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Intervention 9. April 2020

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler!

Mir ist bewusst, dass ich mich mit meinen Meinungen und Fragen sehr unbeliebt machen werde, zumal unsere Regierung zweifellos aus sehr guten Gründen sehr beliebt ist. Es ist aber meinerseits eine Sache des Gewissens. Die Regierungsverantwortlichen sagen ja ständig, es gehe jetzt einzig ums Leben retten, ums Existenzen retten, um nichts sonst. Und die jetzige Situation sei in der Geschichte ganz einfach noch nie da gewesen und daher seien Fehler ganz einfach unvermeidbar und man tue jetzt – immerfort dazu lernend – ja außerdem ganz gewiss das Menschenmögliche und Bestmögliche. Und offen und ehrlich sei man sowieso.

Es ist jedoch meines Erachtens völlig falsch, wenn dadurch politiker-seits so getan wird, als müsse man in den jetzigen Extremsituationen das Rad in einem fort neu erfinden und dabei mache man eben notgedrungen immer wieder etwas falsch. Das gehe gar nicht anders. Mit Verlaub: In Wahrheit ist das Rad längst erfunden. Jede Menge von im Moment noch tadellos intakten Rädern. Denn sehr viele Ausübende der helfenden Berufe arbeiten und leben tagtäglich – sozusagen seit jeher – gemeinsam mit den ihnen anvertrauten Menschen in extremen Extremsituationen und wissen sehr wohl, was in solchen Problem- und Extremsituationen zu tun ist. Und vor allem was man hingegen ganz gewiss n i c h t tun darf. Es gibt also für uns alle lebenswichtige Teilbereiche unserer Gesellschaft, die sozusagen immer schon im Guten wie in der Wahrnehmung des Schrecklichen unserer Zeit und Situation jetzt weit voraus waren. Im Richtig-Handeln. Im Nicht-Davonlaufen. Im Nicht-im Stich-Lassen. In der Fürsorglichkeit. In der Vorsorglichkeit. Es gibt daher z. B. bewährte, präventive, prophylaktische Helferstandards. Aber gerade diese bewährten Sorgfaltspflichten werden absurderweise von der angeblich Leben und Existenzen rettenden Politik gerade jetzt gebrochen und außer Kraft gesetzt. Nicht von Coronaviren, sondern von Politikerideen.

Sie werden mir gewiss widersprechen, sehr geehrter Herr Bundeskanzler. Dennoch: Das Rad ist längst erfunden. Die Politiker sollten es jetzt bloß nicht kaputtmachen. Tun die aber. Weil die selber nicht wirklich kapieren, wie das Rad funktioniert. Z. B. 1. Die richtige, wirklich schützende Handhabung der Masken kapieren die nicht. Z. B. 2. Das Grausamkeitsverbot bei der Pflege von Menschen kapieren die nicht. Z. B. 3. Was Fehlerkultur bedeutet, kapieren die nicht. Und z. B. 4. Schon gar nicht kapieren die, was an Lebenswichtigem die Wissenschaft bedeutet, die Redlichkeit der Wissenschaft nämlich, und was an Lebenswichtigem die offene Gesellschaft bedeutet oder an Lebenswichtigem gar die österreichische Verfassung. 5. Die kapieren nicht, dass die das Gegenteil von dem tun, was die sagen. Oder die wollen nicht kapieren, dass die das Gegenteil von dem tun, was sie sagen.

1.

Denn die von Ihnen, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, verordnete Maskenpflicht ist gewiss richtig und eine Hilfe. Massenweise völlig falsch und schädlich ist jedoch die tatsächliche Handhabung der Masken. Gefährlich falsch handgehabt werden die Masken aber nicht etwa von sogenannten bildungsfernen Menschen, sondern die Parlamentarier selber, etliche (zu sehen so in jeder Nationalratssitzung), und ebenso regelmäßig der Herr Bundeskanzler, der Vizekanzler, der Gesundheitsminister verwenden die Masken ganz automatisch falsch und werden dadurch Gefährder. Gefährliche Vorbilder für die Bevölkerung. Denn die Masken funktionieren nach dem Prinzip Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem anderen zu. Meine Maske schützt also meine Mitmenschen und meine Mitmenschen schützen andererseits mich dadurch, dass sie ihre Maske tragen. Nur so haben die Masken Sinn und Zweck. Bislang sind die Masken aber großteils unsachgemäß verwendet und auch unsachgemäß verteilt worden, nämlich verunreinigend. Und gerade auch das falsche Aufsetzen und falsche Abnehmen der Masken dann verunreinigt bei den meisten Menschen die Hände durch die Berührung des eigenen Gesichtes, nämlich der Nase und des Mundes. Und mit den durch Nase, Mund, Gesicht verunreinigten Händen, egal ob an denen Handschuhe getragen werden oder nicht, werden dann im Supermarkt die Lebensmittel begrapscht. Jedenfalls: Obwohl und gerade weil die Maske aufgesetzt ist, müsste richtigerweise die Regel, dass man sich ja nicht ins Gesicht greifen soll, eingehalten werden. Denn Gesicht = Maske. Die Leute glauben aber offensichtlich, Maske und Handschuhe seien eine Art Rüstung. Sind die aber nicht.

