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«Ohne Znacht ins Bett» – die kleine Rebellin

Das Vierfamilienhaus an der Begonienstrasse 2 in Oerlikon sieht recht unschweizerisch aus. Hier verbringt Ruth ihre ersten zehn Lebensjahre. Erbaut 1905 von Fritz Scotoni mit grob behauenen Steinquadern im Sockelbereich, roten Fenstereinfassungen, Sichtfachwerk und einer Hausecke, die der Architekt einfach abgeschnitten zu haben scheint. Anstelle eines 90-Grad-Winkels gibt es einen kleinen, dreieckigen Balkon im ersten Stock mit einem Ziegeldach. Ruths Mutter bepflanzt ihn mit Geranien. Das Haus ist andeutungsweise abgerundet, verfügt über Erker und einen flachen, aufgesetzten Turm. Es ist eine Mischung aus Mittelalter, Fantasieland und altenglischem Landhaus und steht heute unter Denkmalschutz.

Mittags kommt Paul Gattiker aus dem Büro nach Hause. Vom Arbeitsplatz des Vaters beim Bahnhof Oerlikon sind es 20 Minuten zu Fuss. Die Mutter hat gekocht. Die Familie isst zusammen. Der Vater schöpft sich zuerst. Am Tisch herrscht eine strenge Ordnung. Die Eltern sprechen, die Kinder schweigen, und was immer auf dem Teller liegt, wird ohne Diskussion gegessen. Ruth Gattiker kann bis ins hohe Alter nichts auf dem Teller liegen lassen. Auf dem Rückweg zum Arbeitsplatz gönnt sich der Vater eine Zigarette. Abends kommt nur noch etwas Kleines auf den Tisch, oftmals Brot und Käse. Ruth erinnert sich, immer wieder mal «ohne Znacht ins Bett» geschickt worden zu sein. «Ich war ein schwieriges Kind, ein aufmüpfiger Teenager, habe meinen Eltern oft Sorgen gemacht», sagt sie. Sie ist ein Dickschädel, hat eigene Ideen und Vorstellungen. Wenn sie ohne Abendbrot ins Bett muss, schleicht sich Marianne später zur grossen Schwester ins Zimmer und bringt ihr heimlich eine Ovomaltine. Sie hat Angst, Ruth könnte verhungern. Marianne ist die Pflegeleichte, Umgängliche, Ruth die Widerspenstige. Sie hat ihren Kopf und versucht stets, ihn durchzusetzen. Einmal sieht sie an der Bahnhofstrasse im Bally Capitol ein paar wunderschöne Wildlederschuhe. Die möchte sie haben. «Du brauchst doch keine solchen Schuhe. Die sind viel zu fein, viel zu heikel.» Die Mutter ist dagegen, aber Ruth stürmt und bettelt so lange, bis sie ihren Willen bekommt. Danach hat die Mutter ein schlechtes Gewissen, dass sie der Tochter die schönen, teuren Schuhe gekauft hat. Sie werden nicht zu den anderen gestellt, sondern kommen in den Keller, damit der Vater sie nicht rumstehen sieht. An den Füssen fallen sie ihm dann offenbar nicht auf.

Die Wohnung von Familie Gattiker hat vier Zimmer: das Elternschlafzimmer, das gemeinsame Kinderzimmer der Töchter, die Stube, wo die Familie sich aufhält, und der Salon, der mit einer Schiebetür geschlossen bleibt und nur für Besucher geöffnet wird. Der Vater hat dort auch noch einen Schreibtisch und empfängt ab und zu Besucher im Zusammenhang mit seinen Ämtern. Ausserdem steht Ruths Klavier im Salon. Sie hat es von ihrer Patentante Lilly Gattiker, der Frau ihres Onkels August, geschenkt bekommen. Die Fabrikantengattin gehört zur Oberschicht, Klavierspiel ist Teil der Erziehung einer höheren Tochter, und Ruth Gattiker berichtet, wie grosszügig die Patentante immer gewesen sei, dass sie an die 30 Patenkinder in Richterswil gehabt und sich sozial engagiert habe.

