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VON DER BRAVEN KATHOLIKIN ZUR LINKEN IDEOLOGIN

Wenn die Mutter wüsste, was in Gardis Kopf mittlerweile alles vorgeht und was in ihrem Leben alles los ist! Die Schule interessiert sie kaum, die Noten sind auf Talfahrt. Sie kommt zwar mit, aber im zweiten oder dritten Jahr der Handelsschule beginnt sie, sich zu überlegen, die Schule abzubrechen. Sekretärin will sie sowieso nicht werden. Sie fängt an, davon zu träumen, auszubrechen, etwas von der Welt zu sehen, und überlegt sich, dass sie zwischendurch jobben könnte, um ihr Leben zu finanzieren, und dann würde sie die Matura nachholen und studieren.

Ihre Ideen und der Freiheitsdrang haben konkrete Ursachen. Im zweiten Jahr der Handelsmittelschule wird Gardi Hutter Teil der sich gerade formierenden kleinen linken Szene von St. Gallen. Sie besteht aus Schülerinnen und Schülern der Kantonsschule, Lehrlingen und Studenten der Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (HSG). Gardi Hutter ist durch die «Aktion rotes Herz», die im Januar 1970 zum öffentlichen Skandal wird, in diese Gruppe geraten. Auslöser der Aktion ist eine Liebesbeziehung zwischen einer Schülerin und einem Schüler, ein intimes Verhältnis, von dem die Schulleitung erfährt. Die beiden sind 18 und 19 Jahre alt und im letzten Schuljahr vor der Matura, aber die Reaktion folgt postwendend. Der Rektor bittet die Eltern dringend, ihre Kinder von der Schule zu nehmen, was faktisch einem Ausschluss gleichkommt. Er argumentiert, dass eine solch «neue Moral» an der Kantonsschule nichts zu suchen habe. Das führt zu aufgeregten Debatten in der Schülerschaft, und ein Grüppchen von neun Jugendlichen streut am 5. Januar 1970 ein Flugblatt mit dem Titel «Aktion rotes Herz». Darin heisst es: «Wir empören uns über die puritanische Vorgangsweise und die autoritäre Anmassung der Schulleitung, sich in solch tiefgreifender Art in die Privatsphäre zweier fast volljähriger Menschen einzumischen.» Wer die Aktion unterstützt, soll einen Protestknopf tragen und auf jedes Klausurblatt, auf jede Wandtafel ein rotes Herz malen. Durch das Flugblatt gerät das Thema in die Medien. Blick und Bild, das St. Galler Tagblatt und weitere Zeitungen berichten und machen daraus eine Romeo- und-Julia-Geschichte. Der prüde Rektor kommt in den meisten Blättern schlecht weg. Die Eltern des Liebespaars nehmen ihre Kinder zwar von der Schule, legen aber Rekurs ein, worauf der St. Galler Regierungsrat einen Untersuchungsbericht in Auftrag gibt. Der kommt zum Schluss, dass sich der Freund zwar mit sexuellen Angebereien und seinem Haschischkonsum wichtiggemacht habe, aber letztlich seien die Sanktionen des Rektors zu hart gewesen.

Dass das Thema solche Wellen zu schlagen vermag, ist nicht verwunderlich. In einer Mehrzahl der Kantone herrscht 1970 noch das sogenannte Konkubinatsverbot. In St. Gallen wird es erst 1984 aufgehoben. Unverheiratete Paare dürfen bis dahin also nicht zusammenwohnen, und ausserehelicher Sex ist tabu. Die Pille kommt in den USA zwar bereits 1960 auf den Markt, und Europa folgt nicht viel später, aber die katholische Kirche lehnt sie bis heute ab. Die Forderungen nach der freien Liebe sind Thema der Achtundsechziger-Bewegung und noch ganz jung.