Und die angebliche und propagierte Wiederverwendbarkeit der Masken führt offensichtlich dazu, dass sie nicht bloß im Supermarkt unhygienisch gehandhabt werden, sondern auch am Heimweg und beim Betreten der Wohnungen. Zuerst vor Mund und Nase hat man die Maske und dann trägt man sie offen heim als Virus-Dreckschleuder um den Hals, so kommen die Leute daher, und eben mit ihren durchs falsche Runternehmen der Maske verunreinigten Händen. So machen die Leute dann z. B. die Haupttür im Gemeindebau auf. Oder fahren Bus. Oder gehen zur Arbeit. Oder arbeiten. Und die Politiker in Parlament und Regierung machen das zuhauf genauso. Und da wissen die eben nicht, was die tun. Und das ist, kommt mir vor, durchaus unheimlich, auch weil man sich fragen muss, ob die Regierenden auch bei anderem Lebenswichtigem oft nicht wissen, was sie tun. Wie ja bei der verwirrenden und wieder zurückgenommenen Osterbesuchsverordnung man befürchten hat müssen. Warum muss man, Frage an Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, zuerst ewig lange etwas völlig falsch machen, wenn man es sofort richtig machen kann? Und vor allem, warum lässt man die Bevölkerung dermaßen ungeschult gerade dann in gemeinsamer Berufsarbeit und in öffentlichem, gemeinsamem Raum?

2.

Die Frau, die mit ihrer 90-jährigen Mutter seit Tagen nicht telefonieren kann, weil die Pflegeverantwortlichen das nicht wollen. Die Mutter ist aus einem Corona-verseuchten Pflegeheim evakuiert worden und das Heim zugesperrt. Die Mutter ist inzwischen wiederholt getestet worden, laut Auskunft der Pflegeverantwortlichen, und nach wie vor Corona-frei. Man stellt aber kein Telefon zur Verfügung und das eigene Handy der Mutter ist bei der Evakuierung verloren gegangen. Darf das sein, dass Mutter und Tochter nicht einmal telefonieren können miteinander? Das von der Regierung erlassene allgemeine Besuchsverbot, die sogenannte soziale Distanz, die de-facto-Isolation wurden unter seelischen Qualen von Mutter und Tochter selbstverständlich eingehalten und selbstverständlich mittels Telefon auszugleichen versucht. Die Mutter war nämlich in kein Heim abgeschoben worden, sondern das für sie irgendwie angenehmste Heim war ausgesucht worden und sie war selbstverständlich immer besucht worden und das geschah voller Liebe und ist lebens- und geisteswichtig für die Mutter. Man hat sich familienseits dann aber jedenfalls an alles gehalten, was die Regierung samt Parlament beschlossen und verordnet hat. Aber die Regierung samt Parlament – die, die haben sich nicht daran gehalten, dass der Schutz von Pflegepatienten und Pflegepersonal wirklich unverzichtbar gewährleistet sein muss. Die Pflege in den Heimen erfolgt stattdessen ohne annähernd ausreichendes Schutzmaterial und wohl auch unkontrolliert, was die Hygienestandards betrifft zum Zweck der Infektionsprophylaxe. Also erzwungenermaßen fahrlässig wurde das Pflegesystem. Tendenziell bis ganz und gar. Hat man den Eindruck. Die Heime wurden offensichtlich für sehr viele Menschen zunehmend geschlossene Anstalten und Verzweiflungsorte, für die Bewohner eben, für die Familienangehörigen und für die professionell Pflegenden. Zuvor und zugleich hat die österreichische Corona-Regierung Informationswerbesendungen im ORF geschaltet en masse mit glücklichen vernünftigen Omas und ebensolchen Enkelkindern. Und die Politiker erzählten und erzählen öffentlich immer, dass auch sie selber, Lebensretter eben, auf ihre Kontakte verzichten mit ihren Eltern und Großeltern. Die, hoffe ich, daheim und geborgen sind. An dem ganzen Vorgehen, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, ist, kommt mir vor, etwas Unrechtes, Gewaltsames und Grausames. Den Bedürftigen gegenüber. Den Heimbedürftigen nämlich, die sowohl das Heim brauchen als auch ihre Lieben aus der Familie. Öffentlich redeten und reden die Politiker zwar immer gegen Triagen, die wolle man nie und nimmer und verhindern müsse man die Triagen mit allen Mitteln und ja die alten Menschen schützen. Zugleich jedoch haben die verantwortungstragenden Politiker offenkundig falsch triagiert: nämlich: die Schutzmasken in die falschen Hände in den Supermärkten und hingegen keine Schutzmasken für die Pflegenden. Die Regierung hat, entgegen den üblichen Triageregeln bei Pandemien, nämlich dass im Interesse der gesamten Bevölkerung die Systemwichtigen besonders geschützt werden müssen, also z. B. Gesundheits-, Pflege- und Supermarktkräfte, diese Kräfte lange oder nahezu völlig ungeschützt gelassen. Was geschehen ist und weiterhin geschieht, war zweifellos absehbar. Den angerichteten Schaden an Leib und Leben, wer kann den wiedergutmachen? Der Pflegenotstand, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, war vor Corona da. Dann kam Corona. Und von der Regierung nichts.

