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KATHOLISCH, ZÜCHTIG, STRENG

Gardi Hutters Kindheit kennt viele Widersprüche, Widerstände, Unterschiede, aber vielleicht ist ihr Blick auch besonders geschärft für diese Aspekte. Der Kanton St. Gallen ist konfessionell gemischt, im Rheintal leben zwar mehrheitlich Katholiken, aber in Altstätten gibt es auch eine protestantische Kirche, und die beiden konfessionellen Lager stehen sich misstrauisch, wenn nicht gar feindlich gegenüber. Man grenzt sich strikt voneinander ab. Der tiefe Graben zwischen Protestanten und Katholiken ist auch noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein deutlich spürbar. Er geht zurück auf den sogenannten Kulturkampf im 19. Jahrhundert. Liberale, aufklärerische Ideen setzen sich damals weitherum gegen den als rückständig geltenden Katholizismus durch. In der Folge grenzen sich die Katholiken immer mehr ab und igeln sich in ihrem katholischen Milieu ein. Gardi Hutter wächst in diesem nach innen zwar intakten, nach aussen aber isolierten Umfeld auf.

Man bleibt unter sich, besucht mehrmals pro Woche den Gottesdienst, schickt die Kinder auf katholische Schulen, liest katholische Zeitschriften und Bücher, wählt die Kandidaten der katholischen Partei, geht in den katholischen Turnverein, singt im katholischen Kirchenchor und bleibt in den zahlreichen katholischen Vereinen unter sich. Es wird untereinander geheiratet, und nur katholisch geschlossene Ehen werden als gültig anerkannt. Homosexualität, Scheidungen, Abtreibungen, Sexualität vor der Ehe und ausserhalb der Fortpflanzung, uneheliche Kinder – alles Verstösse gegen die göttliche Ordnung und unaussprechliche Tabus.

In diesem Klima wächst Gardi Hutter heran. Früh wird ihr eingebläut, was der Unterschied zwischen Katholiken und Reformierten sei. Letztere kommen nicht in den Himmel, und sie besuchen in Altstätten eine separate Schule. An katholischen und protestantischen Feiertagen ignorieren sich die beiden religiösen Gemeinschaften gegenseitig oder stören einander sogar. Das lässt sich einfach bewerkstelligen, indem man beispielsweise während reformierter Festtage die Wäsche raushängt oder während katholischer Prozessionen draussen auf den Feldern Mist ausfährt.

Früh lernt Gardi auch, dass es einen grossen Unterschied zwischen Buben und Mädchen gibt. Er zeigt sich darin, was die einen dürfen und die anderen nicht. Gardi Hutters Kinderwelt ist wohlsortiert in Katholiken und Protestanten, in Mädchen und Buben, in Gut und Böse. Sie besucht die katholische Primarschule für Mädchen. Wenn sie ihre Cousinen besuchen will, führt der Weg über den protestantischen Schulhof. «Da bin ich immer schnell wie der Blitz durchgerannt, aus Angst vor den Reformierten.» Sie hat nur katholische Spielgefährten; mit den anderen kommt sie kaum in Kontakt. Als Teenager werden ihr die zwei schlimmsten Vergehen für ein katholisches Mädchen eingeschärft: «Das Schlimmste war, unverheiratet schwanger zu werden, und das Zweitschlimmste, einen Reformierten heimzubringen. Meine drei Brüder haben dann zwar alle Protestantinnen geheiratet, aber da waren die Sitten schon etwas gelockert.»

Die Sache mit den Konfessionen ist für Hutters ein Balanceakt. Wann immer möglich kaufen sie in den Geschäften anderer Katholiken ein; sie wollen aber natürlich auch protestantische Kunden. Wenn die Kinder etwas für die Familie besorgen, müssen sie immer laut und deutlich sagen, wer sie sind. «Wir mussten sagen: ‹Ein Kilo Brot für Hutter.› Das war meinen Eltern sehr wichtig.» So weiss der katholische Bäcker, dass Hutters ihm treu sind – und der protestantische Ladenbesitzer schätzt es, dass Hutters auch bei ihm kaufen. Neutralität, zumindest nach aussen, ist für die Kaufleute wichtig. Aber familienintern werden Gardi und ihre Brüder streng katholisch erzogen.

