Читать книгу: «Trotz allem - Gardi Hutter», страница 2

Шрифт:

PREMIERENFIEBER

Gardi Hutter fährt ihren grauen Tourbus – auf dem die vier Figuren Affe, kauernder und aufrechter Mann sowie Clown abgebildet sind – mit der ganzen Ausrüstung Anfang November von Berlin nach Stuttgart. Bühnenbildner Urs Moesch hat von Anfang an alles so geplant, dass sich das ganze Bühneninventar zusammenklappen und im 3,5-Tonnen-Lieferwagen verstauen lässt, denn so geht Gardi Hutter anschliessend auf ihre Tourneen.

In Stuttgart angekommen, bleiben ein paar Tage Zeit, um vor Ort alles einzurichten und zu proben. Unendlich viele Details sind immer noch zu klären. Es wird geklebt, genagelt, die Technik eingerichtet, mit doppeltem Beamer, doppeltem Computer für die Videoprojektionen im Spiegel. Alles ist abgesichert. Gardi Hutter muss sich vor dem Publikum zu hundert Prozent auf das Team hinter der Bühne verlassen können, damit sie die Freiheit hat, zu spielen. Sie steht zwar alleine im Scheinwerferlicht, aber im Hintergrund arbeiten immer ihre beiden Techniker mit, die sie zu jeder Aufführung begleiten, sowie zwei, drei Leute vom jeweiligen Theater.

Die Spannung steigt. «Ich schlafe vor jeder Premiere extrem schlecht, und eigentlich würde ich dann am liebsten mit niemandem mehr sprechen», sagt sie. Aber natürlich interessieren sich die Medien, was gut für die Publizität ist, und so gibt Gardi Hutter eben Interviews.

Eine Stunde vor Premierenbeginn sind ihre Nerven zum Zerreissen gespannt. Sie macht Körperübungen auf der Bühne, versucht, sich zu konzentrieren, die Energie zu bündeln. Doch da ist die Kamera der Schweizer Nachrichtensendung «10 vor 10», und ein Journalist hält ihr das Mikrofon vors Gesicht. Man spürt ihre Nervosität, aber sie bleibt Profi, antwortet, obwohl sie in diesem Moment eigentlich nur eines möchte: ihre Ruhe. «Die Anspannung ist jenseitig», sagt sie ins Mikrofon, und man glaubt es ihr. «Ein Jahr Arbeit muss nun durch diesen ganz engen Kanal, durch diese Premiere, und es steht so viel auf dem Spiel.»

Das Ende des Satzes ist nicht nur so dahergesagt. Gardi Hutter ist die Darstellerin, aber auch die Produzentin. Das bedeutet, dass sie viel Geld in die Hand nimmt, um das Stück zu realisieren, um alle Beteiligten zu bezahlen, von der Technik über die Regie bis zum ganzen Material, den Raummieten, der Werbung, der Agentin und vielem mehr. Dafür gehören ihr die Einnahmen aus der Tournee, und wenn das Ganze ein Erfolg wird, rechnet sich die Sache. Aber das Risiko ist erheblich.

«Das ist das Schönste und das Schlimmste an meinem Beruf», sagt Gardi Hutter, «die grosse Freiheit, dass ich spielen und erfinden kann, was ich will, und jedes Mal die Chance habe, über mich selbst hinauszuwachsen. Andererseits lässt sich ein Erfolg nie sicher planen. Man hat keine Gewähr, dass es gelingen wird.» Man muss sich ein Publikum suchen, muss es begeistern und verführen. Es ist ein freier Markt mit schmalen Subventionen. Gardi hat schon vor der Premiere von «Die Schneiderin» hundert Vorstellungen in ganz Europa verkauft. Bis 2020 wird sie diese Figur mehr als 500 Mal spielen. Sie ist nicht nur Clownin, nicht nur Autorin und Künstlerin, sie ist auch Geschäftsfrau.