An der Kantonsschule erkennt man zwar nach der «Aktion rotes Herz» einen gewissen Handlungsbedarf beim Thema Sexualität, doch revolutionär klingt noch nicht, was im Schulbericht 1969/70 steht: «Die Frage der Sexualerziehung muss intensiver an die Hand genommen werden; das Schuljahr 70/71 soll ein Versuchsjahr werden: einmal sollen die Klassen 3 g, 1 t, 1 w und 1 h eine mehrstündige Einführung in die Frage erhalten und mit Arzt und Theologen darüber sprechen […].» Ob ausgerechnet Theologen, womöglich katholische, die richtigen Auskunftgeber für die aufgewühlte Schuljugend sind? Das Wort «Sexualerziehung» deutet jedenfalls darauf hin, dass es mit einem liberaleren Geist noch nicht weit her ist.

Die Jugendlichen wollen sich nicht länger von autoritären Erwachsenen gängeln lassen. Der revolutionäre Geist hat St. Gallen erreicht. Es bildet sich eine «oppositionelle Basisgruppe», ein lose zusammengewürfelter Haufen. Sie mieten eine billige Wohnung im vierten Stock der Schwertgasse 3, fünf Minuten von Gardi Hutters Wohnung entfernt. Was für Altstätten die Kugelgasse, ist für St. Gallen die Schwertgasse, ein damals etwas verrufener Ort mit heruntergekommenen Häusern. Gardi Hutter hat Anschluss an das Grüppchen, das an der Schwertgasse ein- und ausgeht, und ist auch regelmässig dort anzutreffen. Sie befreundet sich dort mit einer jungen Frau, Doris Raschle, die Teil der «Aktion rotes Herz» war.

Etwa 15 bis 20 Leute gehören zu Gardi Hutters Kreis. Mit den Studenten der HSG hat sie wenig zu tun. «Das waren ‹die Grossen›, und die HSG haben wir als ‹Kaderschmiede der Bourgeoisie› verachtet», sagt sie.

Res Strehle, der damals an der HSG Wirtschaftswissenschaften studiert und später Chefredaktor des Tages-Anzeigers wird, schreibt in seinen Erinnerungen «Mein Leben als 68er», dass etwa vierzig Leute die ganze Achtundsechziger-Bewegung in St. Gallen ausgemacht hätten. «Die paar Genossinnen bildeten eine Frauengruppe, die paar Schwulen eine Homosexuellengruppe, die paar Humanisten eine Strafrechtsreformgruppe […]. Dieselben vierzig Leute demonstrierten gegen den Vietnamkrieg, simulierten einen 1.-Mai-Umzug und eine Studentenbewegung.» Die ganze «Bewegung» ist also recht überschaubar. Harry Rosenbaum, ebenfalls ein späterer Journalist, spricht von einer «Bonsai-68er-Bewegung» in St. Gallen.

