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Wenn Kinder erzählen, fangen sie damit eben an und hören auf, wo es ihnen passt. Reden dann etwas ganz anderes. Und dann irgendwann einmal fangen sie wieder beim Schlimmen, Betrüblichen an, hören aber wieder auf und reden vom Guten, jauchzend, himmelhoch, und dann sind sie wieder betrübt oder vorsichtig und schweigen. Je nachdem, wie der Mensch ist, dem sie erzählen, erzählen sie selber. Zum Beispiel, wie schlimm die Sache ist. Sie schauen zwischendurch immer, ob sie dem, dem sie berichten, vertrauen können oder ob sie ihn in Schwierigkeiten bringen oder Schmerzen oder Schaden zufügen. Da hören sie dann sofort auf [...] {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, III 366}

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Das Schönste, was ich je gehört habe in einer sozialen Bewegung, war: Wir haben gelernt, aufeinander aufzupassen. Wir sind eine soziale Bewegung. Die haben das so gemacht, gekonnt, das weiß ich. Die hatten auch nie Angst, sich lächerlich zu machen oder alleine dazustehen. Aber hier in der Stadt [...] war das nicht so. Meiner Meinung nach. Die NGOs und die Bewegungen waren nicht wirklich so.[Die GFs.] {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, III 31}

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Man soll fauchen wie ein Löwe. Brummen wie ein Bär. Meckern wie eine Ziege. Oder man soll sich freundlich zuwinken. Lachyoga. Lachen und dabei in die Hände klatschen macht munter; die Lachlaute sind je verschieden gut: Hihi weckt einen auf, das Hirn. Haha labt das Herz, Hehe den Hals und die Gefühle und macht immun. Hoho ist gut gegen den Groll, gegen die Wut. HihihiHeheheHahahaHohoho soll man der Reihe nach lachen, weil das heilsam ist. Und mit den Armen schwingen wie ein Vogel und dabei eben lachen soll man. Oder sich auf den Rücken werfen wie ein lachender Käfer. Letzteres verstehe ich nicht. Ich habe immer geglaubt, ein auf dem Rücken liegender strampelnder Käfer kämpft um sein Leben. Wie kann dem zum Lachen sein. Lachen kann jedenfalls jeder. In jeder Lebenslage. Und man muss immer tun, was man kann. [Huhuhu ist fürs Gedärm in jeder Hinsicht...] {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, III 23}

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Seit den 1970er Jahren experimentiert der Computer-, IT- und KI-freundliche Katastrophenpsychologe Dietrich Dörner intensiv und konsequent, um Menschen wie Dich und mich, aber vor allem um die jeweiligen politischen, technischen, ökonomischen Entscheidungseliten durch Computersimulationen zu schulen und vorstellungsfähiger und dadurch wirklichkeitstauglicher zu machen. Auf dass politische, technische, ökonomische Unfälle, Debakel und Desaster verhindert werden: Das Dörnerexperiment 2 betrifft ein fiktives Entwicklungsland namens Tanaland, das Dörnerexperiment 1 die fiktive kleine deutsche Stadt Lohhausen, das Dörnerexperiment 3 ist das reale Tschernobyl. Den Versuchspersonen wird jedwedes Know-how und Machtinstrumentarium, sogar das der Diktatur, zur Verfügung gestellt. Aber fast alle Versuchspersonen sind den Situationen, Strukturen, Zwängen, Zusammenhängen, Geschwindigkeiten und Abläufen nicht gewachsen und zerstören unerbittlich das, was sie aufbauen oder retten sollen. In den 30, 40, bald 50 Jahren der Dörnerexperimente hat sich daran nicht viel geändert. Und Dörners Experimente sind vielleicht sogar gruseliger als die Milgrams, denn die jeweilige Versuchsperson handelt frei und ungezwungen, keine beigestellte Autorität zwingt sie weiterzumachen, egal, wie es den überantworteten Menschen dabei ergeht. Die für die Entwicklungslandbewohner lebensbedrohlichen und quälenden Interventionsfolgen wurden vom fiktiven Entwicklungshelfer, vom Computertäter, als notwendige Durchgangsphase deklariert. Die Versuchspersonen agierten ziemlich brutal, egal, ob sie männlichen oder weiblichen Geschlechts waren: Die Hungernden beispielsweise müssen eben, hieß es seitens der Versuchspersonen, für ihre Enkel leiden. Es sterben, meinte man auch, ja wohl hauptsächlich die Alten und Schwachen, was gut sei für die Bevölkerungsstruktur. Je gefährlicher die Situation beispielsweise für die Entwicklungslandmenschen wurde und je mehr warnende Informationen, negative Rückmeldungen die es gut meinenden, immer nervöser werdenden Computertäter bekamen, umso gleichgültiger und rücksichtsloser agierten sie und fanden gute Gründe für ihr eklatant falsches, großen Schaden stiftendes Vorgehen. {Paraphrasiert, vgl. Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, III 412ff.}