Drei Kirchgänge pro Woche sind die Regel: Dienstag und Freitag müssen die Kinder vor der Schule die Frühmesse besuchen und dazu noch den Sonntagsgottesdienst: «Wir waren im Hochamt, die ganze Gemeinde zusammen. Ich sass bei den Mädchen links, meine Brüder bei den Buben rechts, und von der Empore her überwachten die Eltern, ob wir nicht verbotenerweise tuschelten – natürlich taten wir das. Das Verbotene war schon damals reizvoll. Wir wisperten nach vorne oder gaben kleine Briefchen hin und her, die wir im Gebetbuch versteckten. Wenn wir versuchten, das Kichern zu unterdrücken, ergab das so ein Schnarren durch die Nase, das wie Ersticken tönte. Meistens passierte das während der Wandlung, dem stillsten Moment der Messe. Alle Gläubigen bekamen es mit, und die Strafe zu Hause war uns so sicher wie das Schlussgebet. Trotzdem war ich sehr gläubig als Kind, es gab auch lange keine anderen Einflüsse.»

Im Elternhaus gibt es kaum Bücher: die Bibel, einige Märtyrerbücher und Johanna Spyris «Heidi», das Gardi wiederholt liest und liebt. Als die Brüder älter werden, kommen die Bücher von Karl May ins Haus, die sie ebenfalls verschlingt. Sie ist eine Leseratte, was zu Hause nicht auf viel Anklang stösst: «Hast du nichts Gescheiteres zu tun, hiess es, wenn ich mich hinter ein Buch verkroch. Lesen war Faulheit, nur Schwitzen galt als Arbeit.»

Weil die paar wenigen Bücher im Haus aus katholischen Verlagen stammen, besteht Gardi Hutters Lektüre zunächst vor allem aus Märtyrerbüchern, in denen Christen wegen ihres Glaubens verfolgt, gequält und getötet werden. Sie erdulden die Qualen im Namen Jesu und werden später heiliggesprochen. Es sind frühchristliche Helden- und Heldinnengeschichten, Vorbilder für den rechten Weg ins Paradies. Gardi Hutter kann aus heutiger Sicht wenig Gutes daran finden: «Es waren letztlich Sadomaso-Bücher, in denen sehr ausführlich beschrieben wurde, wie die Heiligen gefoltert, gesteinigt, gerädert oder verbrannt, den Frauen die Brüste abgeschnitten wurden und andere Scheusslichkeiten.» Aber als Kind lebt sie die hochdramatischen Geschichten von Märtyrerinnen wie den Heiligen Lucia, Barbara oder Angela mit. Schöne, tiefgläubige Frauen, die sich eins mit Jesus Christus fühlen und dann für ihren Glauben von dunklen Bösewichten zu Tode gequält werden. Nur über das Leiden wird man erlöst, so lautet die immer gleiche Botschaft. Das kleine Mädchen lässt sich von der grossen Dramatik wie von den Ritualen der Kirche, von Musik, Weihrauch und Glockenklang, beeindrucken.

Heute schüttelt sie über vieles in ihrer religiösen Erziehung den Kopf: «Vergleiche ich diesen gefolterten Jesus mit einem mild lächelnden, tiefenentspannten Buddha, kann ich mich nur wundern über das Symbol unseres Glaubens, unseres ganzen Denkens und Fühlens. Er war allgegenwärtig. In jeder Stube, jedem Schulzimmer hing ein gefolterter Mensch am Kreuz, am Rand von Wiesen- und Waldwegen; auf Berggipfeln begegnete er einem. Eigentlich grauenhaft, ein Fall für Amnesty International. Es wurde von Liebe und Güte gesprochen, aber der Grundtenor hiess «Schuldgefühle». Man kommt schon schuldig zur Welt. Die Grundlage meiner ganzen katholischen Erziehung, die Instrumente von Angst und Einschüchterung, das würde ich heute als menschenverachtend bezeichnen.» Doch was ihr im Rückblick unverständlich erscheint, ist damals einfach normal. Die Eltern und Grosseltern haben es so gelernt und geben es weiter an die nächste Generation. Das enge Korsett moralischer und erzieherischer Werte hält noch. Kinder schulden ihren Eltern Gehorsam, so wie es im Kolosserbrief des Alten Testaments steht: «Ihr Kinder, gehorcht euren Eltern in allem; das gefällt dem Herrn.» Wer nicht gehorcht, muss Gehorsam lernen. Es wird nicht diskutiert, sondern gezüchtigt. Das gehört ebenso zum Erziehungsprogramm bei Familie Hutter wie fehlende körperliche Nähe. Die Kinder werden nicht umarmt oder liebkost. Man darf sie auf keinen Fall loben oder verwöhnen, das könnte üble Folgen zeitigen. Nur Gilbert, der Jüngste, darf als Sonnenschein der Mutter etwas Nähe von ihr geniessen, man sieht es auf den Familienfotos.