Gardi Hutter erinnert sich an die Sitzungen ihrer «Projektgruppe Polit-Oekonomie», die sich jeden Dienstag trifft und kapitalismuskritische Bücher liest und zusammenfasst. «So versuchten wir, uns zu schulen und voneinander zu lernen. Wir lasen ‹Das Kapital› von Karl Marx, Ernest Mandels ‹Marxistische Wirtschaftstheorie› und Alexander Mitscherlichs ‹Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft›. Keine leichten Brocken für eine 17-Jährige. Wir meinten es ernst und wollten verstehen lernen, um damit auch andere aufzuklären. Wir waren beseelt davon, eine bessere Welt zu schaffen, und meinten, dass es dazu nur mehr Gerechtigkeit brauche. Es gab grosse Unterschiede in der Runde. Da waren einerseits die grossen Redner, die mühelos ihre Wissensfetzen kombinierten, und andererseits die Schweiger. Ich hörte vor allem zu.» In Gardi Hutters Akten findet sich ein Ordner mit auf Schreibmaschine getippten, lila vervielfältigten «Schnapsmatrizen». In der Einleitung heisst es: «Die Projektgruppe ‹Polit-Oekonomie› setzt sich mit der vorliegenden Arbeit eine Zusammenfassung des ‹Kapitals› von Karl Marx zum Ziel. […] Die Zusammenfassungen werden jeweils 1 Woche vor der Sitzung verteilt und zuhause studiert. An der Sitzung wird der ganze Stoff von einem Mitglied der betr. Projektgruppe kurz vorgetragen. Unklarheiten werden erläutert und diskutiert. Fehler in Wiedergabe und Aufbau verbessert.» Anschliessend soll eine Fassung für «Studenten und Linke» sowie eine «leicht verständliche Arbeiterschulung» erstellt werden. Zwischen den Schnapsmatrizen finden sich handschriftliche Notizen der jungen Politaktivistin, auf denen sie Sätze festgehalten hat wie «Konzentration ist Anhäufung von Kapital in wenigen Händen». Die jungen Leute nehmen ihre Sache ernst. Am Ende des Ordners finden sich 35 Kontrollfragen: «1) Welches sind die zwei Faktoren der Ware? 2) Was ist allen Waren gemeinsam? 3) Welches ist das Mass aller Werte? […] 17) Unter welchen rechtlichen Verhältnissen verkauft der Arbeiter heute seine Arbeitskraft? […] 25) Kannst du die Formel über die Masse des Mehrwerts aufzeichnen? […] 34) Zeichne ein Schema der einfachen Reproduktion.»

Es wird gestritten, debattiert, von neuen Lebensentwürfen geträumt. Grosses Feindbild sei «das System» gewesen, schreibt Eugen Sorg, ein weiterer Journalist, in seinem Buch «Mein Leben als 68er»: «Das System umfasste alles: die kapitalistische Ausbeutung, das Schutzalter, die Napalmbombe, die Schulnoten, die Gasöfen, das Deodorant und das manipulierte Bewusstsein, das die Leute zu willigen Komplizen der eigenen Unterwerfung machte.»

Joints und andere Drogen machen die Runde. Gardi ist mittendrin, macht mit, probiert aus. «Im Nachhinein denke ich manchmal, dass ich Glück hatte, dass ich aus alledem wieder heil herausgekommen bin. Ich war hungrig nach anderem Leben, nach intensiven Gefühlen und habe sehr viel ausprobiert, ohne wirklich zu wissen, worauf ich mich einliess.»

Im Sommer 1970 verbringt sie mit Elisabeth, einer Freundin aus der Schule, und deren Familie Ferien im kroatischen Split. Die Erlaubnis dazu hat sie bekommen, weil es sich in den Augen der Eltern um eine anständige, gutbürgerliche Familie handelt, die Gardi gewiss unter Kontrolle haben wird. Elisabeth und Gardi sind beide aktiv im linken Grüppchen und offen für alles. Tagsüber lesen sie Mitscherlich, und eines Abends nehmen sie LSD, und zwar auf einem Steg, der weit ins Meer hinausragt. «Es war ein heftiger LSD-Trip, und die ganze Welt um uns begann so enorm zu schwanken, dass wir kaum mehr den Weg zum Ufer zurückfanden. Wir probierten viele Dinge aus, ohne uns gross Gedanken über die Konsequenzen zu machen oder sie abschätzen zu können. Es war manchmal lebensgefährlich und hätte auch gründlich schiefgehen können.» Als Gardi Hutter und ihre Mitkämpfer beginnen, mit Drogen zu experimentieren, geht es den jungen Leuten vor allem um die Bewusstseinserweiterung, um die Befreiung von Zwängen, wovon in dieser Zeit mehrere «wissenschaftliche» Bücher künden. Erst als es die ersten Drogentoten gibt, läuten die Alarmglocken, und viele, auch Gardi, werden vorsichtiger.