3.

Unser aller Begriff der Offenen Gesellschaft genauso wie der der Verschwörungstheorie stammt bekanntlich von Popper. Ebenso, jedoch unbekannt und nahezu ungebraucht, der Begriff Grausamkeitsverbot. Den Poppperschen Begriff Stückwerktechnik hingegen kennt man öffentlich und der ist gerichtet gegen verantwortungslose Experimente in der Realität von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Worüber öffentlich zumeist nicht geredet wird, ist Poppers Fehlerkultur. Diese Fehlerkultur ist aber wesentlich für die offene Gesellschaft in Poppers Sicht. Die Sätze, die wir sprechen, hat Popper in Analogie gesehen zu den Sätzen, die Affen von Baum zu Baum tun. Ist der Satz falsch, ist der Affe auf der Stelle tot oder bald. Durchs Reden ersparen wir Menschen uns also Leid und Tod. Lassen unsere falschen Vorstellungen, unsere falschen Sätze, unsere Fehler eben an unserer Stelle sterben. Können dadurch überleben. Popper verlangte daher konsequente Fehlersuche. Kritik war für ihn also das Unterscheiden zwischen Leben und Tod. Zur Popperschen Fehlerkultur gehört in der Folge, dass gerade nach denjenigen Argumenten und Experten gesucht wird, die nicht der Meinung sind, der man selber ist. Diskussionssendungen sind heutzutage aber eher so beschaffen, dass immer nur ein Expertenmensch für ein bestimmtes Fach eingeladen wird. Der Expertendissens bleibt öffentlich unausgetragen. Diesen zu erwähnen wird eher den Moderatoren oder den Politikern überlassen. Richtig ist das so aber nicht in einer offenen Gesellschaft, nimmt man Popper ernst. Zum Beispiel in dieser Sendung hier heute, fehlen Ihnen allen da nicht die Gegenexpertinnen zum Zweck der lebhaften Wahrheitsfindung? Und erst recht die Verfassungsrechtler. Damit verbunden folgende Frage: Sehen Sie, Herr Bundeskanzler, Ihre Politik popperianisch, also als konsequente rechtzeitige lernbereite Fehlerkorrektur und – wenn ja – kennen Sie zu diesem Zweck andererseits die Dörner-Experimente? Auch die sind Fehlerkultur. Diese Experimente gibt es seit über 50 Jahren und diese dienen der Schulung von politischen, ökonomischen und technischen Eliten in schwierigen, extrem komplexen Situationen. Die werden computersimuliert. Z. B. eine Stadt in der BRD mit hoher Arbeitslosigkeit. Oder z. B. ein Entwicklungsland mit hoher Sterblichkeit. Oder z. B. die ursächlichen realen Geschehnisse der Tschernobyl-Katastrophe. Das Seltsame an diesen sehr seriösen Experimenten ist, dass die allermeisten Versuchspersonen scheitern. Und je mehr Fehler sie machen, umso herrischer und uneinsichtiger werden diese Versuchspersonen, egal ob männlich oder weiblich. Die letztlich lebensgefährlichen Fehler kommen dabei oft daher, dass man diese Fehler im Routinealltag immer mehr und mehr zugelassen hat und die Grundregeln außer Kraft gesetzt hat und so immer weiter in die nicht mehr bewältigbare tödliche Ausnahmesituation gerät. In die Katastrophe dann eben. Und das war es dann eben. Tschernobyl z. B. Sind wir zurzeit, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, in einem solchen gewaltigen realen Dörnerexperiment seitens der Regierenden? Und: Aus welchen eigenen Fehlern haben Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, gelernt, z. B. aus der falschen Handhabung der Masken, z. B. aus der falschen Triage zum Schaden der zu Pflegenden und der Pflegenden, z. B. aus dem jahrelangen Ignorieren des Pflegenotstandes? Haben Sie daraus gelernt, mit Verlaub gefragt? Und zwar der Zukunft wegen. Z. B. was die künftige Arbeitssicherheit betrifft. Dass also die Menschen wieder in Arbeit kommen. Zugleich aber, dass sie dadurch weder an Leib noch an Leben Schaden nehmen. Diesem Zweck dienen, vermute ich, die von Ihnen, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, forcierten und propagierten Masken, Apps und Tests. Bislang hatte es allerdings immer geheißen, dass Gefährdete und Kranke besonders geschützt werden oder eben gar nicht in Arbeit gezwungen werden. Systemwichtige Arbeitskräfte werden jetzt aber von Ihnen per Verfassungs- und Menschenrechtsbruch vom Schutz ausgenommen. Die müssen krank arbeiten. Corona hin, Corona her. Meine vertrauensvolle Frage an Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, fern von Verfassungs- und Menschenrechtsbruch wäre eigentlich gewesen, ob die Menschen, die jetzt nach Ostern wieder in Arbeit geschickt oder gelassen werden von Ihnen, zuvor wenigstens gesundenuntersucht werden? Z. B. mittels simpler Blutbilder. Irgendwie wie bei der Stellung beim Militär. Zumal ja jetzt angeblich irgendwie Krieg ist durch Corona. Einfache Gesundenuntersuchungen. Da braucht’s keine Coronaabstriche, kommt mir vor. Ich meine die Frage ernst. Und sie ergeht, bitte, auch an die Virologen. Genauso die Frage, ob das Ganze nicht doch – obwohl die Regierung dies ebenso bestreitet wie die realen Triagen – hinausläuft de facto auf Herdenimmunisierung. Der deutsche Virologe Schmidt-Chanasit hat einer solchen vor kurzem das Wort geredet. Es gehe gar nicht anders. Man müsse da durch. Die Jungen zuerst. Durchaus im Lebensinteresse der Wirtschaft, die wir ja alle seien. Meine Frage auch an die Virologen: Sollte in Österreich eine Herdenimmunisierung entgegen allen Kurzschen Beteuerungen in Wahrheit doch angepeilt werden, kann man eine solche Herdenimmunisierung geplant und kontrolliert durchführen, sozusagen unter medizinischer Kontrolle und Obhut? Und noch eine medizinische Frage, deren Nein-Antwort mir zwar klar ist, ich stelle sie aber trotzdem: Gibt man zuhause zu spät Sauerstoff? Könnte ein früheres Sauerstoff-Geben den Verlauf mildern? Oder würde es den verschlimmern? Im Hintergrund steht wieder das Problem der Triage. Gibt’s genug Sauerstoff für daheim und wer hilft bei der richtigen Handhabung?