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[...] Triage. Eigentlich heißt das bloß Ausschuss, z. B. beim Kaffee. Aber es sind Menschenleben. Triage: Man hilft in Katastrophensituationen, bei akutem Ressourcenmangel der Helfer denen, die noch am ehesten eine Chance haben. Triage: Zuerst die, die nicht mehr schreien, dann die, die schreien, dann der Rest. Diese Regel gibt es auch. Aber die ist sehr schnell für Arsch und Friedrich. Der Sozialstaat ist dafür da, dass es in Notsituationen nicht dazu kommt, dass den einen geholfen wird und den anderen nicht. Der Sozialstaat ist also das Gegenteil von Triage und Selektion. Die Regel Leben gegen Leben muss nicht angewendet werden. {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, III 523}

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Wäre ich Kulturstadtrat, würde ich sofort jeglichen Alkoholkonsum bei Kulturveranstaltungen unterbinden. Und zwar bloß, weil ich wissen möchte, was dann geschieht. Also, was von der Kunst und vom geistigen Leben übrig bleibt. {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, III 428}

Schlussworte wie folgt: Dem Sozialstaatsschuber, meinem, wurde im jahrelang behinderten Entstehen und natürlich erst recht nach Erscheinen wiederholt vorgeworfen, er sei voller Wiederholungen; end- und ausweglosem Leid; Leuten, die man sich weder merken kann noch merken mag, allein ihrer Anzahl wegen, und schon gar nicht aufgrund ihrer Charaktereigenschaften. Und ein Schlüsselroman sei das Ganze auch noch dazu. Für so etwas wie meinen Sozialstaatsroman brauche man sohin einen Waffenschein. Der Sozialstaatsroman, meiner wie gesagt, sei irgendwie gemein, denunziatorisch, hinterhältig, verleumderisch, sogar irgendwie erpresserisch. Was darin wahr sei, sei überdies überhaupt ungewiss, weil nicht auszumachen. Und er und ich seien auch nicht zitabel. Ein furchtbares Buch, trist, verhängnisvoll, entbehre jeglicher Utopie und des Trosts. Vor allem: Was im Sozialstaatsroman berichtet werde, sei überhaupt nichts Neues, sondern kenne und wisse man ohnedies. Er sei also eigentlich uninteressant. Zumal eigentlich auch schlecht geschrieben; für ihn gebe es also weder Markt noch Publikum noch sonst woher Geld. Unerträglich, unleserlich und gewiss unverkäuflich sei er. Und bewirken und ändern könne er sowieso nichts und man selber tue im Leben und Beruf außerdem sowieso, was man nur könne, seit jeher und jeweils immer. Ich übertreibe nicht, sondern ziemlich so in etwa 1:1 wurde zu mir geredet verschiedensterseits. Mit Verlaub, ich habe Glück gehabt. Und der Sozialstaatsroman handelt eben von Menschen, die Glück gehabt haben. Von im Stich Gelassenen, die plötzlich doch ein Leben hatten, da Menschen, die ihnen halfen, wirklich halfen, verlässlich. Und andererseits berichte ich von denen, die zugrunde gegangen sind, weil niemand da war in wichtigstem Augenblick und wichtigster Zeit.

