agir bald en passant, bald konfrontativ, immer jedoch in Sympathie miteinzubringen. Die findigen Reaktionen darauf seitens der von mir Genannten habe ich in meinem Referat heute hier bislang wiedergegeben. Fritz Orter z. B. fehlt freilich noch, Kriegsberichterstatter in 14 Kriegen. In diesen hat er die Mörder, Schänder und Quäler immer und immer wieder dasselbe sagen hören, in etwa nämlich: Wer zu uns gehört, braucht keine Angst zu haben! Den bringen wir nicht um. Wir bringen nur die um, die uns umbringen. Wir machen mit ihnen nur, was sie mit uns machen. Denen ist egal, wenn wir verrecken, deswegen ist es uns egal, dass die verrecken. Mit Verlaub, wenn das nicht der Zweckmechanismus der Distinktion ist, den Bourdieu sozioanalytisch immer beschrieben hat, nämlich der Entscheidungskampf letztlich auf Leben und Tod, die möglichst endgültige Unterwerfung, Vernichtung, Auslöschung des Feindes, was dann ist Distinktion? Was denn dann, sehr verehrte Damen und Herren, mit Verlaub als das? Bourdieu hat bekanntlich mit großer Wucht eine andere Art von politischem Fernsehjournalismus gefordert, der so beschaffen ist, dass er die Fernsehzuschauer nicht apathisch macht, sondern empathisch und handlungsfähig. Fritz Orter hätte tatsächlich just solche Journalistinnen, Journalisten im Sinne, nämlich die rechtzeitig und konsequent recherchieren und berichten, was getan werden kann. Und ein fixes Friedensformat im ORF, ein Friedensprogramm. Und in der Schule da hier ein Fach, das Helfen heißt. Für all das also könnte Bourdieu in Österreich gut sein: Vom Sozialstaat endlich in der Verfassung bis zu den Erfreulichkeiten des Fußballs; vom Helfen als Unterrichtsfach und von endlich einmal wirklich alternativen Schulbüchern bis zum öffentlich rechtlichen Friedensfernsehen; von Christen fernab von Lug und Gewalt bis zur Sozialdemokratie als Sozialstaatspartei, die endlich einen Sozialstaatswahlkampf führt. Ich habe Ihnen, sehr verehrte Damen und Herren, von all dem erzählt, damit weder Sie noch ich eine Ausrede haben. (Ah ja: Sowie Hitler Kanzler war, wurde er von einem hellwachen französischen Journalisten zu Mein Kampf befragt, zu den darin angekündigten Kriegen. Hitler antwortete: Ich habe mich geändert. Er habe das alles in Verzweiflung und Wut von sich gegeben, mitten in den furchtbaren Folgen des schrecklichen Weltkrieges. Jetzt aber eben sei vieles anders und er eben auch. Krieg sei sowieso nie eine Lösung, sondern alle Probleme würden nur noch entsetzlicher. Ich habe mich geändert, hat man bekanntlich aus österreichischem FPÖler-Mund in den letzten Jahren oft gehört da hier. Geglaubt auch sichtlich zunehmend, bis Ibiza und weiter. Bourdieus Elend der Welt, in dem steht, ein quälendes Grundgefühl der Menschen sei die Austauschbarkeit, wird seit bald 30 Jahren beständig als Gegenmittel gegen die Neue Rechte allerorten in Verwendung genommen. Z. B. wegen des berühmten Bourdieu-Grundsatzes Nicht bemitleiden, nicht auslachen, nicht verabscheuen, sondern verstehen! Worauf man aber hier bei uns da bei all dem Reden seit jeher davon, dass man endlich miteinander reden müsse, um all die realen Probleme all der rechtswählenden Menschen zu verstehen, oft vergisst, ist, 1. dass z. B. der junge Rechtsextreme im Elend der Welt jemand ist, dem man nicht wirklich glauben kann, was er redet; das steht dort so über ihn; 2. hat der Sozialpsychologe Klaus Ottomeyer das FPÖ-Seelenleben vor fast Jahrzehnten bereits, damals angesichts Haiders samt Buberlpartie, gewiss treffender kenntlich gemacht als wahrscheinlich je irgendwer sonst öffentlich in Europa. So weit wie beispielsweise Ottomeyer ist Bourdieu niemals gekommen in Österreich. Doch! Doch! Ist er! Nämlich durch eine von Flecker & Kirschenhofer bewerkstelligte, sehr wohl bahnbrechende Arbeitsweltstudie, Rechtswählerstudie vor über 10 Jahren. Flugschriftartig ergangen ans politische Establishment. Selbstverständlich war die vergeblich. Aber jetzt gibt es ja zum Glück beispielsweise Sie, sehr verehrte Damen und Herren! Danke!)