Fragen an den Kanzler. Video-Diskussionsbeitrag für Talk 1, ORF

Intervention 5. Oktober 2019

Die Frau, die auf der Dialyse starb, ich rannte, sie reagierten nicht, ich rannte um den Notkoffer, rannte. Der Mann der Frau holte die Frau oft ab. Er liebte sie. Ich glaube, er holte sie an dem Tag auch ab, ich weiß es nicht mehr. Ich glaube, er kam an dem Tag und wusste von nichts. Nein, ich sah ihn nicht an dem Tag. An einem anderen, glaube ich, später einmal noch, da ging er auf die Station, kurz. Einmal sah ich ihn dann später noch, ich wusste nicht, ob ich ihm sagen soll, wie seine Frau gestorben war. Ich tat es nicht. Ich überlegte mir auch, ob ich ihn anrufen soll. Tat ich auch nicht. Heute, Jahre später, in diesem Augenblick erst fällt mir ein, dass das vielleicht ein Unrecht war, dass ich ihm nicht erzählt habe, wie seine Frau gestorben war. Aber ich wollte ihm etwas ersparen. Auch später dann. Es war ein Unfall, ein Unglück. Es war ein sanfter Tod, schien mir, einer wie im Schlaf. Das hätte ich dem Mann sagen können. Das hätte es ihm vielleicht leichter gemacht. Aber es war nicht die Wahrheit. Gewiss, die Frau starb sehr leicht, und jedem Menschen wohl ist ein solcher Tod zu wünschen, sanft war der und nicht grausam. Aber es ist nur die halbe Wahrheit. Und wie ruhig seine Frau gestorben war, das hätte ich ihm damals, weil ich dabei gewesen und gerannt war, gar nicht so sagen können, ihrem lieben Mann, obwohl es wahr war. Die Frau starb sanft und schnell, aber was sie brauchte, war nicht da. Die Rettungswerkzeuge nicht und die rettenden Menschen auch nicht. So war das nun einmal. Sie ist sanft entschlafen. Aber was nötig war an Menschen und Material, stand für sie nicht zur Verfügung. Es ging zu schnell. Das Notwendige war nicht da. Es hätte aber da sein müssen. Was der Frau geschah, war aber ein Unglücksfall. Aber unvermeidbar war der Unfall nicht. Es wäre möglich und Vorschrift gewesen. Die Frau auf der Dialyse war, bin ich mir sicher, selber überrascht. Sie sackte schneller ab, als dass sie etwas sagen konnte. Sie meldete sich meistens rechtzeitig. Sie sackte oft ab, aber selten von sich selber unbemerkt. Das Selberum-Hilfe-rufen-Müssen war der grundlegende Fehler auf der Station. Es gab keinen Alarmknopf. Aber ich weiß auch nicht, ob sie am letzten Tag ihres Lebens schnell genug gewesen wäre, einen Alarmknopf zu drücken. Aber es gab gar keinen für sie. Aber es hätte einer da sein müssen. Für alle, für jeden ein eigener. Ich war da. In der anderen Dialysestation, in der neuen, in der des besten Arztes, den ich kannte, auf Bleiblers Station, gab es das alles, die Sicherheitsvorkehrungen, die Menschen, das Material. Die von jeder Stelle aus einsehbaren Behandlungsräume. Und dass nicht in jedem Dialyseraum eine Schwester ständig zugegen war, war ja auch falsch gewesen in der alten Dialysestation im alten großen Spital. Ich war da, rannte. An dem Tag damals hatte die Frau sich beim Dozenten Meier beklagt, dass sie in letzter Zeit während der Dialysen fast jedes