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Geschätzte Damen und Herren, ich weiß wie gesagt sehr wohl, was auf Ihren Einladungskarten und heute hier auf dem Programm steht und wozu ich als Referent angehalten bin. Ich arbeite es, bilde ich mir ein, hiermit stückwerktechnisch ab (nämlich was wir tun können, wir, wir, wir, tun, tun, tun, können, können, können) und bitte Sie aber zu diesem Zwecke noch für ein paar Minuten um Ihr Vertrauen oder Ähnliches.

Woran der realexistierende Sozialismus gescheitert ist und warum im Gegenteil der Westen und dessen freie Marktwirtschaft samt offener Gesellschaft obsiegt hat, ist, heißt’s, hinlänglich bekannt. Und das geht eben bekanntlich von der sozialistischen Miss- und Planwirtschaft samt den explodierenden Militär- und Diktaturkosten bis zum Good Guy Ronald Reagan und zum seligen Johannes Paul II. Worüber merkwürdigerweise in diesen Zusammenhängen öffentlich eigentlich nie geredet wird, im Westen, ist Tschernobyl, die dazumal schlimmste Industriekatastrophe der Geschichte. Ende April 1986. Also bereits unter Gorbatschow. Über eine Million Arbeitskräfte, sogenannte Liquidatoren, wurden als chancenlose Himmelfahrtskommandos in die verstrahlteste Zone geschickt. Die materiellen und finanziellen Folgekosten der Tschernobyl-Katastrophe und die völlige Schutzlosigkeit der Bevölkerung damals und das ständige Leib und Leben bedrohende Belogenwerden haben damals das Vertrauen in die Regierung und in das politische System massiv zerstört. Die Menschen haben damals bereits in Massen protestiert, die Teilrepubliken wollten ihre Unabhängigkeiten und Geld war selbstverständlich auch keines da. (Den Rest sozusagen hat dann der Westen erledigt. Unser aller offene Gesellschaft. <Geschlossen die Klammer.>) So kann man die Sache also auch sehen. Belegt und nahegelegt ist besagte Sichtweise im Handbuch des Kommunismus. Selbiges ist keine rote Propagandaschrift, sondern ganz im Gegenteil just so beschaffen wie das Schwarzbuch des Kommunismus. Apropos Kommunismus: Ein Opfer der russischen Revolution war eine gewisse Ayn Rand. Als sie ein Kind war, hat ihre Familie durch die Kommunisten alles verloren. Die neue Heimat waren dann notgedrungen die USA. Ayn Rand hat dort etliche wirkmächtige Bücher geschrieben mit einer Gesamtauflagenhöhe von zig Millionen Exemplaren. Zwischendurch hieß es sogar, insbesondere ihre verfilmten Romane werden in der offenen Gesellschaft der USA sowohl in Quantität als auch in Qualität einzig durch die Bibel übertroffen. Einer von Rands innigsten Freunden war Alan Greenspan, der zeit ihres Lebens nie ein Hehl daraus gemacht hat, von Ayn Rand maßgeblich beeinflusst zu sein und mit ihr liebend gern zu kooperieren. Greenspan war für 5 Amtsperioden = 20 Jahre lang der Präsident der US-Notenbank FED – und namhafte Kritiker des Neoliberalismus wie etwa Paul Krugman haben Greenspan als einen der Hauptverantwortlichsten der Weltwirtschaftskrise der Jahre 2007 folgende benannt. Sozusagen als den über Jahrzehnte hinweg Tätigsten aller Zeitbombenleger. Frau Ayn Rand jedenfalls hasste alles, was auch nur das Geringste mit Roosevelts New Deal gemeinsam hatte, und ihre Lehre war die des Übermenschen, der Hochintelligenz und des Ja-Nicht-Helfens. Allerdings soll die Rand, als sie krank war, paradoxerweise staatliche Hilfe in Anspruch genommen haben, finanzielle und auch medizinische. Unter anderem Namen. Gefälschtem. Auf neoliberal Österreichisch gesagt war das also Sozialbetrug, und zwar Missbrauch der Mindestsicherung und Benutzung einer fremden e-card.