Bourdieu für ÖsterreicherInnen und den Rest der Welt, Tagung: Klasse, Milieu, Soziale Reproduktion: Was bleibt von Pierre Bourdieu?, AK Wien

Intervention 13. Februar 2019

Sehr verehrte Damen und Herren, Sie werden in den kommenden Minuten angesichts meiner Wortmeldungen vielleicht ziemlich rasant zur Ansicht gelangen, Sie seien in der falschen Veranstaltung oder aber ich – einen schönen guten Abend! – sei da hier eben völlig fehl am Platze: Wischiwaschi, Larifari, ausweglos und Blablabla. Nichtsdestotrotz kennen die meisten von Ihnen wahrscheinlich die Geschichte, dass der Erfinder des Schachspieles als finanzielle Gegenleistung für seine Idee vom Herrscher lediglich ein Reiskorn auf das erste Feld, 2 auf das 2. Feld, 4 auf das 3., 8 auf das 4., 16 auf das 5. und so weiter bis zum 64. Feld sich erbat. Die Obrigkeit stimmt dem Erfinder freudig zu und verspricht ihm verbindlich die geforderte läppische Summe. Alleine auf dem 64. Feld liegen dann jedoch an Gewicht an die 500 Milliarden Tonnen Reis und auf allen 64 Feldern zusammen die Welternte von etlichen Jahrhunderten und das sind in Summe so viele Reiskörner, dass diese eine 1 Kilometer breite Straße von der Erde bis zur Sonne ergeben. Rechnerisch ist das Ganze angeblich etwas relativ Simples und durch und durch rational und normal. Zugleich wohl allerdings mutet es total irrational an und in den Konsequenzen unheimlich. Man kann das Ganze natürlich auch ganz anders sehen und empfinden, nämlich so, wie es zumeist erzählt wird: als Beispiel für Geschäftstüchtigkeit.

Von der Erfindung des Schachspieles existiert seit alters her auch ein total konträr beschaffener Bericht: Eine Mutter will da wissen, wieso ihr Kind zugrunde gegangen ist. Verzweifelt stellt sie die Verantwortlichen zur Rede. Von denen werden daraufhin die Gegebenheiten, Begebenheiten, Abläufe, der Konflikt, das Schlachten, die herrschende Ordnung nachgestellt und in aller Kenntlichkeit vor Augen geführt. Auf die Klage dieser Mutter hin. Vor ein paar Jahren hat übrigens ein bekannter österreichischer Kabarettist aufs Schach zurückgegriffen, als er das erschütternde Ableben seiner Frau an die Öffentlichkeit brachte. Gewissermaßen stellte er in einer Art Kampfschrift nach, wie seine Frau inmitten des, wie man ja gemeinhin hört, erstklassigen österreichischen Gesundheitswesens qualvoll und entstellt und – kann sein – unnötig zu Tode gekommen ist. Auf Schachzüge rekurrierend versuchte er einerseits, die eigene Fassung wiederzugewinnen, und andererseits, den seiner Meinung nach Verantwortlichen das Handwerk zu legen, damit anderen Menschen nicht zwangsläufig dasselbe widerfährt wie seiner Frau.

Um den Sinn und Zweck des Schachspiels zentrieren sich selbstverständlich Lebensgeschichten sonder Zahl und auch soll der Lohn dazumal eventuell eher in Weizenkörnern bestanden haben statt in Reis und auch soll der ungerechte Machthaber den damaligen Erfinder letztlich doch um den Lohn betrogen haben. Der Betrogene selber soll das Regelwerk des Schachspiels freilich erfunden haben, um just dem rasenden Herrscher Humanität, Seelengröße und Sinn für Gerechtigkeit beizubringen. Und zwar vor allem, dass die Regierenden von den Regierten völlig abhängen, die Regierenden die Regierten brauchen, die Regierenden ohne die Regierten hilflos, machtlos und verloren wären und dass die Regierenden sich deshalb den Regierten gegenüber gefälligst anständig statt wahnsinnig zu benehmen haben. So also eigentlich soll der Erfinder des Schachs sich die Sache gedacht haben. Ging alles daneben. Ging alles schief.