Worum ich Sie, sehr geehrte Damen und Herren, bitte, falls und sofern das von mir Ihnen Vorgelesene Ihrem Innenleben oder Ihrer Denkungsart irgendwie konveniert, ist: im Sozialstaatsschuber, im Register, unter Seppi und Günther nachzuschauen und sodann an den dort genannten Stellen. Seppi war mein Volksschulfreund und man hat ihm sukzessive und fälschlich Intelligenz und Lebensfähigkeit abgesprochen und ihn mit knapp über 20 Jahren in ein Altersheim, Pflegeheim gegeben. Und sein ihn liebender Bruder, herzensgut, fleißig, hilfsbereit und erschöpft, hat sich mit knapp über 50 Jahren in der Mur ertränkt. In der Folge. Vom Leben der beiden z. B., von dem, was sie versucht und worauf sie sich gefreut hatten, berichte ich. Auf Günthers Grab sitzt im Übrigen ein halbhandkleiner kitschiger weißer Engel, aus einem weißen Buch vorlesend. Kann leicht sein, der liest ihm vor, was die vorgeblichen Bildungs- und Hilfseinrichtungen samt exekutierendem Personal den beiden Brüdern verwehrt und unterschlagen haben. Der Sozialstaatsroman erzählt tatsächlich von tatsächlichen Menschen, denen de facto die Lebensfähigkeit samt Leben abgesprochen wurde und das Bewusstsamt dem Menschsein. Einer Frau z. B., von der es hieß, sie werde nicht überleben und wenn, dann ohne jegliche höhere geistige Funktion und Fähigkeit. Nichts davon war dann wahr. Zum Glück. Von diesem Glück z. B. erzähle ich. Wie darum gekämpft wurde. Von Menschen. Und wie es dann wirklich da war. Und so weiter und so fort. Der Sozialstaatsroman hat, nebstbei gesagt, vielleicht deshalb seine 1.200 Seiten, weil er von vielleicht 1.200 Menschen Bericht gibt. Solchen und solchen. Das Zweite jedenfalls, worum ich Sie, sehr verehrte Damen und Herren, bitte, ist: Wiederholen Sie jetzt endlich das österreichische Sozialstaatsvolksbegehren! So schnell wie Ihnen jetzt nur irgend möglich! Der Zweiten Republik ist, kommt mir vor, nicht viel eingefallen, das dermaßen vernünftig war wie das Sozialstaatsvolksbegehren. Im Jahr 2002 war das und wesentlich im Bemühen verbunden unter anderen mit dem Arzt und Pflegeanwalt Werner Vogt, dem Wirtschaftsforscher Stephan Schulmeister, der Frauenministerin Johanna Dohnal. Und, was die Wenigsten wissen, mit dem Menschen- und Wirklichkeitswissenschaftler Pierre Bourdieu. Für ganz Europa hatte der so etwas vor. Sozusagen Österreich statt Katastrophe. (Wie auch immer.) Tun Sie es einfach! Bitte! Wiederholen Sie’s! Ah ja, und wenn Sie gerade dabei sind: Warum gibt es da hier kein Schulunterrichtsfach, das Helfen heißt? Installieren Sie es einfach. Bitte! Und im ORF ein fixes Friedensforschungsformat, Friedensprogramm, z. B. jede Woche 2 Stunden.

Mein Sozialstaatsroman, das sei noch gesagt, ist kein Schlüsselroman; der Schlüssel lautet vielmehr einzig wie folgt, nämlich: Menschen sind gut und klug, wenn man sie es sein lässt, und Systeme sind änderbar, wenn man sich ihrem Verhängnis nicht fügt. Sie würden, sehr geehrte Damen und Herren, würden Sie in den Sozialstaatsschuber schauen, keinen einzigen Menschen finden, niemanden, nicht unter den Opfern, nicht unter den Tätern, der nicht Entkommen und wirklichen Ausweg selber sich wünscht und selber benennt und selber versucht.

Wenn wir sprechen, sehr geehrte Damen und Herren, sind wir, kommt mir vor, wie Affen, die von Baum zu Baum springen. Sind unsere Sätze falsch, unser Satzen eben, sind wir auf der Stelle tot oder bald. Durchs Reden also, Sie und z. B. ich, lassen wir unsere Fehler, falschen Sätze eben, an unserer Stelle sterben. Ersparen uns so Leid und Tod. Könnten. Den anderen Leuten auch. Der Sozialstaatsroman jedenfalls besteht aus solchen Sätzen. Aus Situationen und Menschen besteht der und was die tun mit welchen Folgen. Schicksalhaften. Und eben diese werden durchbrochen. Fehler sind wiedergutmachbar. Jeder hat eine 2. Chance, ein 2. Leben. Mindestens.

Weltmaschine Graz. Festival Literaturhaus Graz und steirischer herbst ’19

Intervention 26. Juni 2019

Sofort springen Frösche, wenn man sie ins kochende Wasser wirft, wieder heraus aus dem Wasser. Aber wenn man ihnen, heißt’s, das Wasser peu à peu erhitzt und die Grade auf der Skala langsam, langsam nur, langsam ansteigen lässt, lassen die Frösche sich allesamt problem- und widerstandslos kochen. Dabei steigen die Frösche die Froschleiter immer höher hinauf und zum Schluss eben sind sie gar. (Mehr war nicht, mehr ist nicht.) Inhalt und Handlung von Bourdieus Die feinen Unterschiede sind einmal so ausgelegt worden. Österreichisch. Als Analyse des langsamen Eingekochtwerdens. Sohin als Beschreibung und Erklärung dessen, was dazu bringt, die Leiter hinaufzuwollen und -zukommen, sozusagen sich hinaufzuretten, anstatt dem Kesseltreiben schnell und ohne Zögern zu entfleuchen. Also sich herauszuretten.