Mal Krämpfe im Unterleib bekomme. Ich weiß nicht, ob der Dozent ihr daraufhin etwas geben ließ. Ich glaube, er sagte, sie werde etwas dagegen bekommen. Vielleicht auch genierte sie sich, weil ich im Raum war. Aber das glaube ich nicht. Denn im anderen Raum, wo sie sonst immer gewesen war, hatte sie meines Wahrnehmens nie von solchen Krämpfen berichtet. Hier getraute sie es sich. Ich war, glaube ich, stets dezent und diskret, sonst hätte ich meinen Ort dort auf der Station verloren; ich war, bilde ich mir ein, hilfsbereit, zuvorkommend, unaufdringlich und so unauffällig wie nur möglich. Ja, doch, war ich. War unsichtbar genug. Und immer da eben. Die Schwestern, Pfleger, die Ärzte gaben die Glocken nicht her, und das war falsch. Und ich, ich bin mir sicher, dass ich es sofort wahrgenommen habe, als die Frau kollabierte. Sie schaute in den Fernseher. Lächelte. Wirkte müde. Ich ging ein paar Schritte näher zu meiner Mutter hin. Mehr noch weg aus der Raummitte. Schaute ein paar Augenblicke in den Fernsehapparat die paar Schritte lang und die paar Augenblicke auf die Mutter zu, dann auf die Anzeigen auf der Dialysemaschine meiner Mutter. Dann schaute ich wieder zur Frau hin, automatisch. Eine halbe Minute vielleicht, aber gewiss keine Minute war vergangen, seit ich das letzte Mal zu der Frau hingeschaut hatte. Ich redete die Frau an, sie reagierte nicht, ich lief zur Schwester. Die kam gelaufen, schaute die Frau an, schickte mich weiter. Die Schwester war selber gerade vorher noch im Raum gewesen, durch den gegangen, hatte zu den Patientinnen geschaut. Die Frau hatte hier im mittleren Raum mit dem Gesicht zum Fernsehapparat liegen wollen, weil sie in den hineinschauen wollte. Das war, weiß ich jetzt, gefährlich, weil man dadurch nicht sofort in ihr Gesicht schauen konnte. Die Schwestern und Pfleger konnten das nicht, wenn sie durch den Raum schauten. Ich konnte das damals. Schaute ins Gesicht. Keine Minute war vergangen. Drei, vier Schritte und ein paar Augenblicke, mehr nicht. Die Frau hat keine Hilfe bekommen. Doch. Die Hilfe hat sie aber nicht mehr erreicht. Weg war die Frau, die war einfach weg. Die Leute waren nicht da, weg waren die, der Notfallkoffer nicht da und auch kein Arzt da. Ich lief, lief. Die Frau, ich weiß nicht mehr, ob sie die Augen offen oder geschlossen hatte, als sie nicht mehr ansprechbar war. Ich bilde mir ein, sie waren offen. Ja, sie waren offen. Ich sagte etwas zu ihr, fragte, sie reagierte nicht. Die Augen waren offen. Die Frau starb am Tod, das war es einfach. Es ist nicht einmal gewiss, ob man noch Tage hätte gewinnen können. Und doch ging es ihr meines Wissens sehr gut bis damals. Sie war, soviel ich immer mitgehört hatte, in einem guten Allgemeinzustand und hatte meines Wissens zusätzlich zur Grunderkrankung an keiner anderen schweren Erkrankung zu leiden. Ich glaube, ihre Augen waren offen und leer. Die Frau und der Dozent hatten zufällig denselben Namen. Meier bloß. {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, II 14ff.}