Was ich bis jetzt, sehr verehrte Damen und Herren, radebrechend aufgeführt und versuchsweise in Anwendung gebracht habe, gehört explizit zum Methodenrepertoire Pierre Bourdieus, des anno 2002, im Jahr des österreichischen Sozialstaatsvolksbegehrens, verstorbenen, aber weltweit nach wie vor meistzitierten Menschen- und Wirklichkeitswissenschaftlers. Nämlich: Spaß- und Spielverderber sein; vor Augen führen, dass die Spiele der Gesellschaft solche auf Gedeih und Verderben sind; immer gerade über das reden, worüber nicht geredet wird oder nicht geredet werden soll; sich weder ein- noch aussperren lassen; sich nicht dem Zeitdruck der Wegwerfgesellschaft fügen, die aus dem Denken Wegwerfdenken macht und aus dem Reden Wegwerfreden und aus dem Leben Wegwerfleben; wo und wann nur irgend möglich, das Konkurrenzprinzip außer Kraft setzen; wo und wann nur irgend möglich, das Konkurrenzprinzip außer Kraft setzen!; die Aufzwingungen, Einschüchterungen, Tricks und Schwindeleien, die die Mächtigen und Wichtigen aller Zeiten ausmachen, demaskieren; Gewalt und Betrug kenntlich machen und durchkreuzen.

Bourdieus Lebenswerk hat sehr viel und wesentlich zu schaffen mit den immer wieder neu aufbrechenden Massenprotestbewegungen in Frankreich von 1995 an bis jetzt. Zugleich nichtsdestoweniger mit verlässlichstem Wissenschaftsverständnis. Nämlich dem Max Webers. Worum es Weber als Wissenschaftler ging, war, Menschen die Freiheit der Wahl zu ermöglichen. Wissenschaft soll laut Webers Wissenschaftslehre mithelfen, Menschen bewusst zu machen, was Menschen eigentlich wollen und ob sie das auch wirklich wollen, was sie zu wollen meinen, und was die Konsequenzen ihrer Wertungen und Wollungen sind und was die Mittel sind, die Menschen zum Erreichen ihrer Ziele und zum Realisieren ihrer Werte einsetzen müssen, und wo es dabei zu ungewollten Widersprüchen und zu ungewollten Konsequenzen kommt und wie Alternativen aussehen und aussehen könnten. Webers autonomer Wissenschaftler treibt insofern Politik, als er die freie Wahl Menschen zu ermöglichen versucht. Das tut er, indem er wie gesagt klärt, was Menschen wollen, und indem er Widersprüche, Folgen und Alternativen klarmacht, und zwar gerade dann, wenn man solche Wahrheiten weder finden noch hören will. Das ist seine Pflicht, Arbeit, Autonomie und Deplatziertheit. Und Objektivität, Objektivität!, war für Weber zuvorderst die Verpflichtung, Bereitschaft, Fähigkeit und Fertigkeit, Menschen nicht zu entstellen. Menschen nicht und Sachverhalte nicht.

Für den linken Weberianer Pierre Bourdieu (gestorben wie gesagt 2002) gab es nichts Provokanteres als Wissenschaft, Autonomie und öffentliche Wahrheitsfindung. Immer geht es in Bourdieus Gesamtlebenswerk um Menschen in Zwangssituationen, unten, oben, mitten drinnen. Den Sozialstaat erachtete er als Erzeugnis der Evolution, sozusagen als das Beste, was es bisher unter Menschen gab. Entstanden durchaus aus Zufällen, Glücksfällen, die als solche erkannt, geschätzt, geschützt wurden und zugleich aber das Ergebnis unglaublicher, schrecklicher Kämpfe waren. Daher dürfe der Sozialstaat ja nicht von neuem dem Zufall preisgegeben werden. Ja nicht diesen furchtbaren Preis von neuem zahlen müssen. Kleine soziale Wunder, Kostbarkeiten – Bourdieu nannte die Menschengruppen, die jetzt für den Sozialstaat kämpfen, so, die Bewegungen, Hilfseinrichtungen, NGOs. Er meinte, gegenwärtig sei eine rechte Revolution nach der anderen im Gange – eine permanente neoliberale Revolution, durch die der Staat mittels des Staates außer Kraft gesetzt werde. Und die Linken und Alternativen seien aber immer zwei, drei, vier Revolutionen hintennach; können gar nicht so schnell begreifen, geschweige denn dazwischengehen, geschweige denn wirklich, rechtzeitig und gemeinsam. Sie seien auch nicht imstande, untereinander das Konkurrenzprinzip, das Jeder muss selber schauen, wo er bleibt! und das Jeder gegen Jeden!, wo nur irgend möglich, außer Kraft zu setzen. Insbesondere freilich auf die Ausübenden der helfenden Berufe hoffte Bourdieu dennoch; und zwar auf diejenigen Berufshelferinnen und Berufshelfer, die in Ausübung ihrer Berufspflicht von Rechts wegen sich durch nichts und niemanden von ihren Schutzbefohlenen trennen lassen und in der Folge Politikern und Wirtschaftsherren rechtzeitig, wirklich und gemeinsam Paroli bieten. Statt Paroli bieten hat er Gegenfeuer gesagt. Und statt helfende Berufe in etwa die linke Hand des Staates. Und wirklich, rechtzeitig und gemeinsam waren Bourdieus Lieblingsadverbien. Statt Sozialstaat sagte er auch mitfühlender Staat.