Ebenfalls auf Österreichisch wurden Bourdieus Überlegungen zu Herrschaft, Macht und Gegenmacht allesamt einmal wie folgt kommentiert: Es gehe unter Erwachsenen durchaus zu wie in Schulklassen. Mitunter hole da dann eben der Lehrer den störendsten Störenfried oder die aufrührerischste Aufrührerin zu sich heraus oder herauf und sage zum Störenfried oder zur Aufrührerin, er, sie soll die Klasse übernehmen. Jetzt. Die Verantwortung also oder was auch immer. Die Macht halt. Und da dann steht oder sitzt der Störenfried oder die Aufrührerin der Klasse, der Masse perplex gegenüber und wisse preisgegeben, isoliert und ausgeliefert nicht, was tun. Die gegenwärtige linke Parteipolitik und die gegenwärtigen linken Protestbewegungen seien so: Wenn ein kleiner frecher Empörer, eine kleine muntere Empörerin von unten und draußen in eine gewisse Machtposition komme, wisse er oder sie eben nicht, was tun, und tue dort dann alles in allem dasselbe wie alle anderen dort sonst auch. Und Bourdieus Kunstsoziologie, die, die wurde auf Österreichisch einmal mit der simplen Frage quittiert, ob Bourdieu die Dirigenten als unnötig abschaffen wolle.

Der stets provokante, zuvorderst an Karl Kraus, Till Eulenspiegel, Joseph Hellers Militär-, Wirtschafts- und Gesellschaftssatire Catch 22, an Erving Goffman, Robert Merton, am common sense, Pragmatismus und an Kohorten von Paradoxien, Aporien und Anomien geschulte und gewitzte Sozialwissenschaftler, der die Frage nach der Abschaffung des Dirigenten gestellt hat und von dem auch der Vergleich mit den Fröschen stammt sowie der mit den reüssierenden Klassenkasperln, zuerst kecken, dann schockierten, dann braven, hieß Hans Georg Zilian. Verstorben 2005. Grazer. Bekanntlich spezialisiert auf die Arbeitswelt. Auch auf die von Hilfseinrichtungen. Diese hat er vorm Looping und Unterleben ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewarnt. Die Begriffe Looping und Unterleben stammen von Goffman und bedeuten in etwa Doublebind, Burnout und Absturzexistenz, nämlich dass die Belegschaft, das Personal, der Einzelne, die Jeweilige unlösbare Aufgaben aufgetragen bekommt und dann für die Fehler der Vorgesetzten zur Verantwortung gezogen wird. Mit allen Konsequenzen und infolge von obrigkeitlichem Organisationsversagen. Für die Ausbildung der steirischen Sozialarbeiterschaft war Zilian übrigens auch mitzuständig.

Als Franz Schultheis, der Herausgeber der deutschen Fassung von La Misère du Monde und damals Vizepräsident von Bourdieus Raisons d’agir, im Frühherbst 2000 durchaus auch in Vorbereitung von Bourdieus späterem Auftritt in Wien nach Graz kam, wurde er in der Diskussion vom Moderator Zilian gleich eingangs gefragt, wie das Bourdieusche Vorhaben einer europaweiten sozialen Sammelbewegung in Österreich denn überhaupt gelingen können solle. Denn: 1. träfen die französischen BourdieuanerInnen in Österreich ja auf alternativ-soziale Gruppen, die ihre Einzelinteressen massiv und egoistisch anderen, konkurrierenden Gruppierungen gegenüber durchzusetzen gewohnt und willens seien. 2. träfen die französischen BourdieuanerInnen ja lediglich aufs andere Österreich, aufs andere Wien, aufs andere Graz, also auf ohnehin alternativ gesinnte Minderheiten, die mit der Mehrheit nur schwer kommunizieren können, keine breite Öffentlichkeit finden und sich nicht bei der Mehrheit durchzusetzen vermögen. 3. Widerstand müsse sich immer irgendwie rentieren, sonst komme er nicht wirklich zustande. Wirklich Widerstand leisten können nur diejenigen, die es sich leisten können – oder nichts zu verlieren haben.