Begonienstrasse 2 in Oerlikon. Familie Gattiker wohnt in der ersten Etage.

Mit zehn beginnt Ruth mit dem Klavierunterricht, und weil sie Talent zeigt, engagiert man eine ausgebildete Konzertpianistin als Lehrerin, Lise Andreae-Keller. Sie ist die Schwiegertochter von Volkmar Andreae, Schweizer Komponist, Dirigent und von 1906 bis 1949 Leiter des Tonhalle-Orchesters. Nach ihrer Scheidung verdient Lise Andreae-Keller ihren Unterhalt mit Klavierstunden. «Sie war sehr verlottert», berichtet Ruth, «und während sie mir Unterricht gab, hat meine Mutter an der Jacke oder dem Mantel, den sie an der Garderobe aufgehängt hatte, diskret Knöpfe wieder angenäht oder den Saum geflickt. Meine Mutter war schnell und geschickt im Nähen und hat alle unsere Kleider selbst genäht. Sie hat sich alles durch Zuschauen bei einer Störschneiderin, die eine Weile zu uns kam, abgeschaut. Die Schneiderin hiess Mademoiselle Pittet und hatte lange, feuerrot lackierte Fingernägel, was Marianne und mich unglaublich faszinierte.»

Da man das Klavier nun mal hat, erhält auch Marianne Stunden, aber sie möchte lieber Geige spielen. Ein Wunsch, der erfüllt wird. Auch für sie wird eine Lehrerin mit Solistendiplom engagiert. Es ist ein finanzielles Opfer für die Eltern, aber die beiden Mädchen sind begabt, haben Freude an der Musik, und womöglich eifert man mit diesem bildungsbürgerlichen Teil der Erziehung auch ein wenig der besser betuchten Verwandtschaft nach. «Ich war immer technisch und theoretisch gut, wenn es um Musik ging, beim Spielen und Interpretieren war meine Schwester besser», erzählt Ruth. Als Marianne die Handelsschule besucht, nimmt man sie im Akademischen Orchester auf. Lise Andreae-Keller hält auch Ruth für begabt, und nach einiger Zeit schlägt sie ihr vor, sie könnte das Klavierspiel zum Beruf machen. Ruth lehnt ab. Talent habe sie vielleicht schon gehabt, sagt sie, aber das Genie, um es ganz an die Spitze zu schaffen, nicht. So sei es mit vielen Dingen in ihrem Leben gewesen. Sie sei nie in eine bestimmte Richtung übermässig begabt gewesen. «Ich war kein Überflieger in einem Bereich, aber ich konnte vieles, und was immer ich erreichen wollte, habe ich geschafft.»

Zur Wohnung gehört auch ein Kellerabteil, dort befindet sich ein sogenannter Eisschrank, der Vorläufer des Kühlschranks, der in der Schweiz erst in den 1950er-Jahren Einzug halten wird. Einmal pro Woche kommt der Eislieferant und bringt grosse Eisblöcke, die in den Holzschrank mit isoliertem Eisfach gelegt werden. In den Fächern darunter lagert man Milch, Käse und Gemüse. Nach einer Woche ist das Eis geschmolzen, dann wird neues geliefert. Ähnlich sieht es mit dem Abwasser aus. Das Haus ist in den 1920er-Jahren noch nicht an die Kanalisation angeschlossen, sondern hat ein Auffangbecken, das einmal pro Woche ausgepumpt wird. Die Mädchen ekeln sich davor, wenn wieder der «Stinkwagen» kommt.


Bertha Gattiker-Frischknecht mit ihren Töchtern Marianne und Ruth (rechts) Anfang der 1930er-Jahre.