ROTER GALLUS UND EINE ERSTE FRAUENGRUPPE

Schon vor den Sommerferien, im Frühling 1970, ist in der politischen Gruppe beschlossen worden, eine neue Agitationszeitung mit dem Namen Roter Gallus herauszugeben. Der Vietnamkrieg, der Antiimperialismus und das gesellschaftliche Establishment werden thematisiert. In der ersten Ausgabe vom Juni 1970 findet sich auch eine Glosse über «Kirchliches», die sich über den Landesbischof von St. Gallen mokiert. Und in der zweiten Ausgabe steht als Titel ein Zitat von Wolfgang Borchert: «Dann gibt’s nur eins: sag NEIN!». Daneben ist ein Panzer mit Schweizerkreuz abgebildet. Es folgten ein Gedicht und darunter ein Text mit dem Titel «Der Kriegsdienstverweigerermensch». Damit ist klar: Der Rote Gallus ruft zur Verweigerung des Militärdienstes auf. Die Zeitung wird verboten. Diese Zensur schafft schweizweit so viel Publizität, dass sich die Hefte nun unter der Hand leichter verkaufen lassen. Und das linke Grüppchen, bis anhin eher mitleidig belächelt, wird jetzt ernst genommen. Es folgt ein dreijähriger Prozess über mehrere Instanzen. Er dreht sich um die Frage, ob mit dem Borchert-Zitat Schweizer Wehrmänner zur Kriegsdienstverweigerung aufgerufen wurden. Die Antwort des Bundesgerichts lautet: Ja! Der Redaktionsleiter S. wird zu einer Woche Gefängnis bedingt verurteilt. Zwei Nebenangeklagte werden freigesprochen.

Gardi Hutter traut sich das Verfassen eigener Artikel für den Roten Gallus noch nicht zu, sie ist aber an allen Diskussionen dabei, sucht Material zusammen und arbeitet bis spätnachts bei der Produktion des Hefts mit. Und sie beobachtet die Gruppendynamik. Irgendetwas klemmt. Auf dem Heimweg redet sie mit ihren Freundinnen, die ebenfalls missmutig scheinen, und sie kommen darauf, was ihnen aufstösst. «Uns Frauen fiel auf, dass immer wir den Kaffee machten, für die Flugblätter den handbetriebenen Matrizendrucker bedienten und den Gallus zusammenhefteten. Auch bei den Revoluzzern waren wir die Sekretärinnen. Wir beschlossen, uns separat zu treffen und das zu diskutieren. Die gesellschaftliche Entwicklung lief parallel zu meiner eigenen. Als sich die Frauen zu emanzipieren begannen, also gesellschaftlich erwachsen wurden, wurde auch ich erwachsen. Persönliche und politische Fragen überschnitten sich. Ich begann, mir Fragen zu stellen. Wieso reden immer nur die Männer, wir Frauen schweigen und sind zuständig für die undankbaren Arbeiten, die am Ende niemand sieht? Wissen sie wirklich mehr, oder reden sie nur lauter? Wieso habe ich als Mädchen immer nur Nachteile? Wieso dürfen meine Brüder, was ich nicht darf? Wieso ist uns Frauen alles verboten, was Lust macht? Meine Kolleginnen und ich tasteten uns noch unbeholfen an Frauenthemen heran. Wir sagten Sätze, die uns selbst erschreckten. Wir wagten, Verbotenes zu denken, und fühlten uns dabei ungeheuerlich. Wir lasen Simone de Beauvoirs ‹Das andere Geschlecht›, und uns gingen die Augen auf.» Die Sätze, die sie im Buch der französischen Philosophin findet, sind eine Offenbarung, wenn es heisst: «Er ist das Subjekt, er ist das Absolute: Sie ist das Andere», oder: «Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.» Das Thema Feminismus dringt unvermittelt in das Bewusstsein der jungen Frauen – die unterschiedliche Behandlung der Geschlechter, Vorurteile und Stereotype. Und wie sie selbst sagt, fällt ihr erwachendes Bewusstsein für Frauenfragen zusammen mit einem neuen Aufbruch in der Frauenbewegung. Die Forderungen nach sozialer und politischer Gleichstellung der Geschlechter gibt es zwar schon seit dem 19. Jahrhundert, aber Ende der 1960er-Jahre akzentuieren sie sich.