Zur Geschichte des Schachspiels gehört andererseits auch das energischste aller Aufklärungsstücke, nämlich Lessings Nathan. In einer Szene spielt da ein Mann, der Regent, mit einer Frau Schach und verliert chancenlos, ruft seinen Finanzminister, damit der das Geld ihr sofort ausbezahlen soll. Der erwidert, die Partie sei ja gar nicht verloren und der Regent solle doch weiterspielen. Tut der Regent aber nicht, sondern sagt, er wisse nicht, wie weiter, und die Frau habe gewonnen und auf der Stelle ihr Geld zu bekommen. Nach keiner der eben genannten Personen ist Lessings Stück benannt. Lessing hat den Nathan bekanntlich seinem Freund Mendelssohn nachgebildet. Beide, Lessing wie Mendelssohn, waren exzellente Schachspieler. Und dem Finanzminister in besagtem Stück entspricht ebenfalls eine reale Figur, eine Absturzexistenz, ein unglücklicher Berufsspieler, den Mendelssohn und Mendelssohns Frau und Kinder bei sich aufgenommen haben und der ohne sie alle verloren gewesen wäre. Mendelssohns Motto des eigenen Lebens lautete: Verschonet euch untereinander! Das Gegengift war das, meinte er, zu dem, was zurzeit, damals eben, sich permanent zuspitzend politisch, ökonomisch, kulturell, sozial und psychologisch gang und gäbe war. Verschonet euch untereinander! ist kein Kitsch nicht, sondern Mendelssohn wusste bloß, wovon er redete, konnte sich tatsächlich oft überhaupt nicht rühren, sowohl körperlich als auch seelisch, war da völlig hilflos und abhängig. Konnte nur abwarten. Verschonet euch untereinander! wäre in Mendelssohns Augen die Lösung gewesen für alles. Auf Mendelssohns Verschonet euch untereinander! werde ich Sie, verehrte Damen und Herren, heute Abend noch des Öfteren hinzuweisen mir gestatten. Und auch, es Ihnen untereinander anzuraten. Als Ausweg eben für alles.

Ebenfalls in die Geschichte des Schachspiels gehört Bertolt Brechts Stück Leben des Galilei. Brechts Galilei legt da den Leuten nämlich nicht alleine Denkfreiheit nahe, was die Natur und die Kirche betrifft, sondern nebenbei eine neue Art des Schachs, neue Spielregeln über alle Felder hinweg. Heraus aus Einschüchterung und Enge. Das Schach war im Mittelalter zugleich sowohl ein Hasard als auch natürlich das Sinnbild der ständisch streng hierarchisierten Gesellschaft gewesen. Und tatsächlich wurden Jahrhunderte später zu Lebzeiten Galileis die Regeln geändert und auch die Werthaftigkeit der Figuren im Spiel. Natürlich blieben die Untersten die Wertlosesten und Eingesperrtesten. Aber für die anderen Figuren fing das Spiel an, sich sozusagen wirklich zu rentieren. Ähnlich wie heute, wo der Springer bekanntlich 3 Bauern wert ist, der Läufer eher 4 Bauern, der Turm 5, die Königin 9. Und je näher der Brettmitte das jeweilige Feld positioniert ist, umso wertvoller ist es. Wer die Mitte beherrscht, beherrscht das Spiel. Diese ganze Unterwerfungsscheiße! Von Heinrich Böll ist das. – Der Begriff Unterwerfungsscheiße! ist von Böll. Böll spielte jeden Morgen Schach und angeblich findet man das Schach in der Formgestaltung und im Geschehensablauf vieler Böll-Werke wieder. In der Verlorenen Ehre der Katharina Blum genauso wie im Gruppenbild mit Dame oder in Frauen vor Flusslandschaft. – Ich weiß, was ich tue, aber ich weiß nicht, was ich anrichte. Ich weiß, was ich tue, aber ich weiß nicht, was ich anrichte! Bei Böll sagt das ein Politiker von sich und von der gegenwärtigen Politik überhaupt. Die Bundesrepublik Deutschland seiner letzten Lebenszeit hat Böll so auf den Punkt gebracht. Als, so hat Böll gesagt, geistig-politisches Gesamtphänomen. Und selbiges eben hat Böll mit dem Wort Unterwerfungsscheiße kenntlich gemacht. Und er hat gesagt, die Leute glauben, es gehe in der Politik letztlich doch vernunftgeleitet zu wie eben beim Schachspielen. Aber in Wirklichkeit sei, sagte Böll, alles Chaos. Wie im Krieg. In seinen Kriegstagebüchern hatte der junge Soldat Böll übrigens Folgendes notiert, alles mit Ausrufezeichen: Durst! Wasser! Flieger! Panzer! Jammer! Blut! Feuer! Jammer! Not, Dreck, Elend! Des Weiteren hatte er dort anderentags festgehalten: Gott lebt und Gott wird mir helfen. Wie Sie wissen, sehr verehrte Damen und Herren, war Böll ja wirklich Christ und die wirkliche Lösung für alles war für Böll wirklich Jesus. Gewissenhaft das Schicksal durchbrechen, dazwischengehen, wenn Menschen zerstört werden: Darum ist es Böll immer gegangen. In der Wirklichkeit.