Gardi Hutters Eltern sind keine böswilligen Menschen, im Gegenteil. Sie geben ihr Bestes und versuchen, gute Eltern zu sein. Doch die Erziehung ist strikte geregelt, und es herrscht eine klare Rollenteilung zwischen den Eltern. Die Mutter erzieht und ist die Hauptansprechperson für die Kinder. Wenn Gardi oder ihre Brüder etwas ausgefressen haben, gibt es von der Mutter eine Ohrfeige und die Drohung, sie sollten nur auf den Vater warten. Der muss das Kind abends zusätzlich mit dem Stock oder einem Kleiderbügel auf den Hintern züchtigen. Schläge gibt es fürs Lügen, wenn etwas kaputtgeht oder man heimlich im Laden oder im Kleiderlager Verstecken gespielt hat. Dabei ist gerade das ein besonderes Vergnügen, sich zwischen den Mänteln und Röcken zu verbergen und mit den Brüdern zwischen den vielen Kleidern Fangen und Verstecken zu spielen. Nur erwischen lassen darf man sich nicht. «Wenn uns die Mutter in der Hitze des Gefechts nur eine Ohrfeige verpasst hätte, wäre es noch gegangen», sagt Gardi Hutter, «aber schlimm war, dass der Vater uns abends nochmals für das gleiche Vergehen bestrafte. Bis dann war die Aufregung aber meist schon vorbei, es ergab gar keinen Sinn mehr.»

Der Vater ist überhaupt ruhiger und gelassener als die Mutter. Gardi meint, er sei ein friedliebender Mensch gewesen und die Rolle als strafender Vater habe nicht zu ihm gepasst. Aber er muss sie ausfüllen. Es gehört sich so. Die Mutter ist wachsam und hat alles unter Kontrolle. Gardi als einzige Tochter steht unter besonderer Beobachtung, sie soll ein Vorzeigemädchen sein. Doch sie ist schlau und lernt im Laufe ihrer Kindheit und Jugend, mit dem Kontrollregime umzugehen. Wenn sie etwas will, ist es am besten, sie fragt die Mutter, wenn diese im Geschäft ist, dann muss sie freundlich bleiben und sagt schneller Ja, weil Kunden im Laden sind und sie sich nicht auf lange Diskussionen einlassen kann. Wenn Gardi also fragt, ob sie draussen spielen darf, wird das zwar bewilligt, aber nie ohne Auflagen. Alle Kinder müssen von klein auf viel im Haus mithelfen. Mittags und abends werden sie eingespannt beim Abwaschen und Abtrocknen und beim Aufnehmen des Küchenbodens. Als sie grösser werden, heisst es Auto waschen, im Garten helfen, Keller aufräumen. Auch im Modehaus müssen sie mithelfen, beim Auspacken neuer Lieferungen und beim jährlichen Inventarisieren. Der Vater liest von jedem Kleidungsstück die Nummer auf dem Etikett ab, und die Kinder tragen sie in eine Liste ein. «Wenn neue Kleider in Schachteln angeliefert wurden, mussten wir alle Schnüre aufwickeln und stundenlang das Seidenpapier, das die Kleider knitterfrei halten sollte, ausstreichen und zusammenlegen. Nichts wurde weggeworfen, alles wurde wiederverwendet. Das geht mir bis heute nach. Wenn ich etwas mit Seidenpapier geliefert bekomme, streiche ich es aus und bewahre es auf.»