Die Präventions-, Demokratie-, Solidaritäts-, Friedensmethode des Konflikt-, Macht- und Dissenstheoretikers Bourdieu ist praktiziert in der Studie Das Elend der Welt. In besagtem Werk respektive durch es erzählen angeblich banale alltägliche Menschen wie – Pardon – Du und ich einander ihre angeblich mehr oder weniger unwichtigen Leben, Wegwerfleben und was sie fürchten, was sie sich wünschen, was ihnen wehe tut. Und zwar Menschen tun das vom Bauern bis zum Untersuchungsrichter, von der Polizistin bis zur Postangestellten, vom Weinhändler bis zum jungen baldigen Neonazi, vom Migrantenbuben und dessen Hausmeister bis zur kleinen Geschäftsfrau oder bis zum Sozialarbeiter oder bis zum Autoschlosser in der riesigen Fabrik oder bis zur Lehrerin oder bis zum Arbeitslosen oder zum Schuldirektor oder bis zum moslemischen Familienvater, der nicht aus und ein weiß, oder bis zur moslemischen Tochter, die auf und davon will, oder bis zum Versicherungsvertreter oder zum entsetzten Gewerkschafter oder bis zur Leiterin eines Frauenhauses und so weiter und so fort: Es erzählen also Menschen, die einander ansonsten unbekannt, gleichgültig oder gar widerwärtig sind, einander ihr Leben. Indem sie einander angeblich Banales erzählen, das in Wahrheit für sie lebenswichtig ist, entmachten sie Stück für Stück diejenigen Wirtschaftsherren und politischen Machthaber, von denen sie beruflich und alltäglich in ihre jeweiligen Lebenssituationen, Konflikte und Kämpfe gezwungen werden. In Bourdieus Augen ist das Berufsgeheimnis das größte Problem. Denn dadurch ändere sich nie etwas. Für die Ausübenden der helfenden Berufe zum Beispiel. Bourdieu wortwörtlich: Die Lähmung der Gesellschaft funktioniert über das Berufsgeheimnis. Für Bourdieu war Schicksal jedenfalls nur Gewalt und Willkür und der Sozialstaat gedacht als das Gegenteil davon. Dass man öffentlich eben ja über das reden solle, worüber üblicherweise nicht geredet wird, sagte er. & immer mehr, immer mehr Menschen sollen das so machen. & immer mehr reden. Über ihre wirklichen Probleme. Die Menschen im Elend der Welt reden übrigens sehr wohl auch genau davon, was ihnen hilft und das Leben leichter macht. Was das ist und wäre.

Bourdieus Beziehungen zu Österreich waren vielfältig, z. B.: 1.) Bourdieus Elend der Welt aus den 1990er Jahren wurde schulintern systematisch mit der weltberühmten österreichischen Studie von Jahoda in den 1930er Jahren in Zusammenhang gebracht, mit den Arbeitslosen von Marienthal. 2.) Für Pierre Bourdieu war die wohl wichtigste Verbindung zu Österreich – der, wie Karl Kraus gesagt hat, Versuchsstation für Weltuntergang – Bourdieus österreichischer, früh verstorbener Schüler Michael Pollak. Pollak hat in einer Studie die österreichische Gesellschaft und Kultur der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als eine die Menschen misshandelnde und missbrauchende beschrieben und die internen Machtkämpfe der Eliten analysiert. Die Intellektuellen seien herrisch, Sadomaso und prostituierend gewesen. Wien 1900. Eine verletzte Identität heißt Pollaks Werk. 3.) Zukunftsweisend an Österreich war für Bourdieu und die Bourdieuschule das Sozialstaatsvolksbegehren des Jahres 2002. Sozusagen das andere Österreich. Bourdieu hat nämlich in den letzten Jahren seines Lebens vehement und konsequent daran gearbeitet, dass es EU-weit, in den einzelnen Staaten und insgesamt, mit Hilfe der Sozialbewegungen und NGOs möglichst bald zu so etwas Ähnlichem wie zu einem Volksbegehren oder einer Volksabstimmung für respektive über ein soziales, also sozialstaatliches, Europa kommt. Was Bourdieu da dringlich und präventiv und als kollektiven Lernprozess im Sinne hatte, hat der Arzt und erste Wiener Pflegeombudsmann Werner Vogt zeitgleich und völlig unabhängig von Bourdieu für Österreich zu realisieren versucht. Gemeinsam mit Stephan Schulmeister, Emmerich Tálos und der inzwischen verstorbenen, politisch jedoch nach wie vor nicht umzubringenden Frauenministerin Johanna Dohnal (und wie sie alle heißen). Nach einer Jahre dauernden Vorbereitungszeit inmitten massiven Desinteresses der Parlamentsparteien ist das Volksbegehren realisiert worden. Bourdieu hat just in diesem jenem anderen Österreich, dem z. B. des Sozialstaatsvolksbegehrens, Europas Avantgarde gesehen.