1933 zieht die Familie in ein moderneres Haus um. Der Grund ist eine Änderung in der Familienkonstellation. Weidmanns, Freunde der Eltern aus der Zeit in Ägypten, lassen sich scheiden. Die Frau, eine Bulgarin, kehrt nach Warna zurück. Sohn und Tochter bleiben beim Vater in der Schweiz. Familie Gattiker nimmt Rosmarie Weidmann bei sich auf. Sie ist gleich alt wie Marianne, hat ebenfalls dunkelbraune Haare, und überhaupt ähneln sich Rosmarie und Marianne stark. Ein drittes Mädchen in der Familie Gattiker. Weil die Wohnung an der Begonienstrasse nun zu klein ist, zieht die Familie in eine unweit gelegene Wohnung an der Schwamendingerstrasse 24. Hier erhalten Marianne und Rosmarie gemeinsam ein Zimmer, Ruth als Älteste hat Glück: Die Wohnung verfügt über ein Dachzimmer einen Stock höher. Das bekommt sie und ist selig. Ein eigenes Zimmer in hübschem Abstand zum Rest der Familie. Es interessiert sie schon lange, was sich nachts zuträgt. Immer verschläft man diese geheimnisvolle Zeit. Sie stellt nun öfters den Wecker auf Mitternacht, steht auf, geht ans Fenster, beobachtet den Himmel und lauscht den Geräuschen. Manchmal liest sie auch noch eine Weile, bevor sie zufrieden weiterschläft. Niemand hat etwas gemerkt. Sie liebt diesen neu gewonnenen Freiraum. Wenn die Familie unterwegs ist mit den beiden dunkelhaarigen und dem rothaarigen Mädchen, dann sieht es so aus, als wäre Ruth das aufgenommene Kind und nicht Rosmarie. Ruth Gattiker erzählt es lachend. Es hat sie nicht gestört.

Es gibt noch eine weitere befreundete Familie, die Pupikofers. Sie haben ebenfalls zwei Mädchen, Lilly und Melanie. Lilly ist Ruths Schulfreundin und Melanie Mariannes, sie gehen jeweils in die gleichen Primarschulklassen. Pupikofers sind wohlhabend. Sie wohnen in einem schönen Einfamilienhaus an der Ringstrasse und besitzen ein Auto, mit dem sie Ausfahrten machen oder in die Ferien fahren. Das ist in den 1930er-Jahren aussergewöhnlich. Ruth Gattiker erinnert sich nur an eine einzige Ferienwoche mit ihren Eltern und der Schwester in Unteriberg zum Wandern. Ferienlager und Landdienst bestimmen die Schulferienzeit von Ruth, und oft ist sie im Sommer bei den Grosseltern oder bei Tante Lina in der Ostschweiz.

Ruth liest gerne und spielt Klavier, aber sie ist keine Stubenhockerin. Zwölf Mal versieht sie den Landdienst Mitte der 1930er-Jahre, manchmal drei Mal pro Jahr, im Frühling, Sommer und Herbst. Das Landleben gefällt der Oerlikonerin. Lange Zeit möchte sie Bäuerin werden. Mit zwölf Jahren tritt sie den Pfadfinderinnen Manegg bei und wird dort später Gruppenleiterin. Die Pfadilager findet sie toll, das Leben draussen, die Gemeinschaft mit den anderen, die Führungserfahrung. Die Meitlipfadi, wie sie in Zürich genannt wird, gibt es damals seit zehn Jahren. Ruth ist sportlich; auch das ein Gegensatz zur Schwester. Sie fährt gerne Ski, geht im Winter in Skilager, und im Schulturnen gehört sie zu den Besten. Mit 12 oder 13 wird sie Erste im Hochsprung im Kreis 11, und weil sie so dünn ist, nennen die Kameradinnen und Kameraden sie scherzhaft «das fliegende Skelett». Im Winter liebt sie das Eiskunstlaufen. In Oerlikon hat es auch ein Eisfeld, aber auf der schönen Dolder-Eisbahn gefällt es ihr besser, und sie nimmt den einstündigen Fussweg in Kauf. Zu Beginn fährt sie nur mit Kufen, die an die Winterschuhe geschnallt werden, doch dann bekommt sie richtige Schlittschuhe, auf die sie stolz ist, und die Mutter näht ihr ein Röckchen dazu, das sie liebt. Es ist das einzige Kleid, das sie wirklich mag: «Am liebsten hätte ich immer nur weite Kutten mit einem Strick um die Taille getragen, so wie die Mönche. Ich wollte nichts, das mich einschnürt. Kleider mussten einfach und bequem sein.» Der neutrale Arztkittel wird diesem Bedürfnis später Rechnung tragen, aber bis dahin ist es noch weit.