Das Großkapitel aus dem Band Furchtlose Inventur, zu dem diese Stelle gehört, trägt die Überschrift: Von einer Dialysestation, auf der ein Pfleger gewissenhaft arbeitete, aber eineinhalb Jahrzehnte nach der berichteten Zeit schuldig gesprochen wurde, weil 2005 ein Patient während der Dialyse gestorben war. Die Richterin bedauerte, das Urteil fällen zu müssen, denn statt des Pflegers sollten sich die Ärzte, die Verwaltung und die Politik vor dem Gericht verantworten müssen. Doch so weit reichten die Gesetze nicht, sagte die Richterin.

Als in der Stadt auf dem [großen P]latz die Demonstrationen stattfanden, damit das [...] Kraftwerk nicht gebaut wird, fand sich, wenn einer gegen die Demonstranten redete, sofort jemand, der sie in Schutz nahm und die Beleidigungen und die Handgreiflichkeiten abwehrte. Die Leute nahmen einander damals wirklich in Schutz. Das beeindruckte mich. Ein Esel stand am [...P]latzbrunnen und Stroh lag herum. Ein älterer Mann mit schneeweißem Haar packt ein junges Mädchen von hinten, drückt die junge Frau in die Richtung des Esels, als sie gegen das Kraftwerk reden will. Ein Esel bist du! Zum Esel gehörst du!, schreit er und stößt sie. Sie sagt: Sie sehen doch die Bilder in der Zeitung, was die Polizisten mit uns machen. In dem Moment packt sie der Mann nochmals. Ein Mann sagt zu dem Mann mit dem schneeweißen Haar, der solle sich schämen, fragt, was der tun würde, wenn seine Tochter von jemandem so behandelt und so beleidigt würde. So angegriffen, sagt er. Das solle der sich einmal überlegen. Eine Frau antwortet an dessen Stelle, es sei schon möglich, dass die Umweltschützer recht haben, aber der Mann mit den schneeweißen Haaren könne viel besser reden. Die jungen Leute da hier können nichts!! Gar nichts!!, sagt sie. Aus einer Pensionistengruppe, alte Gewerkschafter, ruft ein kleiner dicker Mann einer Frau etwas zu, als sie sagt, dass die jungen Leute hier sehr wohl sehr viel zustande bringen. Aufgetakelte Schlampe, schreit der dicke kleine Mann der Frau zu, grinst sie an. Die Frau zuckt zusammen. Halt deinen Schlampenmund, setzt der dicke kleine Mann nach, grinst dreckig. Die Frau kann sich nicht mehr aufrichten. Ein dicker Mann kommt ihr zu Hilfe, sagt etwas ihr zum Schutz und dann etwas gegen das Kraftwerk. Von den Gewerkschaftern schreit ihn einer an: Schäm dich, wie fett du bist. Ich würd’ mich schämen, hier was zu reden, wenn ich so fett wär’ wie du. Wenn’s euch Ausgfressnen wirklich ernst wär’, würdet’s nicht da sein demonstrieren, sondern wäret’s draußen in der Au bei denen und würdet’s mit denen z’sammen die Au vollscheißen. Der Gewerkschafter neben ihm schreit: Die Au wollen’s schützen. Vollscheißen tun sie’s in Wahrheit. Ein anderer Gewerkschafter schreit: Dort kommt nie wer hin. Die wollen, dass dort nicht gebaut wird, obwohl dort nie ein Mensch hinkommt. Jetzt sind die dort und scheißen alles voll. Ein kleiner zierlicher Mann stellt sich dagegen, sagt: Ich bin Bauingenieur und gegen das Kraftwerk. Der Gewerkschafter, der die Idee mit dem Vollscheißen gehabt hat, schreit dagegen, das halbe Gesicht nur Zähne: Ingenieur bist du? Eine Schande bist du! So was ist Ingenieur. Schaut’s euch den an! So was ist Ingenieur! Der Ingenieur knickt ein. Die Gewerkschafter lachen alle. Ein alter Mann sagt, die Demonstranten müssen auf sich aufpassen, hier sei es wie 1934, es sei ihnen damals genauso gegangen. Er bekomme Angst. Ein junger Mann versteht den alten Mann falsch, sagt aufgebracht: Wir schreiben 1984. Lassen Sie uns endlich mit der Nazizeit in Ruhe. Der alte Mann entschuldigt sich, das sei ein Missverständnis, der junge Mann entschuldigt sich nicht. Nazischweine, sagt der junge Mann [...] Ein paar Wochen später dann war ich mit Trixi beim Vortrag des Außenministers. Damals war er bloß Parteivorsitzender und er verspottete, dass der rote Parteivorsitzende, der damals der Kanzler war, Die Partei ist mein Leben. Ohne Partei bin ich nichts gesagt hatte. Der schwarze Parteichef erklärte im Hörsaal, wie es in Zukunft weitergehen werde; ich verstand nicht viel, weil seine Sätze am Satzende nicht mehr zum Satzanfang passten. Das ging unentwegt so. Ihm gefiel das aber, kam mir vor. Vor mir in den zwei Reihen saßen Burschen, drei und zwei. Bei irgendetwas von dem, was der schwarze Parteivorsitzende redete, bildete der eine von den zwei Burschen mit dem Daumen und dem Zeigefinger der rechten Hand eine Pistole, setzte sie einem Burschen vor sich ins Genick, drückte ab und sagte: Bumm, und der vor ihm schüttelte sich und stürzte im Sitzen nach vorne. Sein Kopf lag auf der Schreibbank, seine Arme hingen darüber. Der Mund stand offen. Die vier feschen Burschen lachten und der fünfte mit dem offenen Mund auch. Es war ein lehrreicher Vortrag. Burschenschafter die Burschen. Ich weiß nicht, wen und was sie gemeint haben. Auch kann man nicht immer etwas für seine Zuhörer. {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, I 234ff.}