Zurück zu Brechts Galilei. Dort findet sich folgende berühmte Passage: Meine Absicht ist nicht, zu beweisen, dass ich bisher recht gehabt habe, sondern: herauszufinden, ob [...] Wir werden nicht in Siebenmeilenstiefeln vorwärtsgehen, sondern im Schneckentempo. Und was wir zu finden wünschen, das werden wir, gefunden, mit besonderem Misstrauen ansehen. Also werden wir an die Beobachtung der Sonne herangehen mit dem unerbittlichen Entschluss, den Stillstand der Erde nachzuweisen! Und erst wenn wir gescheitert sind, vollständig [...], werden wir zu fragen anfangen, ob wir nicht doch recht gehabt haben und die Erde sich dreht! Was Brecht seinen Galilei da sagen lässt, ist Popper vom Besten, Popper pur, purer Karl Popper: das Falsifizieren, die Stückwerktechnik, die Fehlerkultur, in der Folge die offene Gesellschaft dann und die demokratischen Wahlen als revolutionäre Vorgänge. Falls Popper im Himmel der heutigen Veranstaltung da hier herunten jetzt gerade eben lauscht, zufällig, wird er wutentbrannt rotieren und, ist zu fürchten, augenblicklich aus allen Engelswolken fallen von oben herab mitten herein in diese Veranstaltung da hier jetzt. Es wäre also meinerseits zugegebenermaßen eine gewisse Vorsicht geboten – der rote Propagandist Brecht soll dasselbe wie Popper proklamiert haben und auch noch zeitgleich mit Popper oder vielleicht gar vor Popper!? Ja, hat er, der Brecht. Es ist so. Aber gehalten, gehalten hat Brecht sich nicht daran. Popper selber hat sich aber auch nicht daran gehalten. Auch das ist so. An sich selber nicht. Und seine Nachfolger haben sich auch nicht daran gehalten. Denn sonst wären, zumal die Popperianer stets einen privilegierten Zugang zur Macht, zur Öffentlichkeit und zum Bildungssystem hatten, Österreich, die EU und die westliche Welt insgesamt nicht in einem derartigen Schlamassel wie jetzt. Mir (was natürlich wirklich nichts heißen will) ist kein einziger Popperianer bekannt, der sich öffentlich oder gar beizeiten gegen den Neoliberalismus gewandt hat. Kein einziger. Den Popperianer George Soros, den Philanthropen, Mäzen, Barack-Obama-Unterstützer, Wohltäter, werden Sie, sehr verehrte Damen und Herren, mir wahrscheinlich sofort entgegenhalten. Den Hedgefondsgiganten. Und Sie werden schon recht haben damit. Jedoch, wie Sie wissen, war Soros, sich öffentlich zu Worte meldend, stets, stets!, strikt gegen jegliche Form der Börsentransaktionssteuer, Tobinsteuer, Börsenspekulationssteuer; genauso strikt war Soros stets gegen jegliche Versuche, stets gegen jegliche Versuche!, die Hedgefonds, die verheerenden Hedgefonds zu kontrollieren, zu reglementieren, in Schach zu halten. Inmitten der Wirtschaftskrise dann soll Soros die Sache gezwungenermaßen ein klein wenig anders gesehen haben.