1969 marschieren 5000 Frauen und Männer nach Bern, um dagegen zu demonstrieren, dass der Bundesrat die Europäische Menschenrechtskonvention nur mit Vorbehalt zum Frauenstimmrecht unterzeichnen will. Es gehört endlich eingeführt. Am 7. Februar 1971 wird die Vorlage mit zwei Dritteln Ja-Stimmen endlich angenommen. Noch später sind in Europa nur Portugal und Liechtenstein. Der Vater habe 1971 gewiss dafür gestimmt, sagt Gardi Hutter, und die Mutter sei wohl nicht dagegen, aber auch nicht richtig dafür gewesen. Konservative Schweizerinnen sind lange der Meinung, dass es ausreiche, wenn sich die Männer um die Politik kümmerten. Diese würden schon alles richtig machen.

Ende der 1960er-Jahre formiert sich auch die sogenannte neue Frauenbewegung, dazu gehört die Frauenbefreiungsbewegung FBB. Befreiung ist das zentrale Stichwort für die aufmüpfigen, linken jungen Frauen. Sie lehnen sich auf gegen die sogenannt bürgerliche Frauenbewegung, die über rechtliche Änderungen und Integration in das bestehende Gesellschaftssystem die Gleichstellung erreichen möchte. Die Frauen der FBB haben einen anderen Fokus. Sie kämpfen für die Legalisierung der Abtreibung, lehnen herkömmliche Hierarchien ab und sehen im Feminismus den Drehpunkt für grundsätzliche gesellschaftliche Veränderungen. In der Nummer sieben des Roten Gallus vom Juni 1971 findet sich ein Comic mit dem Titel «Der Kapitalismus schlägt Männer und Frauen». Er zeigt, wie zwar Männer und Frauen bei der Arbeit von ihren Chefs unterdrückt werden; wenn sie dann aber nach Hause kommen, setzt sich der Mann vor den Fernseher, während die Frau kocht, abwäscht, Kinder tröstet, bügelt und am Ende zu müde für aufregenden Sex ist. Darunter steht im Text, dass es schwerlich das höchste Ziel der Frauen sein könne, gleichberechtigt wie ihre Männer in der Tretmühle eines Betriebs ausgelaugt zu werden oder in die Kriege der Herrschenden zu ziehen. Etwas Grundlegendes müsse sich ändern. Gardi Hutter saugt die feministischen Ideen wie ein Schwamm auf.

Neben allem Neuen, das die junge Frau in ihrer St. Galler Zeit lernt und ausprobiert, holen sie aber auch altbekannte Themen ein. Das Gefühl der Fremdheit, des nicht ganz Dazugehörens, empfindet sie weiterhin. Ihr Umfeld hat sie sich nun zwar ausgesucht, und die rebellischen Jugendlichen gefallen ihr. Sie ist Teil einer Clique, das inhaltliche Kontrastprogramm zur katholischen Kindheit tut ihr gut, der Feminismus interessiert sie. Trotzdem fühlt sie sich nicht wirklich dazugehörig: «Ich kam aus einer Kleinstadt, quasi vom Land, aus einem bildungsfernen Elternhaus. Bei uns zu Hause wurde nie über Politik diskutiert. Ich war ignorant, deshalb schwieg ich, hörte zu, und nachts schaute ich im Duden nach, was die Fremdwörter bedeuteten. Der Duden war das am meisten durchgeblätterte Buch jener Zeit.»