Die zitierte Stelle gibt Ereignisse aus den Jahren 1984/85 wieder und stammt aus dem Band Lebend kriegt ihr mich nie. Daraus auch wie folgt:

Einmal, ich war sieben Jahre alt [– 1968 war das –], wollte ich nicht mit meinem Vater in die Kurstadt des Kaisers mitmüssen, ich war nur mehr Angst, reine Angst, so lange würde ich dort allein sein müssen mit ihm, niemand mit. Und da habe ich ihm, damit er nicht fahren kann und damit wir daheim bleiben, das Abführmittel, das ich fand, die ganze Packung in sein Mineralwasser gegeben. Sind trotzdem gefahren, blieben nur dauernd stehen [...] In der Kurstadt des Kaisers und der Künstler war ich mit dem Vater [dann] allein [...] und krank. Der Vater verbot mir zu husten. Ich brach gegen meinen Willen vor der Komponistenvilla zusammen. Ich hatte nicht mit hinfahren wollen ins Touristenparadies. Ich durfte im Offiziersheim niemanden stören mit meinem Husten [...] Wenn ich hustete, tat er das Übliche mit mir. Es war nicht lustig. Er riss an mir, warf mich, ich musste beim Husten meinen Mund auf die Matratze pressen und, wenn ich auf dem Rücken lag, das Kissen fest an meinen Mund. Als Kind hatte ich oft viel Husten. Gegen das Husten musste ich eine geschickte Art des Atmens finden und besonnen sein. Das war nicht ohne Strapazen möglich, dann schaffte ich es doch nicht, musste loshusten, weil ich innerlich etwas überschritten hatte und auch zu viel von draußen da war. Das ist so, wenn man nicht husten darf. Da darf man auch nicht alles atmen. Man muss innen alles absuchen, da ist aber nichts. Wenn mein Vater anwesend war, durfte ich nie husten. Ganz einfach war das geregelt. Die Selbstbeherrschung war so [...] Blödes Herumgerenne, Monarchievillen. Die blöden Führungen drinnen. Ein bisschen auf einem Hügel oben brach ich dann zusammen, purzelte und [...] blieb unten ohnmächtig liegen. Die Wirtin im Offiziersheim, [die Pensionsleiterin] oder wie sie hieß, sagte neben mir zum Vater, als ich wieder bei Besinnung war und wir gerade wieder zurückgekommen waren und ich gerade Ruhe vor dem Vater hatte, weil er über meinen Zusammenbruch und das Aufsehen erschrocken war: Der Bub ist so laut im Zimmer. Das darf nicht sein. Er macht zu viel Lärm. Sie schaute mich an und sagte zu meinem Vater, dass ich solchen Lärm mache im Zimmer. Ich hatte eindringliche Schmerzen und Husten hatte ich zum Ersticken, hustete in ihrer Küche die ganze Zeit über aber keinen einzigen Laut. Der Bub muss endlich still sein, sagte die Wirtin im Offiziersheim trotzdem zu meinem Vater. Die Frau hatte weißes Haar, war schlank und sehr gerade, trug Beinkleider. Sie bewegte sich sehr schnell und schaute jedes Mal an mir vorbei, wenn wir einander begegneten. Der Vater und ich und sie gingen aus ihrer Küche. Das muss klar sein, sagte sie im Gehen. {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, I 40ff.}