Dass die Kinder so viel helfen müssen, hat einerseits mit der hohen Arbeitsbelastung der Eltern zu tun; es ist gleichzeitig aber auch Teil des erzieherischen «Antiverwöhnprogramms». Gespielt wird erst, nachdem etwas geleistet wurde. Wie auf dem Bauernhof müssen alle mit anpacken. Und auch einen religiösen Zug hat die Methode: Irma Hutter lebt nach dem Motto «Müssiggang ist aller Laster Anfang». Doch es ist nicht etwa so, dass die Kinder dauernd kontrolliert würden, das geht gar nicht. Die Eltern sind viel zu beschäftigt im Laden, und so gibt es trotz strenger Erziehung doch einigen Freiraum, den die Kinder draussen nutzen.

MÄDCHEN SIND «DAS ANDERE»

«Wenn wir aus dem Haus waren, dann waren wir frei. Wir spielten stundenlang Verstecken und Völkerball auf der Strasse, und mit den Nachbarskindern haben wir wilde Banden gebildet. Es kam kaum ein Auto, und wenn, dann ist man kurz zur Seite getreten.» Die Altstadt ist belebt von kleinen Gewerbebetrieben. Gleich in der Nachbarschaft des Modehauses befinden sich nicht nur ein Bäcker und ein Metzger, sondern auch ein Gerber, ein Schmied und ein Küfer, der Fässer herstellt. «Ich weiss heute noch, wie es beim Gerber und in der Schmiede roch und wie wir Kinder zusahen, als im Notschlachthaus eine Kuh ausgenommen wurde, die ausgestreckt am Boden lag. Das machte uns grossen Eindruck. Als ich klein war, spielte ich auch oft draussen mit Puppen. Ich habe mit Nachbarsmädchen mit abgebrochenen Bleistiftminen ein Haus, ein Spital, die Schule, den Laden et cetera auf die Strasse gemalt, und dann sind wir mit den Puppen hin- und hergegangen und haben uns Geschichten ausgedacht.»

Das ist die Mädchenseite ihrer Spiele, aber es gibt auch die Bubenseite, an der sie sich gerne beteiligt. «Meine zwei grossen Brüder haben viel Unfug und Gefährliches gemacht, sind von hohen Mauern gesprungen, haben ein Luftdruckgewehr ausprobiert, und ich bin natürlich immer mit und hinterher. Sie waren meine grossen Vorbilder.» Ein zugelaufener Hund wird in die Familie aufgenommen und Rexli genannt.

Die Position von Gardi als drittem Kind und einzigem Mädchen in der Familie ist nicht immer einfach. Den beiden grossen Brüdern eifert sie nach. Dass diese oft auf ihre kleine Schwester aufpassen müssen, ist ihnen aber eher lästig. Denn wenn die Kleine ihnen nachrennt, umfällt und schreit, werden sie mit einer Ohrfeige bestraft. Gardi hingegen muss sich als Jüngere wehren und verteidigen. «Es ging rau zu und her. Wir waren vier Kinder und wetteiferten um alles, vom Dessert bei Tisch bis zur Aufmerksamkeit der Eltern.» Wenn Gardi zu Weihnachten oder zum Geburtstag Schokolade bekommt, muss sie diese gut vor Erwin und Fredi verstecken. Und dann finden sie sie trotzdem, essen sie der Schwester genüsslich weg und platzen vor Schadenfreude. Denn sie war ja nicht schlau genug, ein gutes Versteck zu finden. Einmal entdecken die Brüder ein Tagebuch, das Gardi führt, lesen es und ziehen sie damit auf. Gardi ist wütend und gekränkt, auch dass die Mutter sie in solchen Momenten nicht in Schutz nimmt. Sie fühlt sich oft alleine. Ihr Zimmer ist viel grösser als der enge Raum, den die drei Buben teilen, weil er auch noch als Gästezimmer dient. Die Brüder beneiden sie um das grosse Einzelzimmer. Sie wiederum wäre nur zu gern Teil der Zimmergemeinschaft nebenan. Wegen einer fehlenden Heizungsröhre klafft ein Loch in der Wand zwischen den Räumen. Gardi beobachtet wehmütig, wie die Jungs miteinander toben. Sie gehört dazu und gehört doch nicht dazu; ein unbestimmtes Gefühl von Fremdheit, von Danebenstehen, Nicht-ganz-beteiligt-Sein, wird zu ihrem ständigen Begleiter.