Ruth liebt die Schule vom ersten Tag an. Sie ist eine gute Primarschülerin, sprachlich und mathematisch begabt. Sie liest viel, ist wissensdurstig, würde gerne ans Gymnasium gehen. In der vierten oder fünften Klasse kommt der Gedanke das erste Mal auf, als ein älteres Mädchen, Cécile Kleiner – Ruth weiss den Namen 80 Jahre später immer noch –, nach der sechsten Klasse in die Stadt ans Gymnasium darf. Das will Ruth auch. Der Vater ist dagegen. «Wenn ich sagte, dass Cécile doch auch darf, wurde das sofort abgeklemmt», erzählt sie, und leicht entrüstet fügt sie hinzu: «Die durfte zwar aufs Gymnasium, aber später hat sie nicht mal studiert. Sie hat gar nichts daraus gemacht, sondern gleich geheiratet. Zwei Jahre nach mir durfte dann auch Melanie Pupikofer ans Gymnasium, und ihre Schwester Lilly ging mit mir in die Handelsschule.»

Niemand aus Ruths Jahrgang in Oerlikon geht nach der sechsten Klasse ins Gymnasium. Die Sekundarschule tut es auch für Ruth und später für Marianne, findet der Vater, und danach kann man immer noch schauen. Die Argumente gegen die höhere Bildung für Mädchen sind bei Gattikers zu Hause dieselben wie überall in der damaligen Zeit: Es bringt nichts, wenn Mädchen studieren, sie heiraten sowieso, haben Kinder und geben den Beruf auf, dann war die lange Ausbildung umsonst. Ausserdem finden «Blaustrümpfe» – also gebildete und demzufolge unweibliche Frauen – keinen Mann. Männer wollen Frauen, die zu ihnen aufschauen und sie bewundern. Zu viel Bildung kommt da in die Quere. Ruth hört solche Argumente zu Hause auch, aber sie beeindrucken sie nicht, und sie wird als Erwachsene die Erfahrung machen, dass die Welt etwas differenzierter ist als diese Stereotypen. Ihr brillanter Kopf wird auf mehrere intellektuelle Männer eine grosse Anziehung ausüben.

Mitte der 1930er-Jahre beginnt Ruth die Sekundarschule in Oerlikon, wie es der Vater gewünscht hat, und genau so wie alle anderen. Das eigensinnige, rothaarige Mädchen fügt sich. Noch hat es keine andere Wahl, aber es wird nicht lockerlassen, so lange, bis es sich den Freiraum für einen selbstbestimmten Weg erkämpft hat.