Aus den Tagebüchern 2004–2011:

Tag, Monat, Jahr

Bin zufällig in einer Gruppe Anonymer Alkoholiker. Bin zutiefst beeindruckt. Von den Leuten da. Diese Unaufdringlichkeit, Bescheidenheit, Hilfsbereitschaft, Verlässlichkeit! Die AAs erzählen einander ihre Leben und wer wofür gut war. Sie sind nicht zerstört worden. Von den Zufällen, den Augenblicken erzählen sie. Vom Glück statt vom Schicksal. Menschen, die schon alles verloren oder zerstört haben, plötzlich einen lieben Menschen nicht verlieren wollen, die Frau, das Kind. Oder die plötzlich nicht dermaßen entstellt aufgefunden werden wollen. Oder irgendjemand fällt ihnen plötzlich noch ein, ein Gesicht. Ein geliebter Mensch. Zwischendurch ist das Ganze religiös. Aber das ist gut so, nur so ist Religion gut. Die AAs helfen einander, sind da, wenn sie gebraucht werden. Da ist jemand, ganz sicher, immer, egal, was geschieht. Man ist nicht allein, nützt niemanden aus, bringt einander nicht um. Die anderen und der lebendige Gott und die Gewissenserforschung geben den Halt und alle Sicherheit. Die ersetzt, ersetzen die Sucht. Die[se] AAs [da] finden diese Art Gott wirklich plötzlich, die Erlösung, das Leben. Was mich besonders beeindruckt, ist das, was die AAs furchtlose Inventur nennen. Da erforschen sie, was sie selber anderen angetan haben. Antun, in der Sucht, durch die Sucht. Überlegen sich, wie sie das abstellen und wiedergutmachen können. Tun das dann auch. Aber unaufdringlich. Quälen niemanden mit ihrer Suchtvergangenheit, ihren Schäbigkeiten, wenn es den anderen, den früheren Opfern der Suchtkranken, von neuem Schmerzen bereiten würde; wollen niemandem neue Probleme machen. Sagen die volle Wahrheit denen, die sie hören wollen und denen sie vielleicht hilft. Jedenfalls haben mich die Anonymen Alkoholiker im tiefsten Herzen getroffen. Eine junge Frau, die nicht zugrunde gegangen ist, wird jetzt Jugendarbeiterin, ist überglücklich darüber. Glaubt, sie werde wirklich helfen können. Ich glaube ihr das auch. Sie wird von der Stadt angestellt. [...] Eine Frau, die ihr Kind durch Suizid verloren hat, arbeitssüchtig gewesen war, hat die Anonymen Alkoholiker in die Veranstaltung eingeladen, bei der ich zugehört habe. Wirklich gelungen, weil durchdacht, weil durchlebt, war das Ganze. Das Beste, was ich je wahrgenommen habe. [...] Die AAs sind eine wirkliche Hilfe. [...] Der Anstand, der Charakter der AAs, der hilft. Jedem Menschen, glaube ich. Zu wissen, dass es das doch gibt! Dass es möglich ist! [...A]lles ein Können! Alles Sicherheit. Hilfe. Man muss nicht sterben. Will leben, kann es. {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, III 453f.}

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9783990471173
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