Zilians prophylaktische Grazer Fragen trafen in der Tat die Grundanliegen Bourdieus und stellten massiv in Frage, dass Bourdieus unerlässliche, unverzichtbare, unaufschiebbare Grundanliegen wirklich realisierbar seien, nämlich 1. Kooperieren, Vertrauen und Verständnis statt Konkurrenz und Destruktion, 2. Auswege kreierende gegenseitige Hilfestellung von unabhängigen WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen einerseits, NGOs, Hilfseinrichtungen, Menschen in helfenden Berufen andererseits, 3. eine europäische Sozialcharta, europäische Sozialbewegung samt etwaigem europäischem Volksbegehren, etwaiger europäischer Volksabstimmung zu Wege bringen.

Zilians Aporien benannten den üblichen, banalen, läppischen, alltäglichen Konkurrenzkampf. Innen wie außen. Den materiellen; personellen. Zwischenmenschlichen sowieso. Positionellen. Systematischen und strukturellen auch sowieso. Finanziellen z. B. Was denn sonst!

Zilian schockierte die sogenannte Zivilgesellschaft gewohnheitsmäßig und man kam auch bourdieuanerseits nicht wirklich zurande mit ihm. Nichtsdestoweniger war er vom österreichischen Sozialstaatsvolksbegehren des Jahres 2002 beeindruckt und insbesondere auch von der Wahlverwandtschaft des Sozialstaatsvolksbegehrens mit Bourdieus Vorhaben. Just der ansonsten stets skeptische, desillusionierende Beobachter Zilian hat 2002 öffentlich darauf gewettet, das unter anderem vom Arzt Werner Vogt, dem Ökonomen Stephan Schulmeister und der legendären Frauenministerin Johanna Dohnal initiierte Sozialstaatsvolksbegehren werde 1½ Millionen Unterschriften bekommen. Denn die Österreicher seien sehr sozial, wenn man sie es nur sein lasse; sie nicht gegeneinander hetze, sie nicht gegeneinander ausspiele und sie nicht ständig halb und falsch informiere. Völlig falsch auch sei es zu glauben, der Sozialstaat sei nur für die Randgruppen da. Vielmehr müsse man im Werben für das Sozialstaatsvolksbegehren klarmachen, dass der Sozialstaat die Masse der Bevölkerung, die absolute Mehrheit, versorge. Darum gehe es, wolle man das Potential von 1½ Millionen Unterzeichnenden ausschöpfen. Um die verlässliche, schützende, rettende, bewahrende Hilfe in und vor belastenden, bedrückenden, bedrohlichen, vernichtenden Lebenssituationen gehe es. Die Menschen verstehen allesamt sehr wohl, worum es geht, meinte Zilian. Um Leib und Leben gehe es. Um sie selber gehe es, um ihr Leben und um das ihrer Lieben. Jeder Mensch verstehe das. Jeder.

Was Zilian, der ja stets in den verschiedensten sich ihm bietenden öffentlichen Situationen den Unterschied – sozusagen den jeweils feinen Unterschied – zwischen Ethik, Etikette und Etikettenschwindel ins öffentliche Bewusstsein zu heben getrachtet hat, am Bourdieuanum neben dessen Affinität zum österreichischen Sozialstaatsvolksbegehren dermaßen gefallen hat, war der Rat Pierre Bourdieus für den Umgang mit jedweden machthabenden Eliten. Besagter Bourdieusche Rat lautet bekanntlich, dass man unbefangen, uneingeschüchtert und wahrheitsgemäß doch ja stets aufschreien solle wie das Kind in Andersens Märchen vom dummen, narzisstischen Machthaber mit den neuen Kleidern.

In seiner Jugend hat Zilian übrigens an einem Roman über das Fußballspielen geschrieben und auch noch kurz vor seinem unerwarteten Tod hatte er ein Forschungsprojekt im Sinne übers Fußballspielen da hier. Von wem alles und wodurch alles der österreichische Fußball ganz offensichtlich kaputt gemacht wird. Und vor allem was dagegen getan werden kann. Für diese Studie zum Zwecke des Gedeihens, Aufblühens, des österreichischen Fußballs suchte Zilian sowohl nach interessierten Geldgebern als auch unter anderem nach Leuten, die sich in Bourdieus soziologischem Werkzeugkasten ausreichend auskennen. Mit all den Feldanalysen Bourdieus also. Wie man diese gebrauchen könnte für die hiesigen Fußballfelder. Der Zustand des österreichischen Fußballs als Folge, Symptom, Spiegelbild der österreichischen Gegenwartsgesellschaft. Das war in etwa das Vorhaben.