«Ruth, tu dors toujours» – Schulzeit mit Umwegen

Kaum ist Ruth in der Sekundarschule Oerlikon eingeschult, wehrt sie sich gegen den Haushaltsunterricht, den sie mit den anderen Mädchen besuchen soll, während die Buben Geometrie haben. Ruth bittet den Vater, sich dafür einzusetzen, dass sie in die Geometrie darf, und er gibt ihrem Drängen nach, weil er sieht, dass ihr dieses Fach liegt. Ruth darf als einziges Mädchen mit den Buben in den Geometrieunterricht. Auch später in der Handelsschule wird sie sich vor dem Haushaltsunterricht drücken, der ihr langweilig und überflüssig vorkommt. Damit schwimmt sie offen gegen den Strom der Zeit, denn die Erziehung der Mädchen zu guten Hausfrauen ist gesellschaftlicher Konsens und im Kanton Zürich ab 1932 gesetzlich geregelt. Im Juli 1931 nimmt das männliche Stimmvolk mit 78,4 Prozent Jastimmen ein Gesetz an, das ein Obligatorium der hauswirtschaftlichen Fortbildungsschule einführt (so wie viele andere Kantone auch). Jedes im Kanton Zürich ansässige Mädchen zwischen 16 und 20 Jahren muss demnach einen hauswirtschaftlichen Lehrgang von mindestens 240 Stunden absolvieren. Das Obligatorium für Mittelschülerinnen und Lehrentlassene beträgt mindestens 180 Stunden. Unterrichtet werden die Fächer Handarbeit, Kochen, Hauswirtschaftslehre und hauswirtschaftliches Rechnen. Der Regierungsrat argumentiert in seinem Bericht vor der Abstimmung folgendermassen: «Es wird nicht zu viel gefordert, wenn von jeder zukünftigen Hausfrau und Mutter ein Minimum praktischer und theoretischer hauswirtschaftlicher Ausbildung verlangt wird; es handelt sich um die Hebung des sozialen und ethischen Niveaus der Familie, der Zelle des Staates.»29

In welchem Sinn und Geist Mädchen an den Haushalt herangeführt werden sollen, geht aus dem Ausstellungskatalog der Landesausstellung von 1939 hervor. Unter dem Titel Hauswirtschaftliche Ausbildung heisst es dort: «Der Unterricht setzt an vielen Schulen schon im volksschulpflichtigen Alter ein. Die seelische Einstellung des Mädchens zur Hausarbeit und zur Berufswahl wird dadurch günstig beeinflusst. Im nachschulpflichtigen Alter helfen hauswirtschaftliche Fortbildungsschulen, Haushaltungsschulen oder Frauenarbeitsschulen den Bildungsgang des Mädchens zu fördern.»30 Ruth entzieht sich dieser Beeinflussung ihrer «seelischen Einstellung zum Haushalt» schon früh. Das gelingt nur wenigen, denn die Grundhaltung gegenüber Frauen und die schulische Infrastruktur sind auf den «weiblichen Werdegang» als Hausfrau und Mutter ausgerichtet. In der ganzen Schweiz existieren 1939/40 knapp 800 staatlich subventionierte hauswirtschaftliche Fortbildungsschulen, die von 47 391 Schülerinnen besucht werden.31 Hinzu kommt eine grosse Anzahl privater Institute und sogenannter Finishing Schools, welche Mädchen aus der Oberschicht und eine gutbetuchte internationale Klientel anziehen. Ein weitverbreiteter Ausbildungsweg für Schweizerinnen aus dem gehobenen Mittelstand, die keine Lehre in den damals üblichen Frauenberufen als Schneiderin, Verkäuferin, kaufmännische Angestellte oder in der Pflege machen können oder wollen, ist der Besuch einer hauswirtschaftlichen Fortbildungsschule oder eines privaten Instituts nach der Sekundarschule als Überbrückung bis zur Heirat und zur Vorbereitung auf die künftige Rolle als Hausfrau.