So, wie sie als Kind fromm war, kippt sie nun genau in die andere Richtung und glaubt ebenso intensiv an die linke Ideologie. Vom braven katholischen Mädchen wird sie innerhalb weniger Jahre zur linken Politaktivistin. Wenn sie jetzt zur Fasnachtszeit nach Altstätten kommt, kann sie ihre Begeisterung aus Kindertagen überhaupt nicht mehr nachvollziehen. Das wilde, bunte Treiben scheint ihr nichts anderes als ein grosses Besäufnis. Brave Bürger dürfen sechs Tage im Jahr über die Schnur hauen, und die anderen 359 stehen sie unter Zwang.

Und was sich in Rorschach erst zaghaft anbahnte, vollzieht sich in der St. Galler Zeit schnell und radikal: Mit der linken Ideologie kommt ihr der katholische Glaube schnell und gründlich abhanden beziehungsweise wird kurzerhand ausgetauscht gegen den politischen Befreiungsglauben – in ihrem Absolutheitsanspruch sind sie sich nicht unähnlich.

ERSTE LIEBEN, ERSTE ENTTÄUSCHUNGEN

Nicht nur in der Politik, auch in der Liebe will Gardi Hutter ihre Wissenslücken füllen. Es gibt mittlerweile die Pille, und das Thema «freie Liebe» gehört mit auf die Agenda der jungen Leute um sie herum, erst recht nach der «Aktion rotes Herz». Ausgiebig wird in jenem Jahr unter den Schülerinnen und Schülern über die Prüderie der Erwachsenen diskutiert. Gardi Hutter ist 17 Jahre alt und will es nun endlich auch wissen. Sie folgt einem Freund in seine Wohnung, doch als er sich auszieht und nackt vor ihr sitzt, meint sie, diese pralle, rot glänzende Rute sei ein Geschwür, und flüchtet entsetzt. Sie hat ja noch nie einen nackten Mann gesehen und weiss nichts über Geschlechtsteile, auch nicht über ihre eigenen. Und da sie schon 17 ist, schämt sie sich, Freundinnen zu fragen. Sie will sich nicht lächerlich machen. Wenn sie es heute erzählt, lacht sie, auch darüber, dass dieser erste Versuch gründlich misslang. Ein zweiter Anlauf gelingt. «Ich bin mit einer Freundin nach Zürich gefahren, an das Fest einer Kommune auf einem Bauernhof. Dort ist es einfach passiert und war sehr locker und schön. Ich war dann verliebt in den jungen Mann, aber er leider nicht in das Provinzmädchen, das war eine Enttäuschung.» Die Welt der Beziehungen zum anderen Geschlecht öffnet sich, doch das Suchen und Finden der Liebe ist nicht einfach. Seit dem ersten Jahr an der Kantonsschule ist sie ständig heimlich verliebt und malt verträumt all ihre Schulhefte mit den Anfangsbuchstaben der Jungs voll, für die sie schwärmt. Einem gesteht sie die Verliebtheit. Sie blitzt ab, weil er schon eine Freundin hat.

Doch nach der «ersten Nacht» wird sie immer mutiger und verspielter. Sie lässt sich mit einem kanadischen Strassenmusiker ein und zieht mit ihm ein paar Tage durch die Schweiz. Prompt taucht die Mutter in St. Gallen auf und findet sie dort nicht. Als Gardi dann erzählen muss, wo sie war, und die Mutter mit besorgter Miene nur ganz knapp das Unaussprechliche fragt – «Hast du?» –, weist sie diesen Verdacht so empört zurück, dass die Mutter ihr glaubt.