Übrigens auch fand da hier in der Arbeiterkammer Wien wenige Tage vor Bourdieus Tod eine Veranstaltung zu den neuen Technologien und Arbeitsformen in der zunehmend durchdigitalisierten Welt statt. Zilian wetterte da, Jänner 2002 wie gesagt, erschrocken gegen die Zulassung der bis dahin in Deutschland (und ich glaube, auch in Österreich) verbotenen Hedgefonds. Erschrocken auch gegen das sozialhalluzinatorische ewige Du der Handys samt Internet. Und gegen die werbepsychologische, in den politischen und ökonomischen Auseinandersetzungen und gerade auch bei den Zukunfts- und Trendforschern übliche, plötzlich allgegenwärtige, ständige Praxis des polyperversen, vorgeblich freien und vorgeblich befreienden Denkens, nämlich des in einem fort umgekehrt Denkens, Wegwerfdenkens, dessen weltweit wirkmächtiger Erfinder just ein Österreicher war. Berühmter Psychologe. Politikerberater. Der Begriff der Wegwerfgesellschaft wurde einstens geprägt, um besagtem österreichischem Psychologen das Handwerk zu legen. Vergeblich, versteht sich. Auch Bourdieu hat in Den feinen Unterschieden gegen besagten Österreicher Stellung bezogen. Auch vergeblich. Besagter Psychologe hatte auch die Idee, im Weltraum Altersheime, Altenstationen zu bauen. Die Alten sozusagen auf den Mond zu schießen. Allen Ernstes. Zilian war entsetzt. Zutiefst erschrocken des Weiteren wetterte Zilian – ebenso wie sattsam bekannt Pierre Bourdieu das in seinen Gegenfeuern tat – gegen die neoliberale mit etlichen Nobelpreisen ausgezeichnete Ökonomie der Chicagoboys, die juristisch und de facto das Verursacherprinzip außer Kraft setzen, nämlich absurderweise die Geschädigten sowohl für den tatsächlich bereits erlittenen Schaden als auch für die künftige Schadensprävention aufkommen lassen wollen. Gerade so, wie’s bei der Mafia zugeht. Schutzgeldartig.

Wie auch immer, ich getraue mich jedenfalls zu wetten, sehr verehrte Damen und Herren, dass es österreichweit am Anfang dieses Jahrtausends nicht sonderlich viele Veranstaltungen gab, die annähernd so umsichtig, vorausschauend, lebhaft und vehement waren. Nicht zuletzt dank des forschen Sozialforschers Hans Georg Zilian. Sie werden ihn namentlich, sehr verehrte Damen und Herren, jedoch weder im Bourdieu-Handbuch noch im jüngsten Resümee der Bourdieustiftung genannt finden. Verständlicherweise. Denn er hat sich nicht zugesellt. War selber schnell von Begriff und selber Jemand. Im rechtzeitigen Sozialstaatsvolksbegehren freilich, österreichischen, bourdieuartigen, sah der distanzierte permanente Desillusionierer Zilian wie gesagt das realistischste, handhabbarste, rechtzeitigste, wirksamste Gegenmittel gegen all das, was da kommen werde an Mafia und Halluzination.

Ich gestatte mir, Ihnen, geschätzte Damen und Herren, auch in dem folgenden noch verbleibenden bisschen Überrest an Zeit weiter von ein paar österreichischen Menschenkindern mehr zu berichten, die allesamt nicht im Handbuch stehen. Ich tue das, damit Sie, werte Damen und Herren, sehen, dass Sie das Rad vielleicht gar nicht neu erfinden müssten. Heute und morgen z. B. Sie bräuchten es nur in Gang zu setzen. Es wäre, kommt mir halt vor, alles da, was Sie hier und jetzt brauchen, anno 2019 folgende. Bloß es endlich wirklich in Gebrauch zu nehmen, wäre vonnöten. Sollten Sie allerdings verärgert meinen, ich verfehle die Themen Ihrer Tagung und vergeude unverschämterweise Ihre kostbare Zeit mit Brimborium, Dekoration und Antiquitäten, darf ich Sie, verehrte Damen und Herren, beruhigen. Mit Bourdieu hat das, wovon ich Ihnen auch im Folgenden Bericht geben werde, sehr wohl wesentlich zu tun; substanziell sozusagen; desgleichen mit der Tätigkeit von Bourdieus Raisons d’agir in Österreich vom Jahr 2000 an bis dato. Mit den Reaktionen und Resonanzen auf diese Tätigkeit.