Die «Erziehung zur Hausfrau» beginnt im 19. Jahrhundert mit der Einführung der Fortbildungsschulen und setzt sich im 20. Jahrhundert mit der Einführung des obligatorischen Haushaltungsunterrichts in den meisten Kantonen fort. Die Frauenerwerbsquote ist in der Schweiz Ende des 19. Jahrhunderts und bis etwa 1910 zwar noch recht hoch und liegt bei rund 47 Prozent aller Frauen. Die Gründe dafür sind ökonomischer Natur. Vor allem in der Unterschicht und unteren Mittelschicht werden Frauen in der Textilindustrie und Landwirtschaft als Mitverdienerinnen benötigt. Ab 1910 bis 1950 sinkt die Frauenerwerbsquote kontinuierlich bis auf 32 Prozent. Verantwortlich dafür sind mehrere Faktoren. Der Landesstreik 1918 erschüttert die Schweizer Innenpolitik. Es kommen die zunehmenden internationalen Spannungen und die wirtschaftlich schwierige Lage in der Zwischenkriegszeit dazu. Der Geburtenrückgang der 1930er-Jahre wird als bedrohlich empfunden. Bundesrat Philipp Etter schreibt dazu: «Wenn die Dinge sich so weiterentwickeln wie bisher, stehen wir in der Tat im Begriffe, ein sterbendes Volk zu werden.»32 Man sehnt sich nach Sicherheit, es ist keine Zeit der Experimente. Die führenden politischen Kreise wünschen sich Stabilität, dazu gehört die Idee der Familie als Keimzelle im Staat. Man rückt angesichts der politischen und wirtschaftlichen Spannungen zusammen.

Mit der Landesausstellung 1939 wird das Frauenbild der Stauffacherin, der verantwortungsbewussten Schweizer Frau, propagiert, die ihrem Mann als Gefährtin beisteht und «als ruhender Pol die nötige Wärme für Mann und Kinder ausstrahlt».33 Dazu gehört der gesellschaftliche Konsens, dass verheiratete Frauen nicht arbeiten sollten. Letzteres wird zum Stigma und Beweis für das mangelnde Einkommen des Ernährers.34 Die Verschonung der Schweiz in den beiden Weltkriegen zementiert die hergebrachte und eingespielte Geschlechterordnung länger als in den Nachbarländern, was sich anhand der Einführung des Frauenstimmrechts illustrieren lässt: Deutschland und Österreich führen es 1918 nach dem Ersten Weltkrieg ein, Frankreich 1945 und Italien 1946 nach dem Zweiten Weltkrieg (notabene ohne Abstimmung der männlichen Bevölkerung). Und was führt die Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg ein? Beim ersten Urnengang nach Kriegsende im November 1945 wird der Familienschutzartikel mit 76 Prozent Jastimmen angenommen. Obwohl die katholisch-konservative Volksinitiative vom Bundesrat mit einem Gegenvorschlag abgeschwächt wird, sind sich alle Fraktionen im Parlament einig, dass ein Verfassungsartikel zum Familienschutz einem Bedürfnis entspreche. Es sind keine guten Zeiten für Frauen mit Unabhängigkeitsdrang wie Ruth Gattiker.

Die junge Oerlikonerin ist 15 und hat drei Jahre Sekundarschule absolviert. Wieder bittet sie den Vater, sie nun aufs Gymnasium zu lassen. Mädchen können in Zürich seit 1875 die sogenannte Höhere Töchterschule besuchen. Der Name ist Programm, die Töchter einer vorwiegend bildungsbürgerlichen Schicht erhalten hier die Möglichkeit einer besseren Schulbildung und zunächst eines Berufsabschlusses als Lehrerin oder Kindergärtnerin. Über die Beweggründe, weshalb Mädchen unterrichtet werden sollen, schreibt Rektor Pfarrer F. Zehender im Bericht zum ersten Schuljahr 1875/76 bis 1876/77: «Die Anstalt erstrebt eine harmonische Ausbildung der der weiblichen Natur verliehenen Geisteskräfte. Sie will dem zu selbstständiger geistiger Tätigkeit heranreifenden Mädchen einen vorurteilsfreien Blick öffnen in die höheren Gebiete des Geisteslebens, der unklaren Träumerei durch Gewöhnung an klares, geordnetes Denken, der weichlichen Empfindelei durch Hinweisung auf erste Lebensaufgaben und auf ächtes, gesundes Gefühl, wie es sich in den Meisterwerken unserer Literatur abspiegelt, entgegenarbeiten, und durch lebendige Unterrichtsmethode bewirken, dass der angeeignete Lehrstoff auch wieder Andern klar und lebendig mitgetheilt werden könne, damit so, seis in der Familie oder im geselligen Kreis geistiges Leben geweckt und gefördert werde.»35 Seit 1904 gibt es separate Maturandenklassen, die 1906 in Gymnasialklassen umbenannt werden, und seit 1908 eine vom übrigen Gymnasium getrennte Handelsabteilung. Während das reguläre Gymnasium 1913 in den Neubau auf der Hohen Promenade zieht, bleibt die Handelsabteilung noch bis 1949 im Grossmünsterschulhaus, das direkt an die Kirche angegliedert ist.