1. Verschonet euch untereinander! 2. Das Konkurrenzprinzip Jeder gegen jeden und Jeder muss selber schauen, wo er bleibt außer Kraft setzen! 3. VIS und DOLUS, Zwang und Täuschung, selber nicht und nicht anwenden untereinander! 4. Aus den Fehlern lernen, konsequent und systematisch, also kultiviert. 5. Schnellstens daran gehen, das Sozialstaatsvolksbegehren zu wiederholen! Das sind die Antworten, die meine Wenigkeit Ihnen, geschätzte Damen und Herren, auf die Fragen auf der Einladungskarte geben würde, wären besagte Fragen die Ihren. Ah ja – und 6.: Anders miteinander reden. Es gibt nämlich nicht nur ein Totschweigen, sondern auch ein Totreden.

Menschen, die weder totschweigen noch totreden, gibt’s glücklicherweise freilich auch. Peter Henisch zum Beispiel heißt einer und einer Klaus Ottomeyer und einer eben Werner Vogt. Henisch hat vor Jahrzehnten ein Grundwerk der Zweiten Republik verfasst. Das ist auch tatsächlich so kanonisiert, als Grundwerk der Zweiten Republik. Unter dem Titel Die kleine Figur meines Vaters. (Zum jetzigen Bundeskanzler übrigens hat vielleicht noch niemand in der Öffentlichkeit so klare Worte gefunden wie Henisch.) Das Grundwerk der Zweiten Republik aus der Hand des Psychologen Klaus Ottomeyer sind die Psychogramme des Jörg Haider. Diese sind zugleich die Psychogramme des Kurzschen Österreichs hier und jetzt. Und aus Vogts Grundwerk der Zweiten Republik, seinem Pflegetagebuch sowie seinem Berufsroman, sozialhistorischen Lebensbericht, kann man nach wie vor erlernen, miteinander kooperierend Menschen hier und jetzt beizustehen und ihr Unglück ins Glück zu drehen. Das eigene eventuell auch. Einer, von dem ich nicht weiß, wie er heißt – jedoch würde ich ihn unter Tausenden wiedererkennen –, sagte bei einer der Demos gegen die ÖVP-FPÖ-Regierung der Schüsselzeit folgenden Satz: Wir haben gelernt, aufeinander aufzupassen, wir sind eine soziale Bewegung. Wir haben gelernt, aufeinander aufzupassen, wir sind eine soziale Bewegung! Ach wäre es doch dann wirklich so gewesen! Ach wäre es doch dann wirklich so gewesen!

Selbstermächtigung in einer offenen Gesellschaft, Verein AMSEL. Arbeitslose Menschen suchen effektive Lösungen und Katholische Hochschulgemeinde, Graz

Intervention 28. Oktober 2017

Ein Freund, Bruder fast, ist einmal um halb vier in der Früh durch die Strauchergasse zum Zigarettenautomaten gegangen. Plötzlich ist es laut geworden über ihm und aus einem Haus ist aus dem 3. Stock eine Marienstatue geworfen worden, keinen Meter neben meinem Freund, Bruder fast, aufgeschlagen. Als er perplex hinaufgeschaut hat, waren alle Fenster geschlossen, streiten hat er auch niemanden mehr gehört, Licht war auch nirgendwo an. Die Sache hat sich tatsächlich so ereignet. Ein Freund, auch ein Bruder fast, ist einmal über die Strauchergasse, durch den Durchgang, Hof oder wie das heißt, in den Tschuschenpark spaziert, hat aus der Ferne den Stupa angeschaut und der Stupa hat da heftigst Laute von sich gegeben, gezischt, gepfaucht und gebebt. Mein Freund war daraufhin tagelang konsterniert, erklärte mir dann, wie es wirklich gewesen sein muss: In den Pagoden sind üblicherweise Hohlräume frei gelassen, in welchen Heiligenreliquien, sakrale Gerätschaften, Schriftgüter aufbewahrt werden. Die Volksgartenarbeiter werden dort stattdessen Gras, Laub und Abfall deponiert haben, das Ganze hat gegärt, sich so angehört wie ein Buddha mit Verdauungsbeschwerden.