Beispiel 1: Der Pannwitzblick, der Blick des Dr. Pannwitz: Primo Levi, der diesen Blick Überlebende, hat davon Bericht gegeben: Wie der Dr. Pannwitz sich immer die Menschen anschaut. Ob der da oder der da oder ob die da oder die da etwas wert ist und jetzt dann im Betrieb des Direktor Dr. Pannwitz arbeiten wird oder nicht. Dr. Pannwitz entscheidet rational und sachlich, sowohl nämlich als Arzt als auch als Ökonom und als Techniker. Ganz schnell fällt Dr. Pannwitz diese Entscheidung. Routiniert, professionell. Mit einem Blick alles. Bis auf Weiteres Arbeit und Leben sodann oder alles aus und vorbei. Entweder Hilfe und Rettung jetzt oder jetzt, feststehend, der Tod. – Auschwitz, Auschwitz natürlich. Wo sonst? Antwort: überall. Der deutsche Sozialpsychiater Dörner, in seiner Kindheit und Jugend selber naziartig, hat den Pannwitzblick als Schlüssel für das weitergehende Alltagsgeschehen in den Demokratien nach 1945 bis heute hier und jetzt begriffen und benannt. Wie man z. B. Jugendliche sich anschaut und die Kinder bereits schon und die Minderheiten sowieso immer. All die Minderwertigkeit eben überall, auf die richtet sich der Blick des Dr. Pannwitz. Auf all die vermeintlich Minderwertigen überall. Der entscheidende Blick. Hier und jetzt. In der Politik und in der Verwaltung. Und in der Wirtschaft. Und in der Ausbildung. Und beim Helfen eben auch. In den helfenden Berufen. Der Blick des Dr. Pannwitz. Als Gegenmittel gegen besagten ganz selbstverständlichen Dr.-Pannwitz-Blick hat besagter Sozialpsychiater Dörner eine Ethik der Visage, des Gesichts, des Antlitzes sich erarbeitet und zu eigen gemacht und unter die Leute zu bringen versucht. Therapeutisch und politisch. Das Gesicht könne nicht geschändet und nicht zerstört werden. Dem Gesicht könne keine Gewalt angetan werden, das Wichtigste gegen die Gewalt sei immer das Gesicht. Besagte therapeutische und politische Ethik, die der Sozialpsychiater Dörner permanent zu praktizieren sich bemüht hat, ist nicht leicht zu verstehen. Eigentlich gar nicht. Wirkt völlig absurd. Kommt freilich und bekanntlich von jemandem her, der den Faschismus überlebt hat, seine gesamte Herkunftsfamilie verloren hat durch die Nazis. Von Emmanuel Lévinas, für viele der bedeutendste Ethiker des 20. Jahrhunderts. Von diesem hat Dörner gelernt, was los ist und was dagegen zu tun.