Donnerstag, 28. Oktober, 20 Uhr im Theaterhaus Stuttgart, eine grosse private Spielstätte im Norden der Stadt. Alt und neu verbinden sich in der ehemaligen Glasfabrik. Das Licht im grossen Saal erlischt. Und dann geht es los. Tausend Kleinigkeiten greifen während der Vorstellung ineinander: Licht, Musik, Übergänge, Gags, Videoeinspielungen. Zum Auftakt sitzt Hanna im Schneidersitz auf dem Tisch, näht an einem weissen Kleid, nickt kurz ein, der Kopf kippt nach vorne. Die lange Nadel pikst ihre dicke, rote Nase. Hanna schreckt auf, quiekt, der erste Lacher nach 15 Sekunden. «Ich merke in der ersten Minute, ob ein Abend gut wird oder nicht», sagt Gardi Hutter. Dahinter steckt nicht nur die jahrelange Erfahrung, sondern auch ihr ausgeprägtes kommunikatives Sensorium. Sie kann sich enorm gut auf verschiedenste Situationen und Menschen einlassen, vor allem auch auf einen gefüllten Saal vor ihr. Im stummen Dialog mit dem Publikum, mit Mimik und Gestik, schafft sie den Energieaustausch mit den Menschen und läuft dabei zur Hochform auf – die perfekte Eigenschaft einer Clownin.

Irgendwann kommt die Anmachszene, in der sie ins Publikum geht, einen gut aussehenden jungen Mann auf die Bühne holt, sich mit ihm auf den Tisch setzt und ihm mit ihrer unnachahmlichen Hanna-Art schöne Augen macht. Man kann nicht anders, als über dieses verzweifelt noch ein letztes Mal Liebe suchende Wesen mit dem verfilzten Haarschopf, den rollenden Augen und der dicken Clownnase zu lachen. Grossartig, wie sich die unförmige Hanna im Gegenlicht zu Joe Cockers «You Can Leave Your Hat On» lasziv im Halbdunkel auszieht. Danach steht sie in weisser Unterwäsche, in Form von Hemd und Hose, da und sieht plötzlich aus wie ihr sphärisches Gegenüber, ihre Seele im Spiegel. Das Publikum johlt und lacht. Und es war nie billig oder schlechter Geschmack, sondern nur lustig, bewegend und anrührend, weil zutiefst menschlich.

Nach siebzig Minuten stirbt Hanna freiwillig. Sie sieht die Seele ihres Vogels im Spiegel flattern und will ihm folgen. Sie spannt hinter sich ein weisses Segel auf, im Tisch öffnet sich ein Grab, sie steigt hinein, lässt vor sich ein wallendes, hellblaues Stück Stoff herabfliessen, fixiert es so an der Grabklappe, dass das Bild eines Boots im Wasser entsteht, winkt – ganz Kapitänin auf ihrem Schiff – und versinkt leise.

Das Licht geht aus, Klatschen, Jubel. Aus dem Dunkel taucht die erleichterte Gardi Hutter auf, verbeugt sich, nimmt dankbar den Applaus entgegen und bittet das ganze Team auf die Bühne. «Beim Schlussapplaus an der Premiere weine ich vor Erleichterung.» Hinter der Bühne umarmen sich alle Beteiligten lange und intensiv. Es hat geklappt, es war toll. Freude pur. Und Gardi Hutter strahlt diesmal in die Kamera von «10 vor 10», erhitzt, erschöpft, erlöst und rundum glücklich. Es gibt noch eine Premierenfeier im Haus für geladene Gäste, und nach Mitternacht sinkt sie ins Bett. «Ich kann, ich will dann an nichts mehr denken, nur noch schlafen!»

1953 bis 1966
Drei Brüder und eine katholische Erziehung

Frühling 1956, ein Sonntagnachmittag im St. Galler Rheintal, drei Kinder in einer Blumenwiese. Gardi Hutter in der Mitte, mit üppigem Blumenstrauss, glattem, blondem Bubikopf, im Trägerröckchen. Fest steht sie da, der Blick etwas kritisch, fragend. Die Kleine zwischen den grösseren Brüdern. Links Erwin, der Älteste, trotziger Mund, dunkleres Haar als die Geschwister, in der Hand eine Blume. Rechts Fredi, der Zweitgeborene. Beide Buben in denselben Shorts mit Kurzarmhemd und Pullunder. Die Kleider der Kinder hat die Mutter selbst genäht. Der vierte im Bunde fehlt auf dem Bild: Gilbert, der Jüngste. Er sitzt im Kinderwagen, kann noch nicht so schnell mitlaufen, wenn die drei Hutter-Kinder durch die Frühlingswiese toben. «Still halten und lächeln», hat Vater Erwin wohl befohlen. Nur Fredi folgt der Anweisung, Gardi und Erwin bleiben ernst. Morgens war die Familie in der Kirche, dann hat die Mutter gekocht. Am Nachmittag geht es noch etwas an die frische Luft. Am Montag wird wieder gearbeitet. Den Eltern gehört das Modehaus E. Hutter in Altstätten. Dort verkaufen sie Mäntel, Hosen, Jacken, Anzüge, Hemden, Blusen, Röcke und lassen im Schneideratelier im Haus Säume kürzen, Nähte anpassen und Kleider nach Mass anfertigen.