Das Radfahren in Graz soll in der Strauchergasse begonnen haben, die Herstellung von Puchfahrrädern. Gleich nebenan dann ein Haus mit Gedenksteinen für eine jüdische Familie. Mir ist die Gegend ein Weh, weil mir eine Freundin erzählt hat, dass sie in ihrer Jugend weit weg von Graz in der Ordination eines Arztes gearbeitet habe, der oft zu ihr gesagt habe, sie solle ja nicht glauben, was jetzt andauernd geredet werde. Denn in den KZs sei in Wahrheit niemand vergast worden. Die Kammern seien nur Waschanlagen gewesen, nichts sonst. Dieser Arzt eben soll dann in der Strauchergasse Liegenschaft besessen haben, habe ich wieder von jemand anderem gehört, und auch gute Kontakte nach Spanien und Lateinamerika, geschäftliche. (Hörensagen wie gesagt, die familiären, unternehmerischen Konkurse auch. Alles sicher nicht wahr, wozu auch, vergangen, vorbei, falls überhaupt jemals wahr.)

An einem Ende der Strauchergasse die AK. Die ist nicht am Ende, wird nicht wirklich abgeschafft werden. Als ich nämlich vor zwei Tagen vorbeigegangen bin, ist aus der Bibliothek lang laut herausgelacht worden von ganzem Herzen von ein paar Frauen, am Gehsteig davor hat eine Frau auch laut mitgelacht. Bis dato hat es außerdem immer geheißen, die Zweite Republik, die Sozialpartnerschaft, den Sozialstaat haben die Schwarzen und die Roten auf der Lagerstraße von Dachau erlernt, dort ein für alle Male kapiert, dann eben realisiert. Ohne die Braunen.

Vor einem Haus in der Strauchergasse bleibe ich oft kurz stehen. Das hat am Tor zum Anklopfen einen Löwenkopf, über dem Tor ist das Auge Gottes zu sehen. Auf einem Schild irgendein Fonds, nicht spekulierend, sehr seriös. Das Haus soll schon alles Mögliche gewesen sein, aus dem 17. Jahrhundert stammen. Ein Paradies, wenn man bescheiden ist, habe ich vor Jahren, weiß nimmer, von wem, gehört, der das Haus einmal von innen gesehen hat und, so viel weiß ich noch, immer froh war, dass er überhaupt lebt. Jetzt von außen schaut es gewiss nicht paradiesisch aus. In den Scheibenstaub hat jemand gekritzelt: bist du Arm wir wollen dich helfen. Vor Jahren habe ich, wieder von jemand anders, gehört, dass dort die Prostituierten arm dran waren und alles illegal und ergiebig. Am Anfang in den Jahrhunderten soll das kleine Haus, Gebäude, dem geistlichen Leben, klösterlichen gar, und andererseits der Freimaurerei gedient haben. Als Fleisch- und Selcherei auch. Das kleine Haus wirkt trotz allem erhaben, geistig, als ob es Substanz habe. Unzerstörbar. Gaststätte soll es auch einmal gewesen sein. Herberge.

»Ort« heißt, von der Etymologie her, das, wo sich alles zuspitzt.

Die Strauchergasse geradeaus & ums Eck, in: GRAZ. Mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern an besondere Orte der Stadt, Klaus Kastberger (Hg.), Graz 2018

Intervention 29. November 2016

Tag, Monat, Jahr

Der FPÖ-Politiker, dem ich immer in der Straßenbahn begegne und der immer so wie ein Raufbold dasteht und daherkommt. Heute ist er ausgestiegen, wo ich eingestiegen bin. In der Hand hatte er eine Parteizeitung, von seiner Partei ein Exemplar. Das hat er zornig in den Müllkorb an der Haltestelle geworfen, als gebe er dem Müllkorb eine Ohrfeige. Lustig war das, dass er seine eigene Zeitung weggeworfen hat. Vielleicht habe ich mich ja getäuscht und es war eine andere Zeitung, ein Haltestellengratisblatt, welches die Partei auf der Titel- und auf der Rückseite hatte. Kann ja sein. So oder so hat er vom Mülleimer Satisfaktion verlangt oder zumindest erschien der ihm satisfaktionsfähig.