Der Musiker zieht weiter, aber Gardi will nicht mit. Sie lässt sich nun mit mehreren Gleichaltrigen ein, das scheint ihr die einfachste, tiefgreifendste und genussreichste Form von Rebellion zu sein. In den Projektgruppen wird heiss diskutiert, aber die Funken fliegen auf allen Ebenen. Diskussionen gehen oft übergangslos in Schmusereien über. «Wir waren überzeugt, dass die Befreiung der Gesellschaft mit der eigenen Befreiung beginnt, und die musste ganzheitlich sein. Dass man das konnte, dass man das durfte, ja schon fast musste, war Teil des ganzen damaligen Umbruchs in Bezug auf die Sexualität. Diese Art der Befreiung war wie ein politischer Akt. Und da Besitzanspruch verpönt war, blieben es lockere Begegnungen von kurzer Dauer.» Die erste längere Beziehung lässt auf sich warten.

Eines Tages erzählen ihr drei Burschen aus ihrem politischen Grüppchen, dass sie alle in sie verliebt seien. Gardi Hutter hat sich mittlerweile zu einer attraktiven jungen Frau entwickelt. Die Zöpfe sind längst verschwunden. Das glatte, blonde Haar trägt sie lang und offen. Mit 1.57 Metern ist sie klein, schlank und hübsch. Doch es quälen sie Selbstzweifel. «Ich habe mich stundenlang vor dem Spiegel gedreht und gewendet und fand alles falsch an mir: zu klein, zu dick, zu hässlich, zu wenig Busen, zu wenig Taille. Ich war sicher, dass ich unattraktiv bin und nie jemandem gefallen könnte.» Umso überraschter ist sie vom Geständnis des Verehrertrios. «Es gefielen mir alle drei jungen Männer. Einen habe ich dann erhört. Das war meine erste längere Liebschaft.» Er heisst Markus und scheint ihr aufregender als die beiden anderen Verehrer. «Mir gefiel, dass er eigenwillig und speziell war, und die erotische Anziehung war stark.» Markus ist Lehrling, mittelgross, blond und schlank. Sohn einer alleinerziehenden Mutter. Er wohnt an der Schwertgasse und nimmt Gardi auch mit nach Hause zu seiner Mutter, die liberal denkt. Markus’ Freundin darf dort übernachten. Gardi ist sehr verliebt in diesen ersten richtigen Freund und erzählt, dass erstmals so etwas wie Vertrautheit auch die körperliche Liebe mitgestaltet habe.

Wenn ihre Eltern wüssten! Aber sie wissen nichts oder fast nichts. Bei Besuchen daheim nimmt sich Gardi Hutter zusammen, spricht weder über Marxismus noch über Joints oder den Bettgefährten. Eltern und Brüder haben lange Zeit keine Ahnung von Gardis wilden St. Galler Zeiten. Doch die Wohnung an der Schwertgasse wird polizeilich überwacht. Es wird beobachtet, wer ein- und ausgeht, und eines Tages ruft die Polizei bei Hutters in Altstätten an. Sie sollten doch mal schauen, wo sich ihre Tochter überall herumtreibe, wird ihnen am Telefon geraten.

Irma Hutter ist geschockt. «Meine Mutter kam sofort angereist, und es war natürlich Feuer im Dach. Ich erinnere mich, wie sie am Tisch sass und zu mir sagte: ‹Wenn ich sterbe, bist du schuld.›» Und so kommt ans Licht, dass Gardi sich mit «verlausten Typen» herumtreibt, irgendwelchen linken Ideen nachhängt und Zigaretten raucht. Viel mehr kommt aber nicht aus. Gardi Hutter hat früh gelernt, wie man Dinge leugnet und beschönigt. Ihr Schauspieltalent hat ihr dabei immer geholfen, so auch jetzt. Sie schafft es wiederum problemlos, die Situation zu verharmlosen. Die Mutter erfährt weder, dass sie einen Freund hat und die Pille nimmt, noch dass sie Drogen ausprobiert hat. All das ginge auch weit über ihr Vorstellungsvermögen hinaus. Besser man schont sie.