Es ist das dritte Kind, das im März 1953 in der Wiege liegt. Irmgard haben sie es getauft. Kaum jemand wird sie je so nennen. Vielleicht mal ein Beamter beim Blick in den Pass oder eine Lehrerin bei der Verlesung einer Klassenliste. Sie heisst Gardi, von Anfang an, Gardi Hutter. In den ersten 28 Jahren ist es ein Name wie viele andere auch. Mit dem 5.3.53 hat sich die kleine Gardi ein besonderes Datum für die Geburt ausgesucht. Dass sie mal berühmt wird, hat man ihr nicht in die Wiege gelegt.

Sie ist die erste Tochter und hat zwei grosse Brüder: Erwin, der wie der Vater heisst und fünf Jahre älter als Gardi ist. Und der 1950 geborene Wilfried, den auch nie jemand so nennt, weil er der Fredi ist. Zwei Jahre nach Gardi kommt 1955 ein weiterer Sohn zur Welt, Gilbert. Nun ist die Familie komplett. Vier Kinder sind in diesem Milieu wenig, verglichen mit den grossen katholischen Bauernfamilien wie jenen der Eltern Erwin und Irma Hutter nur eine Generation zuvor. Das junge Paar ist zwar noch ebenso religiös wie die Vorfahren, aber einen Hof bewirtschaftet es nicht. Sie haben beide Schneider gelernt und führen seit wenigen Jahren ein kleines Modehaus. Es ist eine aufstrebende katholische Kleinbürgerfamilie, in die Gardi Hutter als einziges Mädchen hineingeboren wird. Eine Herkunft, die ihre Kinder- und Jugendjahre stark prägen und noch lange Zeit nachwirken wird.

DIE ELTERN

Erwin Hutter und Irma Dietsche wachsen in den 1920er- und 1930er-Jahren in Kriessern auf. Die Hutters wohnen im Unterdorf mit zwölf Kindern, sieben Söhne und fünf Töchter. Sie sind ärmer als die Dietsches im Oberdorf, die acht Kinder haben, fünf Söhne und drei Töchter. Erwin und Irma kennen sich schon seit Kindertagen, im Dorf kennt jeder jeden. Er ist 1919 geboren, sie 1923.

Weil in beiden Familien jeweils nur ein Sohn den Hof übernehmen kann, müssen sich die Geschwister anderweitig umschauen. Erwin Hutter kommt 1935 aus der Schule. Da wird gerade eine Schneiderlehrstelle in der Umgebung frei. Man fragt nicht lange nach Talenten oder Interessen. Erwin hat grosse, kräftige Hände. Für die Arbeit auf dem Bauernhof ist er bestens geeignet. In der Schneiderlehre leidet er zu Beginn, weil die kräftigen Bauernhände Nadel und Faden beinahe nicht zu fassen kriegen. Vom vielen Sitzen bekommt er Rückenschmerzen, aber er beisst sich durch. Eine Lehre ist eine Chance auf einen Beruf, der einst eine Familie ernähren kann. Danach folgt die Rekrutenschule, in der er als Bursche das Pferd eines Vorgesetzten pflegt. Gerne würde er nach der Rekrutenschule, wie damals üblich, auf die «Stör», das heisst im Ausland auf Wanderschaft gehen. Aber es ist 1939, der Krieg bricht aus, Erwin Hutter wird eingezogen und leistet zwei Jahre Aktivdienst an der Grenze. Zwischendurch wird er immer mal wieder vom Dienst freigestellt und kann in der Herrenkleiderfabrik Lenox in Altstätten arbeiten. Dort werden Uniformen genäht, und er verdient etwas mehr als nur den kargen Sold. Der Bauernsohn ist voller Tatendrang und möchte etwas erreichen im Leben. Er macht seinen Meistertitel und eignet sich in Abendkursen kaufmännisches Wissen an. Nach Kriegsende eröffnet er mit seiner Schwester Angela eine kleine Massschneiderei an der Obergasse in Altstätten. Vom Ersparten haben sie sich eine Nähmaschine im Wert von 600 Franken gekauft, einen Bügel- und einen Arbeitstisch zu 270 Franken und Stoffe für 97 Franken. Berücksichtigt man die Teuerung, lassen sich die Zahlen zum heutigen Wert ungefähr mit fünf multiplizieren. Ein bescheidener Anfang, aber der 26-jährige Mann ist geschäftstüchtig, ein guter Schneider, und er möchte heiraten. Erwin Hutter beginnt sich für Irma Dietsche, Bauerntochter aus dem gleichen Dorf, zu interessieren. Doch die will zunächst nichts von ihm wissen.