Tag, Monat, Jahr

Aus 6 Milliarden Menschen kann man mittels 33 Fragen einen ganz bestimmten Menschen, eine bestimmte Person, herausfinden. 33 Fragen reichen. 33 Fragen reichen bei 6 Milliarden Menschen. 33 Bits! 33 Ja-Nein-Fragen. Mit jeder Antwort wird die Anzahl der Möglichkeiten halbiert.

Tag, Monat, Jahr

Kanzler Kohl soll während der Sitzungen in einem fort Butterstücke gegessen haben. Die kleinen, die man im Hotel zum Frühstück bekommt. Über ein Dutzend hintereinander. Wie andere Leute Bonbons. Kanzler Schmidt soll am liebsten Coca Cola getrunken und in jede Coca 6 Stück Würfelzucker gegeben haben.

Tag, Monat, Jahr

Ich warte wieder einmal auf ein Wunder. Ohne das geht es nicht. Es sind auch schon viele geschehen.

Tag, Monat, Jahr

Wenn kein Wunder geschieht, ist alles aus. Ich kann nicht mehr.

Tag, Monat, Jahr

Gaddafi hat Nelson Mandela geholfen, unter anderem finanziell. Schon während Mandelas Zeit im Gefängnis. Der Partei und Bewegung Mandelas hat Gaddafi auch immer geholfen. Mandela war daher gewissermaßen zeit seines Lebens mit Gaddafi befreundet, hat einen seiner Enkel Gaddafi getauft und selber hat er Gaddafi mit Bruder Revolutionsführer angesprochen. Sie sind oft Hand in Hand miteinander gegangen, in Libyen und in Südafrika. Als Mandela Präsident war, hat ihn Gaddafi besucht und Mandela hat ihm den höchsten Orden verliehen und war in aller Öffentlichkeit sowieso immer herzlich und dankbar Gaddafi gegenüber. Was heißt das jetzt?

Tag, Monat, Jahr

Angeblich gibt es in Deutschland seit kurzem den Beruf des Entscheiders. Der wird kurz angelernt aus anderen Berufen oder aus Arbeitslosigkeit und entscheidet dann schnell über Asylanträge. Und angeblich müssen Banken ein Testament machen nach neuestem. Ich weiß nicht, ob’s wirklich stimmt oder ob man nur einen Witz gemacht hat. Angeblich stimmt’s.

Tag, Monat, Jahr

Goebbels’ Richtlinien des Bescheißens, dazumal wie jetzo, lauten wie folgt: Warten können! Darauf kommt es jetzt an [...] Die Zeit arbeitet für uns [...] Lerne schweigen! So lautet das erste Gebot des Revolutionärs. Lerne warten! So lautet das zweite Gebot des Revolutionärs [...] schweigend warten! Im von ihm gegründeten Blatt Der Angriff hat Goebbels das so publiziert. Und dass man als – wie Goebbels es nannte – Nazi-Sozi, als Nazi-Sozi, als Revolutionär eben, als Aktivist, als reißender Wolf den Schafspelz umzulegen [... und] Bürger unter Bürgern zu sein [habe, auch wenn man] aufbrüllen möchte [und] einen Stunde um Stunde der Teufel verfolgt. Goebbels wortwörtlich weiter: Ein Revolutionär muss alles können [...] Hass und Verzweiflung organisieren [...] Bereit sein ist alles [...] Weil wir Aktivisten sind [...]. Der Aktivist, der Revolutionär, der Nazi-Sozi müsse, so Goebbels, freundlich lächeln können und ein guter Nachbar sein. [...] eiskalt dem Gegner auf den Pelz rücken, ihn abtasten, auskundschaften, wo seine verwundbare Stelle ist, überlegsam und berechnend den Speer schärfen, ihn wohlgezielt in die lecke Blöße [...] hineinjagen und dann [...] freundlich lächelnd [...] sagen: Verzeihen Sie, Herr Nachbar, aber ich kann nicht anders! In seinen Tagebüchern beteuerte Goebbels, dass er viel von seiner Mutter lerne, sie erkläre ihm die Stimmungen des Volkes besser als all die Experten. Das Volk ist meistens viel primitiver, als wir uns das vorstellen. Das Wesen der Propaganda ist deshalb unentwegt die Einfachheit und die Wiederholung. Nur wer die Probleme auf die einfachste Formel bringen kann und den Mut hat, sie auch gegen die Einsprüche [...] ewig in dieser vereinfachten Form zu wiederholen, der wird auf Dauer zu grundlegenden Erfolgen [...] kommen. Ich weiß nicht, ob Goebbels oder ob Schirach folgendes Gebet den Kindern ins Herz zu pflanzen veranlasst hat: Händchen falten, Köpfchen senken, innig an den Führer denken, der uns Arbeit bringt und Brot, der uns hilft aus jeder Not.