Paul Gattiker wiegelt ab. Die Tochter ist zwar intelligent, aber sie ist ein Mädchen. Er entscheidet sich für einen Kompromiss: Ruth und später die Schwester sollen die Handelsabteilung der Höheren Töchterschule besuchen. «Danach werdet ihr Topsekretärinnen, heiratet und bekommt Kinder», soll der Vater gesagt haben. Ruths Selbstständigkeit passt nicht in dieses Denkschema, aber vorläufig bleibt ihr wieder nichts anderes übrig, als sich dem Willen des Vaters zu beugen. Sie hätte auf die gymnasiale Abteilung gehört, das hätte ihren Weg verkürzt. Die Handelsfächer, die sie nun zu besuchen hat, interessieren sie überhaupt nicht und die modernen Sprachen viel weniger als die alten, die sie später mit grosser Begeisterung und bis ins hohe Alter lernen wird. Die Mädchen in der Töchter-Handelsschule werden auf das «gehobene Dienen» als Sekretärinnen vorbereitet.

Ruths Noten in der Handelsschule sind durchschnittlich, weil sie sich nicht sehr für den Unterricht interessiert. «Ich höre noch, wie unsere Französischlehrerin jeweils rief: ‹Ruth, tu dors toujours!›» Aber sie liebt den Unterrichtsort, das Annexgebäude des Grossmünsters mit Kreuzgang. Dort setzt sie sich oft in der Mittagspause hin, isst das mitgebrachte belegte Brot und liest philosophische Werke. «Kants Kritik der reinen Vernunft fand ich viel spannender als die Wirtschaftsfächer», sagt sie. Ausserdem meldet sich ihr Unabhängigkeitsdrang wieder einmal. Sie will ein Fahrrad und nicht irgendeines, sondern das damals teuerste Modell.

Die Oerlikoner, die in der Stadt in die Schule oder Lehre gehen, nehmen alle den Zug, weil die Zugfahrt zum Hauptbahnhof günstiger ist als das Trambillett. Obwohl in unmittelbarer Nähe zu Gattikers Wohnung eine Tramstation ist, soll Ruth deshalb auch mit dem Zug ins Stadtzentrum fahren. Das findet sie unpraktisch und nicht effizient. Lange Diskussionen um die Anschaffung eines Fahrrads folgen. Zu weit, zu gefährlich und zu teuer, sagen die Eltern. Und überhaupt, wieso dieses Luxusmodell? Aber wenn man es mal hat, ist jede Fahrt gratis, ausserdem ist es gesund, viel Verkehr hat es nicht und ein besseres Modell hält länger, argumentiert Ruth. Die Schweiz ist in den 1930er-Jahren ein ausgesprochenes Fahrradland; 1935 sind 69 000 Autos gemeldet, aber zwei Millionen Fahrradnummern eingelöst,36 bei notabene vier Millionen Einwohnern. Nach Streit und Diskussionen setzt Ruth ihren Kopf wieder mal durch, sie muss es sich aber weitgehend selbst zusammensparen mit Taschen- und Geburtstagsgeld. Dann endlich, zum eigenen Zimmer kommt das eigene Fahrrad. Ein weiteres Stück Freiheit.

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9783039199204
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