Hängt die Fremdheit auch damit zusammen, dass der Geschlechterunterschied von den Eltern so stark betont wird? Gardi möchte sein wie die Brüder, muss aber anders sein, weil sie ein Mädchen ist. Mädchen sind brav, tragen Röckchen, weisse Kniesocken, klettern nicht auf Bäume, pfeifen nicht und sind nicht laut. Mädchen nehmen sich zurück, passen sich an, sind lieb.

Es sind nicht nur die Eltern, die so denken – die gesellschaftlichen Strukturen sind darauf ausgelegt, den Geschlechterunterschied zu betonen. Vom getrennten Schulunterricht über die Trennung in den Kirchenbänken bis zu den zwei unterschiedlichen Kinder- und Jugendverbänden: Pfadfinder für die Buben und Blauring für die Mädchen. Während die Brüder mit der Pfadi durch den Wald pirschen und im Pfingstlager zelten dürfen, sitzt Gardi im Blauring, wo gehäkelt und gebastelt wird. «Mit 13 konnte ich dann endlich auch in die Pfadi, als Leiterin für die Jüngsten, die Wölfli. Kaum war das möglich, wechselte ich sofort. Aber natürlich konnte ich da nicht rumtoben. Ich war ja verantwortlich für die Kleinen – war quasi die vorbildliche Ferienmutter. Aber mit einem Pfadiführer scheu geschmust habe ich dann trotzdem.»

Die Botschaft in ihrer Jugend ist immer dieselbe: Mädchen sind «das Andere». Gardi ist von ihrem Naturell her aber gar nicht so anders. Sie steckt voller Energie. Sie rennt gerne mit den Buben mit, eifert den zwei Grossen nach, hat ihren Spass an wilden Spielen und Mutproben. Erwünscht ist das nicht. Und so steht sie zwischen den Welten. Sie soll anders sein und anders werden. Sie hadert mit dem Mädchenbild, so wie sie später mit dem Frauenbild hadern wird. «Ich denke, dass ich eine andere Person geworden wäre, vielleicht sogar einen anderen Lebensweg eingeschlagen hätte, wenn wir zwei Mädchen und zwei Buben in der Familie gewesen wären», sagt sie im Rückblick, «es wäre mir einiges an Selbstzweifeln erspart geblieben.»

Der jüngste Bruder Gilbert habe es am einfachsten gehabt, sagt sie. Er ist Mutters Liebling, verhält sich umgänglich und brav, ist nicht so trotzig wie die ältere Schwester. Erwin, Fredi und Gilbert Hutter erleben ihre Kindheit weniger streng als die Schwester. Eine schöne Kindheit hätten sie gehabt, erzählen sie heute und bestätigen gleichzeitig, dass es für Gardi als einziges Mädchen schwieriger gewesen sei. Die Mutter erlaubt den Buben mehr und kontrolliert sie weniger. Aber auch für Gardi ist nicht alles geprägt von Zwang und negativen Erfahrungen.

WOCHENEND- UND FERIENFREUDEN

Die Tüchtigkeit von Vater und Mutter zahlt sich aus. Obwohl es am Rathausplatz einen alteingesessenen Konkurrenten gibt, der für alle im Ort hörbar den «Bauernsohn als Kaufmann» verspottet, beginnt das Modehaus Hutter schon bald zu florieren. Ende der 1950er-Jahre leisten sich die Eltern ein Feriendomizil: die Hälfte eines kleinen Bauernhauses auf dem Ruppen. Hutters gehören auch zu den wenigen, die schon ein Auto besitzen, einen Zweitakter DKW, der in Gardi Hutters Erinnerung furchtbar stinkt. Davor fahren die Eltern auf einer Lambretta, einem Roller, auf dem auch Erwin und Fredi als Kleinkinder auf Ausflüge mitgenommen werden.

Im DKW wird den Kindern immer schlecht, wenn sie zu viert in den Wagen gequetscht werden. Auf langen Fahrten bekommen alle eine leere Heliomalt-Büchse auf den Schoss, für den Fall, dass sich jemand übergeben muss, und dann wird gesungen, und zwar so lautstark und viel, dass die Kinder die Übelkeit vergessen.

Am Samstag ist um 16 Uhr Ladenschluss, keine Viertelstunde später sitzt Familie Hutter im Auto und fährt die gut zehn Minuten hoch auf den Berg zum Ferienhaus. Alle haben noch schnell die Kleider gewechselt. Vom ordentlichen Gewand in ausgebeulte Lumpen. Der Ruppenpass führt hinter Altstätten in Richtung Appenzellerland. Die Aussicht vom Haus aus ist fantastisch und geht weit über das Rheintal. Alle sechs Hutters fühlen sich hier wohl.

Das Gebäude ist sehr bescheiden, verfügt zunächst weder über fliessendes Wasser noch über Heizung oder Strom. Hier kann sich Bauernsohn Erwin Hutter verwirklichen. Er streicht, hämmert, zieht Leitungen ins Haus – alles wird selbst installiert und gebaut. «Meine Eltern mussten nie Hunger leiden, aber in ihrem Gedächtnis war sicher noch gespeichert, wie karg die Bauern ein, zwei Generationen vor ihnen gelebt hatten. Deshalb wurde alles aufgespart und wiederverwendet. Sie hatten es so gelernt und gaben es an die nächste Generation weiter. Sie waren nicht eigentlich geizig, aber sehr sparsam, wenn es um Kleinigkeiten im Alltag ging. Als dann später alle von Recycling redeten, mussten sie nichts dazulernen.»

Das Haus am Ruppen und seine Umgebung hat Gardi Hutter als ihr Kindheitsparadies in Erinnerung: «Dort gingen wir morgens zu viert in den Wald und kamen abends wieder zurück.» Die vierköpfige Rasselbande tobt ums Haus, spielt in den beiden Baumhäusern, die Erwin und Fredi gezimmert haben, Räuber und Poli (Gendarm), Cowboy und Indianer. Gardi immer mittendrin. Solange die vier Kinder klein sind, stört es die Buben nicht, dass sie ein Mädchen ist, sie muss nicht die Squaw spielen. Doch als die älteren Brüder zu pubertieren beginnen, wollen sie irgendwann nicht mehr mit der kleinen Schwester spielen. Sie wird abgewiesen. «Wir spielen nicht mit Weibern», heisst es, was sie sehr kränkt.

Im Ferienhaus nimmt sich die Mutter Zeit für die Kinder. Bei schlechtem Wetter wird gemalt und gebastelt. Kasperlefiguren aus Pappmaché entstehen, mit denen anschliessend ausgiebig gespielt wird. Man ist unter sich, hier gibt es Momente familiärer Innigkeit, die im Alltag sonst so kaum möglich sind.

Im Sommer wird im kleinen Pool, den der Vater ausgehoben und eigenhändig ausgekleidet hat, gebadet und gespritzt. Ein grosser Magnet für die Bauernkinder aus der Umgebung.

Der Vater ist ein begeisterter Wanderer und Bergsteiger. Die Familie unternimmt kleinere und grössere Touren. Die Kleinen werden auf dem Rücken mitgetragen. Und später, als die Kinder heranwachsen, macht der Vater oft auch ausgedehntere Bergtouren mit den vier Kindern. Die Mutter bleibt im Tal. Sie geht spazieren und einkaufen, fern von den Altstätter Kleingeschäften sogar in die sonst verbotene Migros.