Der Österreicher Rolf Schwendter nun wiederum, der Devianzforscher Schwendter, selber durch und durch deviant, immer gerettet durch Zufall, drei Doktorate und eine Professur, Freundschaften, Glück, Frau, Kind, Enkelkind, hat mit dem Sozialpsychiater Dörner viel zusammengearbeitet. Für Schwendter nun waren Die feinen Unterschiede Bourdieus die Auseinandersetzung Bourdieus mit dem Blick des Dr. Pannwitz. Die Analyse nämlich der allgegenwärtigen Blicke zwischen Menschen, sowohl von oben nach unten als auch untereinander. Wie das ist, wenn die Menschen ganz automatisch so schauen wie dieser jener Pannwitz. Täglich, davon handle besagtes Bourdieu-Werk, meinte Schwendter, tun die das und ganz selbstverständlich, z. B. der jeweiligen Rentabilität wegen. Als Kind hat er oft von Flugzeugangriffen geträumt aus dem Nebel heraus auf Brücken in der Nacht im Krieg. Das Lesen hat er sich mit drei, vier Jahren selber beigebracht, indem er Litfaßsäulen entzifferte. Seine Eltern waren sehr einfache, zerbrechliche Leute. 1968 wäre er fast zugrunde gegangen. Es war eines der anstrengendsten und bedrohlichsten Jahre seines Lebens, er hatte kein Geld, keine Unterkunft, nichts zu essen, keinerlei Schutz oder Sicherheit, war schwer abhängig und sich gewiss, verloren zu sein. Aber dann hat er, auf Anregung Rudi Dutschkes hin, die Gegengesellschaften erforscht, die Gegenmilieus, sozusagen die Gegenökonomien, die Gegenuniversitäten, die Gegenkulturen, die Gegeneliten, die Gegenöffentlichkeit und ihre Gegenmedien. Hat immer alles gesammelt, was es gab und sich tat. Die Subkulturen und ihre Hoffnungen. Zeit seines Lebens ist Schwendter stets schutzlos im Regen gegangen, als junger Mensch stundenlang darin gelegen. Z. B. dafür ist er bekannt gewesen, für sein Gehen im Regen. Schutzlos und stoisch zugleich. Stoisch schutzlos. Übrigens kommen die Begriffe Vernetzen, Netzwerke im Deutschen von Rolf Schwendter her und der Dichter Erich Fried, der Gewaltforscher Galtung, der Zukunftsforscher Robert Jungk, der Sexualforscher Borneman waren wirkliche Freunde von Schwendter, Joseph Beuys und Schwendter waren auch wirklich befreundet. Auch war just der seltsame Schwendter oft Vertrauens- und Verbindungsmann in und zwischen Gruppen. Die Sozialbewegungen würden sich alle viel leichter tun und viel mehr zustande bringen, würden die Leute darin einander mehr mögen, pflegte er unter die jeweiligen Leute zu bringen. Das wäre die Lösung. Das Konkurrenzprinzip müsse wo nur irgend möglich außer Kraft gesetzt werden. Wenn sich jemand über diese Ansicht lustig machte, nämlich wie das gehen solle, sagte Schwendter: Jeder sollte sich 15 Minuten lang alleine überlegen, wen er warum nicht mag, und dann soll offen und gemeinsam darüber geredet werden. Immer gemeinsam darüber reden jeweils sei das Wichtigste. Dass Pierre Bourdieu das Konkurrenzprinzip wie und wo nur möglich außer Kraft zu setzen riet und sich mühte, genauso wie eben auch Schwendter das sagte, gefiel Letzterem außerordentlich. Theatermensch, Dichter und Sänger war er bekanntermaßen auch. Seine Kindertrommel freilich nur konnte er spielen. Die reichte aber bekanntlich vollauf. Als Anfang 2000 Bourdieu für Wien angesagt war, nicht kam, in Abwesenheit die Halle dennoch füllte und damals in einer berühmt gewordenen kurzen Rede Österreich per Video zum Vorreiter im europa- und weltweiten Kampf gegen den Neofaschismus und den Neoliberalismus erklärte, war Schwendter einer der vortragenden Redner auf der österreichischen Seite. Übrigens: Wie wichtig für Bourdieus Ökonomie- und Ethnologieverständnis der – jüngst hier in Wien in der AK wiederentdeckte – österreichische Ökonom Karl Polanyi von Anfang an und immer war, hat Rolf Schwendter damals, anno 2000, sei es gewusst, sei es trefflich erraten. Gestimmt hat es jedenfalls. Und später dann einmal überlegte er sich, was Bourdieu mit Galtung, mit Gramsci, Ivan Illich, Erich Fromm und Adorno zu tun haben könnte, mit Paul Feyerabend, mit Bloch, mit Paulo Freire, mit Foucault sowieso, mit Frantz Fanon, mit Rosa Luxemburg und so weiter und so fort. Schwendter arbeitete im Geiste erklärtermaßen an einer Art einfachem Alternativlehrbuch voll der Alternativdenker und Alternativdenkerinnen. Denn die werden ja in den Mittelschulen allesamt nicht unterrichtet, in keinem Fach stehen die auf dem Lehrplan, an den Unis ja auch nicht wirklich. Und die Alternativdenker und Alternativdenkerinnen des 20. Jahrhunderts irgendwie verbinden auch mit Bourdieu wollte er. Die Alternativdenkerinnen und die Alternativdenker verbinden mit Ideen und Praxeologien von Bourdieu. Und die mit dem Alternativnobelpreis Ausgezeichneten auch. So etwas also hatte er vor, der Rolf Schwendter. Ein einfaches AlternativdenkerInnenlehrbuch für Schulen aller Art und zwar just gegen das, was Bourdieu Klassenrassismus und Rassismus der Intelligenz genannt hat, hatte Schwendter da vor. Koch war er bekanntlich auch, ein sehr guter, denn er mischte und verband gerne Überreste und Übrigbleibsel aller Art, nach armer Leute Art tat er das: Alles ist nutzbar. Aus allem, was da ist, was machen. Ja nichts wegwerfen! Niemanden wegwerfen! Keinen Menschen. Alles hat Wert, jeder.

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9783990471173
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