Auch sie ist nicht ganz freiwillig Schneiderin geworden. In der Schule hatte sie ausschliesslich Bestnoten. Zu gerne hätte sie eine Sekundarschule besucht und anschliessend das Lehrerseminar. Traumberuf Lehrerin. Für ihre bäuerlichen Eltern sind das Flausen. Zu viel Bildung macht bei Frauen keinen Sinn und vereitelt womöglich die Heiratschancen. Die Realschule genügt. Später erzählt Irma Hutter ihren Kindern, dass sie über das Verbot, Lehrerin zu werden, drei Tage lang geweint habe.

Eine von Irmas älteren Schwestern ist bereits Schneiderin. Ein guter Beruf, findet der Vater, und so lernt die Jüngere ebenfalls das Schneiderhandwerk. Die Autorität der Eltern ist damals Gottes Gesetz, und Irma begehrt nicht auf. Erst als sie achtzig Jahre alt ist, wird sie Gefühle des Zorns hochkommen lassen und grollen: «Wir Mädchen waren allesamt nur Mägde.»

Dass Irma ihren Verehrer Erwin zunächst zurückweist, kann ihr Vater nicht nachvollziehen. Er ist begeistert von dem jungen Hutter. So ein Schneider passt perfekt zu seiner Tochter, sie könnten zusammen die Schneiderei in Altstätten führen und womöglich ausbauen. Aber Irma erklärt, sie sei zu wenig verliebt. Für den Vater kein stichhaltiges Argument, doch Erwin hat Geduld, schreibt sogar einen Brief an Matthias Dietsche und argumentiert darin, dass der Vater Verständnis haben müsse, man könne Irma ja nicht zwingen.

Beide Familien gehören dem ländlichen katholischen Milieu an, das sich nach aussen abschottet und für das strenge moralische Werte und ein ganzer Reigen religiöser Riten prägend sind. Dazu gehören beinahe tägliche Messebesuche, das Beichten, Beten, Andachten, die Sakramente zu Geburt, Heirat und Tod sowie spezielle Feiern an religiösen Feiertagen. Man ist Mitglied in katholischen Vereinen, und braucht man Rat, wendet man sich an den Pfarrer; ist es etwas geheimer, an einen Pater. So macht es auch Irma Dietsche. Sie ist unsicher, wie sie mit ihrem Verehrer Erwin Hutter umgehen soll. Ist es richtig, einen Mann zu heiraten, den man nicht liebt, nur weil praktische Gründe dafürsprechen? Sie erzählt später, dass der Pater ihr ganz pragmatisch geraten habe, sie solle sich einmal auf die Knie des jungen Mannes setzen, der Rest werde sich schon finden. Ob es dieser Rat ist, der die beiden am Ende zusammenbringt, oder einfach eine längere Phase des Kennenlernens, in der doch Zuneigung keimt? Hilft Erwins Geduld oder die Aussicht darauf, gemeinsam arbeiten und sich etwas aufbauen zu können?

Was immer die Gründe sind, dass die beiden am Ende doch zusammenkommen – Irma nimmt den Heiratsantrag schliesslich an. Am 7. Oktober 1946 findet die Hochzeit statt, und die Kombination der beiden Schneider wird sich als glücklich erweisen, geschäftlich und privat. Sie hätten es als Paar gut miteinander gehabt, sagt Gardi Hutter.