Erwin Hutter ist Mitglied im Schweizer Alpen-Club SAC, der Nachwuchs im Alpen-Jugendclub. Es wird nicht nur gewandert, sondern auch geklettert. Gardi Hutter ist bis in ihre Teenagerjahre mit dabei und liebt die Berge ebenso sehr wie ihr Vater und die Brüder. Erwin und Gilbert machen als Erwachsene beide die Ausbildung des SAC zum Bergführer, leiten immer wieder Touren und pflegen das vom Vater angestiftete «Familienhobby» ein Leben lang.

Und natürlich wird auch Ski gefahren. Der Vater lernt zwar erst spät Ski fahren, mit Ende dreissig, aber noch rechtzeitig, um es mit seinen Kindern zu geniessen. Von Altstätten aus führt eine Schmalspurbahn bergauf Richtung Gais. Sobald es genügend Schnee hat, nehmen die Schulkinder an schulfreien Nachmittagen oder am Samstag den kleinen Zug, fahren auf die Höhe, den Stoss, und sausen hinunter. Ein Heidenspass, den ganzen Winter lang.

Ein Auto, ein Ferienhaus, bald einmal auch einen Fernseher – in einem abschliessbaren Schrank – und erste Auslandsferien kann sich Familie Hutter dank des wachsenden Wohlstands Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre leisten. Das Modehaus Hutter ist eines der ersten Geschäfte im Ort, die im Sommer zwei Wochen schliessen und ein Schild an die Tür hängen: «Wegen Ferien geschlossen». Mit dem DKW geht es mal nach Ascona zum Camping und bald darauf bis nach Italien ans Meer, die Heliomalt-Büchsen immer mit dabei. Zeltferien an der Adria in Cattolica und Jesolo, am breiten Strand mit endlos vielen Schirmen und Liegen. Auslandsferien – ein Abenteuer mit Meer und Sand, Gelati und Pizza und einer ungewohnten Sprache. Ein Foto von einem Ausflug nach Venedig zeigt die Kinder zu Füssen einer Löwenstatue. Die kleine Gardi schaut skeptisch hoch. Ist der Löwe wirklich aus Stein, wird er nicht vielleicht doch noch lebendig? Sie kann sich noch heute an die Furcht erinnern – ihre lebhafte Fantasie.

Neben den sportlichen Betätigungen und den Ferienfreuden ist das Singen eine weitere Spezialität im Familienleben der Hutters. Ob beim Geschirrabwaschen, abends im Wohnzimmer, auf Autofahrten oder beim Wandern, Familie Hutter singt Volkslieder, Kinderlieder, Wanderlieder, Soldatenlieder und am Jahresende voller Inbrunst Weihnachtslieder – das Repertoire ist gross. Die Mutter hat eine schöne Altstimme und singt oft die zweite Stimme. Zu sechst bildet man schon fast einen kleinen Chor, wobei der Vater eher mitsummt als singt. Gardi Hutter kennt die meisten Liedtexte heute noch und denkt mit leichter Wehmut zurück an die Selbstverständlichkeit, die im gemeinsamen Gesang lag. «Wir hatten bis Anfang der 1960er-Jahre keinen Fernseher, es gab wenig Ablenkung, die Abende waren lang. Im Sommer spielte man draussen. Im Winter wurde gejasst, wir spielten Eile mit Weile, Mühle und Dame oder beteten Rosenkränze. Man konnte auch einfach mal nur dasitzen und sich etwas umschauen. Undenkbar im Vergleich zur heutigen Intensität unseres Alltags. Es war zwar langweiliger, aber psychologisch sicher einfacher.»

Musik bildet zwar einen Teil des kindlichen Erfahrungsschatzes, aber nur ganz bestimmte Arten von Musik: Volkslieder, Kirchenmusik und Volkstümliches auf Radio Beromünster. Sobald es klassisch wird, wird der Apparat abgedreht. Mozart oder Beethoven gibt es bei Hutters nicht, klassische Musik ist ihnen fremd. Bei Opern halten sich alle die Ohren zu, und modernere Klänge, wie amerikanischer Jazz oder Elvis Presley, gelten als «Schund» und werden von der Familie ferngehalten. «Schund» ist in jener Zeit eine Klammer für alles, was nicht nur ästhetisch, sondern auch moralisch abgründig scheint.

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