Poppers Kritischer Rationalismus, insbesondere die Fehlerkultur, gehört wie gesagt gewiss zum Interessantesten, Wichtigsten, Sympathischsten und Besten, aber das Problem war und ist, dass sich die Popperianer selber nicht an die eigenen Vorschriften halten. In der Wirklichkeit. Der wahrscheinlich wichtigste Förderer Karl Poppers war übrigens Friedrich Hayek. Übrigens auch hat man sich sehr bemüht, Popper zu einem Nobelpreis zu verhelfen. Ich weiß nicht, ob für Literatur auch oder nur für Ökonomie. Für Ökonomie war man sehr zuversichtlich. Wie auch immer – Karl Popper las keine Tageszeitung, hörte kein Radio und sah nicht fern. Und die Probleme der Schulen und des Bildungssystems schrieb er einzig dem seines Erachtens unfähigen Personal dort zu, niemals den unterversorgenden Strukturen oder der gesetzgebenden und Budget erstellenden Politik. Und die Grünen hat Popper überhaupt nicht geschätzt. Und wenn Menschen von Entfremdung redeten, hielt er das für Quatsch. Den Keynesianismus und den Sozialstaat sowieso. Das können Sie, sehr verehrte Damen und Herren, alles bei Popper selber nachlesen. All seine abfälligen Äußerungen.

Durch das Reden, sehr verehrte Damen und Herren, ersparen wir uns das Sterben. Wir lassen da nämlich unsere falschen Sätze, unsere falschen Ideen, an unser statt untergehen. Sind wie Affen, die von Baum zu Baum springen; ist der Satz, den der Affe tut, falsch, dann ist der Affe auf der Stelle tot oder bald. Für Karl Popper ist das die Funktion der Sprache. Reden erspart Leid. Könnte. Diese Ansicht teile ich. Aber das war es dann auch schon. Und dennoch wie gesagt gehört das, was Popper gesagt hat, zum Interessantesten, Besten und Wichtigsten. Aber es hat sich eben niemand daran gehalten, er selber ja eben auch nicht. In der Wirklichkeit. Ich bin sehr froh und den beherzten und lebensklugen Organisatoren wirklich dankbar, dass es die heutige Veranstaltung gibt. Aber der neoliberale Hayek, der wichtigste und lebenslange Freund und Förderer Poppers, würde, habe ich mir sagen lassen, das, was auf den Einladungskarten steht, Ihren, sehr verehrte Damen und Herren, und meiner auch, sowieso für blödsinnig erklären. Für völlig irrelevant. Ich sag’s hiermit klar und deutlich: Die Liberalen sind entweder nicht willens oder nicht imstande, die Neoliberalen in den Griff zu bekommen. Die Liberalen sind entweder nicht willens oder nicht imstande, die Neoliberalen in den Griff zu bekommen! Die Wortfolge Offene Gesellschaft allerdings hört man mindestens einmal am Tag, ich kürzlich aus dem Mund des Verkehrsministers. Und wenn man, hat mir ein Freund erzählt, im Internet nach der offenen Gesellschaft sucht, erscheint zuerst die österreichische Wirtschaftskammer. Die offene Gesellschaft, heißt’s dort, ist eine Form der sogenannten Personengesellschaft. Sei dem, wie es sei: Selbstverständlich gibt es wahrhaftige Popperianer. Ralf Dahrendorf zum Beispiel war so einer. Der EU-Kommissar Dahrendorf. Maßgebender Repräsentant der Liberalen Internationale war er auch. Als Haider erwirken wollte, dass die FPÖ dort als Mitglied wieder aufgenommen wird, hat Dahrendorf das in aller Öffentlichkeit mit folgender Begründung abgelehnt: Ich habe eine Abneigung gegen schlechte Gesellschaft. Dahrendorf war bekanntlich namhafter Sozialwissenschaftler und außerdem ein wirklicher Kenner des Humanisten Erasmus von Rotterdam. Das ist der, von dem die meisten Leute eigentlich nicht wirklich wissen, wer das war, aber sich glücklicherweise in irgendeinem Förderprogramm oder -projekt befinden, das seinen Namen trägt. Ein wichtiges Lebensmotto des Erasmus hat gelautet, dass es immer einen Ausweg gibt. Der Popperianer Dahrendorf nun hat sich mit Poppers Konzepten immanent und intern auseinandergesetzt und als wichtigen, paradox anmutenden Kritikpunkt die Ansicht vertreten, es könne passieren, dass dieser Gesellschaft da, der offenen Gesellschaft, die Ideen ausgehen und sie nicht mehr aus und ein weiß. Keine Auswege mehr sieht. Was dann? – Also sozusagen: was jetzt?

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9783990471173
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