Zwei arbeitsame Menschen mit dem gleichen Beruf und von ähnlicher Herkunft, aber unterschiedlichem Naturell finden so nach Ende des Zweiten Weltkriegs zusammen. Er, der Ruhigere, handwerklich rundum Begabte, der die Berge, das Wandern, Reisen und das Skifahren liebt. Er sei ein Optimist gewesen, sagt Gardi Hutter, und auch einer, der Risiken eingegangen sei, was sich am Ende meist ausbezahlt habe. Sie, die Geschäftsfrau durch und durch, perfektionistisch, intelligent, mit viel Bauernwitz; man kann gut mit ihr lachen und singen. Aber sie ist eine Pessimistin, macht sich ständig Sorgen und ist viel vorsichtiger als ihr Mann. Sie ist streng mit sich selbst und mit anderen; an erster Stelle stehen in ihrem Leben der gute Ruf und ihr Glaube.

DAS MODEHAUS E. HUTTER

Erwin und Irma Hutters Sprung von Kriessern nach Altstätten ist nicht riesig. Fünf Kilometer liegen zwischen den beiden Orten, aber das eine ist ein Bauerndorf, das andere ein kleines Städtchen mit damals 8300 Einwohnern und einem mittelalterlichen Ortskern. Die sankt-gallische Gemeinde Altstätten grenzt mit Kriessern an Oberriet. Liechtenstein und die österreichische Grenze sind nicht weit entfernt. Richtung Westen grenzt der Ort an den Kanton Appenzell Ausserrhoden und die Ausläufer des Alpsteins. Und Richtung Norden mündet keine zwanzig Kilometer entfernt der Rhein in den Bodensee. Der Ort hat seit dem 9. Jahrhundert die Stadtrechte, Stadtmauern und eine Verbindung zum Kloster St. Gallen. Man ist hier stolz auf die Rolle als Marktflecken der Region seit dem Mittelalter und die seit vielen Hundert Jahren gepflegte Fasnachtstradition. In vorindustrieller Zeit verhilft der Handel mit Leinwand, später mit Seide und Baumwolle einigen Familien zu grösserem Wohlstand. Im 18. Jahrhundert leistet man sich ein repräsentatives Rathaus, und an der Marktgasse entstehen stattliche Bürgerhäuser mit Bogengängen. Mit dem Bahnbau 1858 entwickelt sich eine heimische Industrie mit Webereien und Stickereiunternehmen, sie dominieren bis zum Ersten Weltkrieg. Die Zeit danach wird wirtschaftlich schwierig. Erst in den 1960er-Jahren zieht die Konjunktur wieder markant an, siedeln sich neue Betriebe in und um Altstätten an, ziehen neue Leute zu. Menschen, die auch Kleider brauchen. Es ist eine überschaubare Kleinstadt, die Wege sind kurz, man kennt sich. Die zwei dominantesten Gebäude im Ort sind die katholische und die reformierte Kirche, gefolgt vom Kloster Maria Hilf.

1948 steht nicht weit von der Obergasse, in einer Kurve am Rande der Altstadt, ein frei stehendes, dreistöckiges Haus zum Verkauf: Trogenerstrasse 24. Im Erdgeschoss lässt sich ein Kleidergeschäft einrichten, darüber kann man wohnen. Das junge Schneiderpaar hat zwar nicht genug Geld für den Kauf, aber Irmas Vater, Matthias Dietsche, bürgt für den Kredit von 53 540 Franken, den die Rheintaler Creditanstalt Au gewährt. 56 000 Franken kostet das Haus, 12 000 Franken werden in den Umbau investiert. Im Wohn- und Geschäftshaus wird 1948 das «Modehaus E. Hutter» eröffnet. Auch für Nachwuchs ist Platz: Irma ist schwanger.

Es müssen intensive Jahre sein, die folgen. Die vier Kinder werden zwischen 1948 und 1955 geboren, und Vater und Mutter packen tüchtig im Geschäft an. Die Familie wohnt im ersten und zweiten Obergeschoss. Gardis Zimmer liegt neben dem Änderungsatelier, und sie erinnert sich, wie sie als Kind oft dort war: «An den Wänden waren die Fadenspulen an Nägeln aufgesteckt. Und die Knöpfe wurden in vielen kleinen Schubladen aufbewahrt. Ich liebte es als Kind, dort zu spielen; ich kann die verschiedenen Knopfarten heute noch beschreiben. Vermutlich haben die zwei, drei Schneiderinnen, manchmal auch ein Schneider, im Atelier auch auf mich aufgepasst.» Die Faszination aus Kindertagen wird nach Jahrzehnten dann zur Inspiration für die Künstlerin.