Eines Morgens klingelt die Polizei sogar selbst an der Spisergasse 15. Ein Nachbar hat Gardi Hutter angezeigt. Sie habe Herrenbesuch über Nacht. Es herrscht ja wie gesagt Konkubinatsverbot in St. Gallen. Und ja, Markus ist in der Wohnung und versteckt sich schnell im Schrank, wie in einer Komödie. «Die Polizei kam rein, und ich hatte den Eindruck, es war ihnen etwas peinlich, dass sie sich umschauen mussten. Aber klar, es gab ein Verbot, und der Nachbar hatte sie alarmiert.» Der Freund bleibt unentdeckt, und die Ordnungshüter ziehen bald wieder ab.

Doch die Beziehung mit Markus gestaltet sich auf die Dauer nicht so einfach. Gardi ist beziehungsunerfahren, und in diesen neuen rebellischen Zeiten, in denen alles anders, offener und weniger prüde sein soll, gilt es, die hohen Ansprüche an Freiheit und Liebesbedürftigkeit zusammenzubringen. Die jungen Menschen versuchen, ehrlich und authentisch miteinander umzugehen, doch gelernt haben sie das nirgends. Die Konflikte sind heftig, die Lösungen rar – oder radikal. Markus verlässt Gardi und zieht mit ihrer besten Freundin Doris Raschle zusammen. Man kennt sich aus dem politischen Grüppchen. Für Gardi ist es ein doppeltes Drama. Sie verliert ihre zwei nächsten Menschen und verkriecht sich untröstlich in ihr Zimmer, will niemanden sehen. Sie beschliesst, in einem halben Jahr, sobald sie ihr Diplom hat, ins Ausland auszuwandern.

Als sie eine Telefonkabine aufsucht, um dort einer Freundin weinend alles zu erzählen, öffnet ein Trompeter die Tür und spielt dem traurigen jungen Mädchen etwas vor. Es ist Fasnachtszeit, und er gehört zu einer Guggenmusik, die durch St. Gallen zieht. Tolles Treiben gegen die Traurigkeit kennt Gardi von der Altstätter Fasnacht. Sie muss lachen und zieht der Gugge nach. Der Trompeter heisst Rudi, er tröstet sie und wird ihr nächster Freund. Ein liebenswerter, ein paar Jahre älterer Goldschmied, der sie mit viel Charme aus dem Loch zieht.

Das katholische Mädcheninternat Stella Maris in Rorschach, wo Gardi Hutter von 1966 bis 1968 die Sekundarschule besucht.


Gemäss Internatsprogramm will man die Mädchen zu «bescheidenen, gesitteten, braven, für die Haushaltung tüchtige und brauchbare Töchter heranbilden». Die exakte Vorgehensweise beim Fensterputzen hat Gardi Hutter feinsäuberlich in ihrem Haushaltsordner notiert.


Rosalie Leupp, eine Freundin der Mutter, wird über die Jahre zum Vorbild und zur engen Vertrauten in den schwierigen Teenagerjahren.

Gardi probiert alles aus und provoziert, so viel sie kann. Hier sitzt sie auf dem Dach des Hauses, in dem sie wohnt; in der Altstadt von St. Gallen.

Die Rebellen der Achtundsechziger-Bewegung treffen sich an der Schwertgasse 3 und befassen sich mit Kapitalismuskritik (Gardi vorne rechts).


Rechts: Sommer 1971, Gardi ist 18 Jahre alt und reist mit Freundin Marlis nach Prag, um den real existierenden Sozialismus kennenzulernen. Ernüchterung folgt: Die tschechische Hauptstadt erscheint ihnen trist und freudlos.


Was heute das «Selfie», ist damals das Passfoto aus dem Automaten. Gardi hadert lange mit ihrem Körper und Aussehen, denkt, dass sie unattraktiv sei und niemandem gefallen könne.

April 1972. Die Abschlussklasse der Handelsmittelschule. Gardi Hutter, unten rechts, lächelt. Sie freut sich auf die Zukunft: Bald sitzt sie im Zug nach Paris.

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