Tag, Monat, Jahr

Elohaj, n’schama sch’natata bi t’hora hi.

Tag, Monat, Jahr

Baruch ata Adonaj, Elohejnu, melech ha-olam, ha-tow we ha-metiw.

Tag, Monat, Jahr

Die Frau, die früher oft im Tierheim behilflich war, kann sich immer weniger rühren. In der Straßenbahn hat sie sich nicht gut festhalten können, weil sie Probleme mit ihren Schultergelenken hat, und sie hat sich in der Straßenbahn in der Folge fast die Hälfte ihrer Zähne ausgeschlagen, etliche Zahnstücke fehlen ihr jetzt und weh tut das natürlich auch. Sie hat aber kein Geld, sich die Zähne reparieren zu lassen. Essen geht sie jetzt seit langer Zeit immer in die Armenausspeisung. Die Frau ist nämlich regresspflichtig. Sie muss für ihre Tochter zahlen, die vor ein paar Jahren Sozialhilfe bekommen hat. Natürlich habe ich das jetzt falsch berichtet, aber es stimmt trotzdem. Denn die Mutter will eben ihrer Tochter die Rückzahllast lindern. Es sei ja ihre Pflicht als Mutter, der Tochter zu helfen, damit die in irgendeiner Form doch eine Existenz haben kann, doch eine Zukunft. Irgendwie ein Leben eben. Von den großen Unternehmen, hat da die öffentliche Hand schon jemals die Subventionen zurückverlangt, frage ich mich.

Tag, Monat, Jahr

Ehrlichkeit ist Energieersparnis, hat heute ein Berufsbergsteiger gesagt, und dass man den Augen nicht zu viel glauben solle. Mit den eigenen Kräften sorgsam umzugehen, ist wichtig für ihn, weil er ja oft im Extremen ist in seinem Beruf. Er ist also von Berufs wegen wahrheitsliebend. Er weiß, was Fehler bedeuten, sagt, wenn er einen Fehler mache, sei er weg. Er ist von Geburt an blind und sein Beruf ist zum Beispiel, dass er andere Leute auf Berge bringt. Blinde auch. Auch auf schwierige Berge alle. Die Leute vertrauen ihm. Er sagt zu den Leuten, wenn Blinde und Sehende gemeinsam auf einen Berg steigen, sei das viel sicherer, denn ihre Sinne ergänzen einander. Wenn hingegen nur Sehende auf den Berg gehen, nehmen sie weniger wahr und eine solche Tour von nur Sehenden sei in Wirklichkeit viel gefährlicher. Sein Körper sei, sagt er auch, ein Unternehmen: Die Oberen, die Vorgesetzten seien unzuverlässig und unfähig (seine Augen nämlich), und diejenigen, die unten arbeiten müssen im Unternehmen, bluten oft, nämlich seine Knie und seine Hände. Seine Schwester ist ebenfalls von Kind an blind. Aber die Eltern haben die blinden Kinder weiterhin stets so erzogen wie Sehende. Zum Beispiel haben sie für sie jedes Jahr die Christbäume geschmückt und die Kerzen angezündet und haben ihren Kindern Eislaufen und Skifahren und Radfahren beigebracht. Egal, was die Leute damals gesagt haben. Die Nachbarn sollen die Köpfe geschüttelt haben, was die Eltern da aufführen und wozu das denn gut sein solle und ob die Eltern denn blöde seien. Der Bergsteiger sagt des Weiteren, dass das Wort UNABHÄNGIG die größte Lüge sei, die unsere Gesellschaft erfunden habe. Unabhängigkeit sei heutzutage und überhaupt eine Art Betrug. In Wahrheit sei niemand unabhängig, denn jeder brauche dauernd andere Menschen. Und das sei ja vielleicht auch der Sinn des Lebens. Der Bergsteiger sagt auch, dass er es in seinem Beruf eigentlich nie mit der Angst zu tun bekomme, denn er sehe ja nichts und daher in keinen Abgrund hinunter. Sondern der Körper sei mit ganz anderen Dingen beschäftigt, mit dem wirklich Wichtigen eben. Jedes Mal, wenn ich es zufällig und aus weiter Ferne mit dem blinden Bergsteiger und seiner Frau zu tun bekomme, fällt mir sofort Wittgenstein ein. Der Denkungsart wegen. Denk nicht! Schau!, hat Wittgenstein zum Beispiel gesagt und hat sich immer so aufgeregt über alles und hat so gezittert und hat sich immer gewünscht, dass man ihn an der Hand nimmt und ruhig und freundlich mit ihm redet, und hat das vielen anderen Leuten ja auch so gesagt und es hat aber nicht viel genützt, gar nichts eigentlich, weil die das eben nicht gemacht haben. Im Gegensatz zu dem, was, kommt mir halt vor, der blinde Bergsteiger tun würde.

Tag, Monat, Jahr

Der Lehrer, den die Kinder mögen, sagt zu ihnen, dass er ohne Religionsbekenntnis sei, und versucht ihnen zu erklären, warum. Ein paar Kinder, elf, zwölf Jahre alt, fragen ihn daraufhin sofort: Woher weißt du dann, was du essen darfst?

Tag, Monat, Jahr

Zwei aus dem Transportgewerbe treffen in einer Straßenenge aufeinander. Der eine schreit: Halt an! Gib den Weg frei! Der andere erwidert: Ich weiche nicht! Darauf schreit der eine wieder: Mach Platz! Fahr zurück! Ich schwöre dir, wenn du den Weg nicht frei gibst, mache ich mit dir dasselbe, was ich mit allen gemacht habe, die mir in die Quere gekommen sind! Der andere bekommt es jetzt doch mit der Angst zu tun und setzt ein Stück zurück. Als daraufhin sein Kontrahent an ihm vorbeifährt, fragt er diesen, was er denn mit denen gemacht hat, die nicht ausgewichen sind. Die Antwort des Kontrahenten lautet: Denen bin ich ausgewichen, da bin jedes Mal ich zurückgefahren. Die Geschichte stammt von einem persischen Satiriker aus dem 14. Jahrhundert. Kann auch sein, sie kommt aus dem 11. Jahrhundert, von einem persischen Mathematiker und Dichter her, der vom Weinen und vom Wein viel gehalten hat. In die spieltheoretischen Modelle der Kriegswissenschaftler und der Friedensforscher hat sie später dann, sozusagen heutzutage, Eingang gefunden. Und zwar unter der von Bertrand Russel ersonnenen Bezeichnung FEIGLINGSPARADOXON.

Tag, Monat, Jahr

Damit Menschen einträchtig leben und einander hilfreich sein können, ist es nötig, dass sie einander sicherstellen, künftig nichts zu tun, was den anderen schädigen könnte. Eine Art Staatsdefinition ist das eigentlich. Von Spinoza kommt die. 17. Jahrhundert. Für Erich Fromm war Spinoza grundlegend. In der Unterscheidung, in der ständigen Entscheidung, zwischen der Liebe zum Leben und der Liebe zum Tod zum Beispiel. Und Pierre Bourdieu, Pierre Bourdieu hat sich im Elend der Welt wesentlich auf Spinoza berufen. Einander sicherstellen, künftig nichts zu tun, was den anderen schädigen könnte.

Tag, Monat, Jahr

Ich steige in ein Taxi, kenne den Fahrer nicht, er sieht mich kurz an, sagt: Meine Schwester ist in Aleppo, seit vier Monaten, in einem Flüchtlingslager. Im nächsten Moment wird er angerufen. Es ist seine Schwester. Er hat auf den Anruf gewartet, redet beruhigend auf sie ein. Ich höre die Frau immer ruhiger werden beim Reden. Als sie sich verabschiedet haben, sagt er zu mir: Sie bekommt keine Papiere, weil sie kein Geld hat für die Bestechung. Weil sie nicht bezahlt, sagen die Beamten, sie ist keine Syrerin. Ich will ihr helfen, ich kann in Österreich für sie Zeuge sein. Ich weiß nicht, was ich tun soll, damit sie nach Österreich kommen kann. Ich brauche Politiker. Ich frage ihn, wie lange er schon hier ist. Seit 10 Jahren ist er hier. Ich frage ihn, ob er grüne Politiker kennt. Er lacht: Die Grünen sind schwach. Die Grünen können nicht viel. Ich gehe zu Strache. Der kann was. Du musst immer zum Chef gehen. Weil meine Schwester nicht lügt, wird die FPÖ uns helfen. Und dann will er von mir wissen, warum die Menschen so viel lügen. Er ist sehr aufgeregt und sehr ruhig zugleich. Zehn Minuten Fahrt waren das dann. Als ich dann wieder auf meinen Beinen stehe, zittern die und meine Hände auch.

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9783990471173
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