Die Massschneiderei wird ab Mitte der 1950er-Jahre durch immer mehr Damen- und Herrenkonfektion ersetzt, und den Erstkommunions- und Firmungsanzug kauft man jetzt bei Hutters. Mit dem Laden gelingt den Eltern zwar der soziale Ausstieg aus dem einfachen bäuerlichen Leben ihrer Vorfahren, aber in gewisser Weise setzen sie es unter anderen Vorzeichen fort. Der Gewerbebetrieb und das Wohnen finden wie auf dem Bauernhof unter einem Dach statt. Vater und Mutter arbeiten beide, und die Kinder wachsen nebenher und mittendrin auf. «Meine Eltern arbeiteten jahrelang elf bis zwölf Stunden pro Tag. Es machte ihnen nichts aus. Sie waren es gewohnt vom Hof. Viel Arbeit war Teil des Lebens, galt als Tugend, und wer tüchtig war, konnte es zu etwas bringen», erzählt Gardi Hutter.

In der Schweiz kommen damals mittags alle Kinder von der Schule nach Hause. Der Laden wird für eine gute Stunde geschlossen. Kochen und Essen müssen in der kurzen Zeit effizient über die Bühne gehen. Es klappt, weil Irma Hutter sehr geübt ist: «Meine Mutter war stolz darauf, dass sie ein Mahl für sechs Personen in zwanzig Minuten auf den Tisch stellen konnte.» Und natürlich kocht sie oft vor, sie bereitet die Kartoffeln oder einen Eintopf schon am Vorabend zu, und dann brät sie noch Würste, oder es gibt Käsenudeln. Hauptsache, es geht schnell.

«PUVERLI UND RÜEBLI» BEI DEN GROSSELTERN

Die frühesten Eindrücke aus ihrer Kindheit verbindet Gardi Hutter mit den Erlebnissen auf den beiden Höfen der Grosseltern in Kriessern: «Mein Grossvater Matthias war ein strenger Patriarch. Wir fürchteten uns alle vor ihm.» Seine Frau Katharina ist das Gegenteil. Als still und liebenswert hat Gardi Hutter die Grossmutter in Erinnerung. Sie betreibt den Dorfladen von Kriessern. Als kleines Kind ist Gardi gerne und oft bei den Grosseltern in den Ferien. Dort gibt es gleichaltrige Cousinen zum Spielen, weil der Onkel, der den Hof übernommen hat, auch wieder zehn Kinder hat, und Gardi darf im Laden der Grossmutter mithelfen. Es sind die 1950er-Jahre. Im Dorfladen stehen grosse Säcke mit getrockneten Bohnen, Linsen und Nudeln. Man schöpft die Ware mit Schaufeln in Papiertüten, wiegt sie ab, kassiert. Gardi liebt diese Arbeit zusammen mit der Grossmama. Abends sitzt die Grossfamilie beisammen. Die Schwiegertochter hat gekocht, ein grosser Topf steht auf dem Tisch. Zehn und mehr Menschen tauchen ihre Löffel ein und essen alle gemeinsam aus der grossen Schüssel. Es gibt Hörnli und Apfelmus oder Kartoffeln in jeder erdenklichen Form, als Rösti, Bratkartoffeln, Kartoffelstock, «Gschwellti» mit Käse, und Ribel, ein Rheintaler Maisgericht. In der Erinnerung haften geblieben ist Gardi Hutter das wundervolle silbergraue, lange Haar der Grossmutter, das sie abends aus dem straffen Dutt befreite und mit einem Kamm langsam durchkämmte, aber auch die Rute an der Wand gleich hinter dem Platz des Grossvaters: «Wenn ein Kind etwas ausgefressen hatte, wurde es abends über dem Tisch mit der Rute gezüchtigt. Das war der Erziehungsstil damals. Und als der Sohn den Hof übernahm, sass er dann dort und hat es genauso gemacht.»

Die Dietsches sind eine lebhafte Familie. Sie reden laut und sind manchmal etwas rau, sie lachen und singen auch viel. Ihr Wohlstand kommt nicht nur vom Laden und vom Bauernbetrieb; der Grossvater ist auch Viehhändler. Im Haus herrscht ein ganz anderer Geist als bei Gottlieb und Emma Hutter im Unterdorf, den Grosseltern väterlicherseits. Hier ist alles viel kleiner und enger, ruhiger, aber auch herzlicher. Grossmutter Emma hat 14 Kinder geboren, zwei sind gestorben. Gardi Hutter sagt: «Sie war ein Wesen von fast Zen-artiger Friedlichkeit. Obwohl sie immer arbeitete, schien sie in sich zu ruhen und strahlte eine Heiterkeit aus. Mit 96 Jahren sagte sie eines Nachmittags, sie fühle sich müde. Dann legte sie sich hin und starb.»

Die Hutters sind generell stille Leute, selbst beim Jassen wird kaum gesprochen. Nur Fritz, einer der drei Brüder des Grossvaters Gottlieb – der in die USA ausgewandert war und zurückkehrte –, schlägt aus der Familie und unterhält in der Dorfwirtschaft jeweils den ganzen Saal. Prompt wird später behauptet, Gardi habe ihr Talent vom Grossonkel geerbt.

Die zwei jüngsten Schwestern von Erwin Hutter werden Klosterfrauen in Baldegg und gehen in die Mission – damals eine der wenigen Möglichkeiten für Frauen aus einfachen Verhältnissen, in die Welt hinaus zu kommen. Verona Hutter schafft es in den 1970er-Jahren bis nach Papua-Neuguinea und Tansania.

Gardi hilft wie alle Kinder auf beiden Höfen mit, hütet Kühe und Schafe und liebt das Landleben. Die Bauern im Rheintal betreiben Milchwirtschaft, und viele bauen neben Kartoffeln auch Erbsen für die Konservenfabrik Hero an; so auch Gardis Grosseltern.

Seit 1886 stellt Hero Büchsenerbsen her. In den 1900er- Jahren steht die Fabrik noch in Frauenfeld, wo die umliegenden Erbsenfelder liegen, und auch im Rheintal stellen die Bauern auf das Gemüse um. Gardi Hutter lacht, als sie erzählt, dass sie in ihrer ganzen Kindheit immer nur «Puverli und Rüebli» – Schweizerdeutsch für «pois vert», grüne Erbsen, und Karotten – aus der Dose zu essen bekam und nie frische Erbsen, obwohl sie sogar beim «Puverle» mithalf, dem Pulen der Erbsen aus den Schoten. Aber das Gemüse ging in die Fabrik und landete erst aus der Büchse wieder auf dem Teller. «Aus heutiger Sicht war es ziemlich absurd. Man befand sich in einer Gegend voller frischer Erbsen und ass sie bei den Grosseltern und bei uns zu Hause aus der Büchse, aber wir Kinder liebten die Puverli und Rüebli. Und es gab sie nur am Sonntag.» Erst im Alter von etwa dreissig Jahren kommt sie nach einem Auftritt bei einem Abendessen in einem Kloster im Walsertal das erste Mal in Berührung mit frischen Erbsen – eine Offenbarung: «Ich fiel fast vom Stuhl, dass Erbsen einen solch intensiven Geschmack haben konnten, unglaublich. Aber Konserven galten in meiner Kindheit als modern – und meine Mutter hatte wenig Zeit zum Kochen.»

Die Grosseltern Dietsche mit ihren Kindern; Gardis Mutter vorne links.


Die Familie um die Grosseltern Hutter; Gardis Vater oben links.


Gardis Eltern, Irma und Erwin Dietsche, heiraten am 7. Oktober 1946 in Altstätten. Beide haben Schneider gelernt; sie bauen erfolgreich ein Modehaus auf.


1948 erwerben Hutters ein Haus an der Trogenerstrasse 24 in Altstätten. Im Erdgeschoss führen sie das Geschäft, darüber wohnt die Familie.


Ein Schaufenster Anfang der 1950er-Jahre. Das Modehaus E. Hutter führt Herren-, Damen- und Kinderkleider.


Ende der 1950er-Jahre können sich Hutters ein kleines Ferienhaus auf dem Ruppen und einen Zweitakter DKW leisten.


Sommerferien in Italien. Skeptisch betrachtet die kleine Gardi einen steinernen Löwen in Venedig – ob er nicht doch lebendig wird?


Gardi Hutter 1958 als Fünfjährige im Kindergarten; stolz bewältigt sie den Weg dorthin alleine.

Weihnachten bei Familie Hutter, es wird musiziert und viel gesungen. Auch sonst ist das Singen wichtig im Familienleben.

3 830,35 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
502 стр. 88 иллюстраций
ISBN:
9783039199679
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают