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Das Blatt wendet sich

Im Kantonsspital ist man in den ersten vier Wochen positiv gestimmt. Albert Hofmann erholt sich tatsächlich schnell. Das strahlende Bild im Blick ist nicht geschönt. In der ersten Zeit wirkt die Behandlung. Man bemüht sich, die Gewebeabstossung mit einer immunosuppressiven Therapie zu verhindern. Dafür stehen die Medikamente Azathioprin, Prednison und Antilymphozytenglobulin (ALG) zur Verfügung. Als Nebenwirkung von Prednison tritt bei Hoffmann Diabetes auf, der mit Insulin bekämpft wird. Die Dosierung der Medikamente soll mit der Zeit gesenkt werden. Doch einen Monat nach der Transplantation werden Fieber, Pulsanstieg und eine Potenzialabnahme im EKG festgestellt. Das deutet auf eine Abstossung hin, wobei man gar nicht genau weiss, welches die Anzeichen für eine Abstossung sind. Der Patient erhält wieder mehr Prednison und ALG, und sein Zustand bessert sich, um sich am 3. Juni wieder zu verschlechtern. Er hat hohes Fieber, sehr tiefen Blutdruck und eine erhöhte Herzfrequenz. Auf dem Röntgenbild ist ein grösserer Herd in der Lunge erkennbar, und im Speichel werden verschiedene Bakterien festgestellt. Trotz massiver Antibiotikatherapie tritt keine Besserung ein. Die Infektion auf der Lunge wird mit einem Katheter drainiert. Wieder einen Monat später, am 7. Juli, wird in der Lunge eine weitere Kaverne entdeckt. Der Patient muss nun künstlich beatmet werden, die Herzfunktion lässt weiter nach, und am 14. Juli stirbt Emil Hofmann um 12.35 Uhr, fast auf die Stunde genau drei Monate, nachdem ihm das neue Herz eingepflanzt worden ist.

Die Schlussdiagnose lautet: «Status nach Herz-Allotransplantation am 14.4.69. Status nach immunosuppressiver Therapie. Status nach zweimaligen, beherrschbaren Abstossungskrisen. Diabetes mellitus. Zwei Lungenabszesse im rechten Ober- und Mittelgeschoss mit Pseudomonas und Aspergillus fumigatus. Wahrscheinlich diffuse Aspergillose, insbesondere infektiös toxische Leberschädigung. Schwere herdförmige Hirnschädigungen wahrscheinlich embolisch.»10 Ruth Gattiker fasst die Gründe für Hofmanns Tod so zusammen: «Er hat sich im Spital Pilze eingefangen, denen man nicht mehr Herr wurde. Er ist letztlich von innen von der Pilzinfektion aufgefressen worden. Kein schöner Tod.» Die Ärzte müssen Albert Hofmanns Ende hilflos zusehen.

Während der Beginn der Geschichte noch mit seitenfüllenden Bildern und Texten gefeiert wurde, meldet der Blick das Ende nur noch als kleinen Beitrag auf der letzten Seite der Ausgabe vom 16. Juli 1969 unter dem Titel «Zürcher Neuherz-Wunder scheiterte an Infektion». Das Herz habe bis zum Schluss tadellos gearbeitet, heisst es beinahe rechtfertigend. Nur die Infektion sei schuld am Tod. Dass die Infektion ursächlich mit den Abwehrmassnahmen gegen die Abstossung des fremden Gewebes – welche das Immunsystem schwächten – und damit mit der Herztransplantation zu tun hatte, wäre zu viel der medizinischen Information.

Zwischen Bewunderung und Unbehagen

Die Medien, insbesondere das Boulevardblatt Blick, arbeiten dankbar mit dem Emotionspotenzial und der Sensationslust, die das Thema Herz bietet. Liebe und Tod, die zwei grossen Grundthemen, vereint in der Symbolik eines Organs. Dass es über die Jahrhunderte hinweg in Dichtung und Literatur mit besonderer Bedeutung aufgeladen worden ist, zeigt sich sehr schön in der Vielfalt der Begrifflichkeiten und seiner Metaphorik in der deutschen Sprache: Das Herz kann klopfen, pochen, hämmern, schlagen, zittern, flattern, schmachten, jubeln, erwachen, glühen, versagen, brechen und zerspringen. Man kann es verschenken, stehlen, es auf der Zunge haben, und es kann einem in die Hose rutschen. Es kann einem ein Stein vom Herzen fallen, oder man trägt ein Kind unter dem Herzen. Man hat etwas auf dem Herzen oder muss seinem Herzen Luft machen. Mal trifft einen etwas mitten ins Herz, oder man tut es nur halben Herzens. Ein Herz kann kalt, heiss, steinern, gross, gütig, grosszügig oder weich sein. Seit Urzeiten ist das Herz mehr als ein Muskel oder eine Pumpe, es ist Sitz unserer Gefühle und Beflügler unserer Fantasie. Die Griechen hielten das Herz für das wichtigste Organ des Menschen, den Sitz seiner Seele.11 Aus dieser symbolischen und über alle Schichten und Zeiten hinweg gewachsenen Überhöhung und Symbolkraft des Herzens lässt sich auch ein Teil der Sensationslust am Thema Herztransplantation, die die Medien 1969 erfasst, ableiten, und die den Blick zu Wortkreationen wie «Neuherz-Verpflanzung», «Herzwunder» oder «Herzraub» inspiriert.

Die Berichterstattung in den Zürcher Medien deckt sich mit Eckart Roloffs Analyse der Reaktionen der deutschen Presse auf Christiaan Barnards erste beide Herztransplantationen eineinhalb Jahre zuvor. Roloff schreibt, dass die Reaktionen der Presse auf die Herztransplantation zur Metapher für medizinische Innovation und zum Modellfall für Sensation wurden. Der Hauptakzent in der Berichterstattung habe nicht «auf der Verständigung über Komplexe wie die juristischen oder sozialmedizinischen Phänomene oder auf der einsichtigen Erklärung der Gewebeunverträglichkeit, sondern auf einer individualisierenden Sicht»12 gelegen. Damit habe die publizistische Entdeckung des Patienten eingesetzt. Nicht anders ist es eineinhalb Jahre später in Zürich, wenn der Blick über die Sorgen der Eltern des Herzspenders schreibt oder darüber, dass der Herzempfänger feste Kost gegessen und mit seiner Frau telefoniert habe, sein Tod aber weder kritisch hinterfragt noch medizinisch erklärt wird.

In allen drei Tageszeitungen finden sich ausführliche Reaktionen des Publikums in den Leserbriefspalten. Das Bild ist heterogen und reicht von grosser Bewunderung für den Chirurgen Åke Senning bis zur Verurteilung, dass niemand die Eltern des Spenders um Erlaubnis gefragt hat. Dass die Transplantation Sinnbild für ein neues, technisches Machbarkeitsdenken in der Medizin ist, stösst mehreren Lesern auf. Auf der Leserbriefseite des Blick heisst es dazu am 23. April 1969: «[…] Das zeigt einmal wieder die Mentalität eines Teils der Ärzteschaft auf, der in einem Organ wie das menschliche Herz lediglich eine Pumpe sieht, die ersetzt werden kann […]», oder: «Was die heutige Wissenschaft betrifft, in Sachen Mondlandung und Herzverpflanzungen an todgeweihten Mitmenschen, so arbeiten diese Herren Wissenschafter, Techniker, Ingenieure, Astronauten etc. gegen die Naturgesetze Gottes.» Und in der NZZ schreibt am 25. April 1969 ein Leser oder eine Leserin unter dem Kürzel W. K.: «Die Frage, die unverzüglich zur Diskussion gestellt werden muss, ist einfach: Wird der Mensch als Persönlichkeit in einem Grade ernst genommen, dass auch seine Leiblichkeit über den Tod hinaus als grundsätzlich unantastbar betrachtet wird, oder sieht man in einem Leichnam nur noch ein Ersatzteillager, das von Professoren, Chirurgen und Studenten nach Gutdünken und Willkür ausgeräumt wird? Besteht nicht doch ein Unterschied zwischen dem Sihlfriedhof und einem Autofriedhof?»

Die Herztransplantation in Zürich im Frühling 1969 und eine zweite im Sommer fallen zeitlich zusammen mit dem anderen grossen Ereignis dieses Jahres. Eine Woche nach Albert Hofmanns Tod setzt am 21. Juli 1969 zum ersten Mal ein Mensch seinen Fuss auf den Mond. Die Leserbriefe widerspiegeln Faszination und Unbehagen angesichts der Möglichkeiten, die der technische Fortschritt bietet und die seit jeher auffällige technische Innovation begleiten. Dass in der Machbarkeit und Erfindungsgabe auch eine gewisse Unausweichlichkeit des Fortschritts liegt, wird die Erzählung von Ruth Gattikers Geschichte und der Entwicklung von Herzchirurgie und Anästhesie zeigen. War im 19. Jahrhundert noch die Tuberkulose die Haupttodesursache, verschwindet die Krankheit mit der Entdeckung des Antibiotikums im 20. Jahrhundert. Dafür entwickeln sich, nicht zuletzt als Folge des modernen Lebensstils, die Herzkreislaufkrankheiten zur wichtigsten Todesursache.13 Das ist bis heute so, aber zahlenmässig sind die Todesfälle aufgrund von Herzkreislauferkrankungen seit Anfang der 1980er-Jahre dank der Entwicklung von Stents, Ballonkathetern, künstlichen Herzklappen und weiteren Innovationen rückläufig. Und die Entwicklungen in der Herzmedizin in den vergangenen 60 Jahren haben im Vergleich mit allen anderen medizinischen Fachrichtungen den grössten Anteil an unserer stetig gestiegenen Lebenserwartung.14

Die zweite Herztransplantation

Etwas mehr als eine Woche vor Hofmanns Tod hat Åke Senning am 7. Juli 1969 einem zweiten Patienten ein Herz eingepflanzt. Ruth Gattiker ist beim zweiten Mal nicht mit dabei. Auch diesmal bleiben die Namen von Spender und Empfänger nicht lange im Dunkeln, trotz «strenger Geheimhaltung im Kantonsspital», wie der Blick drei Tage darauf am 10. Juli schreibt. Genützt hat es wenig. Die Boulevardzeitung berichtet, dass sich der 46 Jahre alte Bauer Franz Büeler durch das viele Arbeiten von fünf Uhr früh bis spät in die Nacht für seine fünf Kinder die Gesundheit ruiniert habe und deshalb ein neues Herz brauche.15 Eine Fotografie zeigt den aufopferungsvollen Vater. Am 11. Juli berichtet der Blick über den Vespa-Unfall des Herzspenders Anton Imhof, eines 33-jährigen Landwirts, der «nur wenige 100 Meter vom Heimetli des Herzempfängers entfernt in Muotathal verunglückte». Doch man scheint aus dem ersten Fall etwas gelernt zu haben. «Nach langem inneren Kampf gaben die Eltern Imhof ihre Einwilligung», dramatisiert der Blick den Umstand, dass man diesmal das Einverständnis zur Herzverpflanzung bei den Angehörigen eingeholt hat.

Auch Büeler geht es nach der Operation gut, und zwar so gut, dass ihn die Ärzte nach Hause entlassen, nicht zuletzt, weil sein Vorgänger ja schwere Pilzinfektionen im Spital eingefangen hat. Das will man nun verhindern. Bei einer Kontrolle nach drei Monaten ist das EKG nicht in Ordnung, und die Internisten deuten es wieder als Zeichen für die Abstossung. Ruth Gattiker berichtet: «Sie haben ihn daraufhin aber trotzdem wieder heimgelassen, und eines morgens lag er tot im Bett. Die Frau rief uns an und sagte, es mache nichts, denn seine letzten drei Monate seien so schön gewesen. Er habe wieder alles machen können, sei Traktor gefahren, habe die Kühe gemelkt und sei glücklich gewesen, und jetzt sei er friedlich in der Nacht gestorben. Es sei gut so, er habe ein schönes Ende gehabt. Für Senning war der Fall danach klar. Er hat gesagt, er transplantiere keine Herzen mehr. Der Ball liege jetzt bei den Immunologen. Die müssten etwas entwickeln, das die Abstossung verhindere. Letztlich waren beide Operationen Experimente am lebenden Objekt oder, besser gesagt, am todgeweihten Objekt, denn beide Patienten hatten keine Prognose mehr.»

Ruth Gattiker drückt damit deutlich aus, worüber man im Nachgang der beiden ersten Transplantationen lieber nicht mehr sprechen möchte. Im Herbst 1969 findet ein Symposium zum Thema Transplantationen der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften statt. Der Chirurg und Spezialist für Nierentransplantationen Prof. Felix Largiadèr sagt, dass das Thema Herztransplantationen am Symposium nicht thematisiert werden durfte. Dabei wäre es in seinen Augen der Moment gewesen, um wissenschaftlich darüber zu diskutieren. Aber offenbar wollte man nicht über Misserfolge sprechen.16 Diese «Schwamm drüber»-Mentalität deckt sich mit der Beobachtung, dass auch im Jahresbericht 1969 des Kantonsspitals die Herztransplantationen kaum erwähnt werden. Im Bericht der Chirurgischen Klinik A werden zwar zwei Herztransplantationen und acht Nierentransplantationen aufgezählt, aber nur mit dem Vermerk, dass es weniger Nierentransplantationen als sonst waren wegen fehlender Spender. Im Bericht kommt das Thema Nierentransplantationen zur Sprache, zu den Herztransplantationen kein Wort.

Anfang der 1980er-Jahre kommt mit Cyclosporin ein Medikament zur Kontrolle der Abstossungsreaktion auf den Markt. Danach werden Herztransplantationen sicherer; die Zahl nimmt stetig zu und pendelt sich ab Anfang der 1990er-Jahre bei jährlich weltweit 4000 bis 4500 Herztransplantationen ein. 2013 wurden 4477 Herzen verpflanzt. Die durchschnittliche Überlebenszeit liegt heute bei elf Jahren.17 In der Schweiz wurden in den vergangenen Jahren durchschnittlich 30 Herzen pro Jahr transplantiert. Das Scheinwerferlicht der Medien ziehen diese Operationen längst nicht mehr an. Und faktische Probleme wie der Umstand, dass es zu wenige Spenderherzen gibt, haben nicht das Potenzial, die Fantasie von Journalisten und Publikum anzuregen.

Bedarf nach Klärung

Zwei Themen rücken durch die Herztransplantationen ins öffentliche Bewusstsein und haben auch juristische Folgen. Zum einen geht es um die Frage, ob es die Einwilligung der Angehörigen für eine Organentnahme braucht, und zum anderen um die genaue Definition des Todes.

Wann ist ein Mensch tot, oder, anders gefragt, wann lebt er? Das Hirn reagiert sehr empfindlich auf Sauerstoffmangel. Wird es nur wenige Minuten nicht durchblutet, stirbt es unwiderruflich ab. Solange das Hirn lebt, lebt der Mensch. Diese für uns nicht mehr aussergewöhnliche Lebens- und Todesdefinition ist in den 1960er-Jahren noch neu. Bis dahin ist ein Mensch tot, wenn sein Herz aufhört zu schlagen. Doch mit dem Aufkommen von Maschinen, welche die Körperfunktionen aufrechterhalten können und weil die Transplantationsmedizin solche Fortschritte macht, wird die Klärung des Todesbegriffs im juristischen Sinne dringend. Åke Senning und Felix Largiadèr schlagen Mitte der 1960er-Jahre der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften vor, Richtlinien zu diesem Thema zu formulieren. Die Arbeit daran ist noch im Gange, als Senning die erste Transplantation durchführt. Die Richtlinien sind zwar noch nicht festgeschrieben, aber den Ärzten sind die Bedingungen für die Diagnose Hirntod klar. Professor Krayenbühl zählt sie an der Pressekonferenz auf: 1. Der Patient ist tief bewusstlos. 2. Er weist keine Reflexe mehr auf. 3. Die Pupillen sind lichtstarr. 4. Er hat keine spontanen Bewegungen mehr. 5. Die elektrische Untersuchung (EEG) zeigt, dass keine spontane Hirnaktivität mehr vorhanden ist.18 Die neuen Richtlinien zur Definition und Diagnose des Todes erscheinen noch 1969. Darin wird der Tod als vollständiger und irreversibler Ausfall aller Hirnfunktionen definiert.19

Zur Frage der Einwilligung der Angehörigen gibt es ein handfestes juristisches Nachspiel vor Bundesgericht. Anfang 1970 reichen die Eltern des Herzspenders, Paul und Luise Gautschi, beim Bezirksgericht Zürich eine Klage ein gegen den Kanton Zürich, Regierungsrat Bürgi sowie die Professoren Krayenbühl und Senning. Sie stellen den Antrag, «es sei festzustellen, dass die am 14. April 1969 an ihrem Sohn vorgenommene Herzentnahme zwecks Transplantation rechtswidrig gewesen sei und gegen die guten Sitten verstossen habe».20 Sie verlangen eine Genugtuungszahlung und Schadenersatz in der Höhe von 10 000 Franken. Man hätte sie als Eltern um ihr Einverständnis bitten müssen. Sie seien in ihren persönlichen Verhältnissen verletzt worden. Die Klage geht durch mehrere Instanzen und wird am 3. Juli 1975 vom Bundesgericht endgültig abgelehnt. Wenn schon, dann hätte die Ehefrau – von der Gautschi aber getrennt lebte – um die Einwilligung gebeten werden müssen, hält das Gericht fest. Ausserdem hätten die Eltern versichert, dass sie die Einwilligung gegeben hätten, hätte man sie gefragt. Das Gericht erkennt keine schwerwiegende Verletzung des Persönlichkeitsrechts der Kläger und auch kein besonders schweres Verschulden der Ärzte.

Dass dennoch eine gewisse moralische Verpflichtung besteht, die Angehörigen zu fragen, zeigen die Reaktionen von Presse und Publikum nach der ersten Herztransplantation und der Umstand, dass das Spital vor der zweiten Herzentnahme die Angehörigen informiert und anfragt. Auch in dieser Frage ist seither viel geschehen. Eine Organentnahme ohne Einwilligung eines nahen Angehörigen ist heute nicht mehr möglich. Das Transplantationsgesetz des Bundes von 2004 schreibt vor, dass, falls es keine dokumentierte Zustimmung oder Ablehnung des Spenders gibt, die ihm am nächsten verbundene Person angefragt werden und ihr Einverständnis zur Organentnahme geben muss.21

Ganz andere Dramen

Das Drama der zwei ersten Herztransplantationen in der Schweiz endet letztlich still und leise, und eigentlich war alles ganz anders. Je nachdem, aus welcher Warte man es betrachtet. Womit die Öffentlichkeit gefüttert wird, ist nur die Spitze des Eisbergs oder der Höhepunkt einer gut 15 Jahre dauernden Entwicklung, in der man in den USA und in Schweden beginnt, am offenen Herzen zu operieren. Möglich wird das nicht zuletzt durch Fortschritte in der Anästhesie, die länger dauernde Operationen ermöglichten, und durch viele einzelne Innovationsschritte. Dazu gehören die verschiedenen Operationstechniken ebenso wie die Entwicklung der Hypothermie – das Herunterkühlen des Körpers, um das Herz für kurze Zeit stillzulegen – oder der Herz-Lungen-Maschine, die während der Operation die Funktion von Herz und Lunge übernehmen kann. Ruth Gattiker gewichtet die erste Herztransplantation deshalb auch anders: «Für die Öffentlichkeit war das eine grosse Sache damals. Weil es um das Herz ging, hat man so ein Gewese darum gemacht und vieles hineininterpretiert. Aber für uns war das anders. Das sieht man ja auch daran, dass es chirurgisch gar keine so schwierige Operation war. Das Schwierige hatten wir in den vielen Jahren zuvor erlebt. Die Herztransplantation war eine Art Höhepunkt einer langen Entwicklungszeit.»

Zu Ende sind die Entwicklungen damit aber noch lange nicht. Sie führen weiter in eine hochtechnisierte medizinische Zukunft, in der einige Jahrzehnte später die meisten Herzprobleme minimalinvasiv behoben werden können. In unserer heutigen, fehlerintoleranten Zeit scheint eine Pionierphase wie in den 1950er- und 1960er-Jahren beinahe undenkbar: eine Zeit, in der zunächst an Tausenden von Tieren, meist Hunden, aber auch Katzen und Schweinen Medikamente, neue Geräte und Operationstechniken rund ums Herz ausprobiert werden, um anschliessend die Versuche an meist todkranken Menschen weiterzuführen. Gesellschaftliche Kritik war bis zu den misslungenen Herztransplantationen nicht zu erwarten. Und selbst da hielten sich die Medien am Ende zurück. Man nahm den Tod der beiden Herzempfänger nüchtern hin. Niemand rief laut, dass es ein Experiment war, oder stellte Fragen nach der Ethik. Und Senning selbst war vernünftig genug, es bei zwei Versuchen zu belassen. Wenig Regulation, der Nimbus der unantastbaren «Götter in Weiss» und eine Öffentlichkeit, die weniger kritisch war als die heutige, trugen dazu bei, dass die Pioniere mehr oder weniger ungestört Neues ausprobieren konnten.

Ein Fräulein Doktor

Ruth Gattiker erlebt diese Pionierphase hautnah. Sie beginnt 1961, in Stockholm mit Åke Senning zu arbeiten, und sieht, wie zu Beginn fast jeder zweite Herzpatient auf dem Operationstisch liegen bleibt, weil vieles noch unerprobt ist und man auch nur schwer Kranke operiert. Sie erlebt, wie Senning dann in Zürich aus Sehnengewebe des Oberschenkels im Operationssaal dreiteilige Herzklappen «bastelt», die er anschliessend implantiert. Oder wie er die komplizierte Operation der Transposition der grossen Gefässe mit unnachahmlichem Geschick bewerkstelligt. Sie ist mit dabei, als in Zürich eine Eisbadewanne entwickelt wird, in der Säuglinge mit angeborenem Herzfehler, in Eiswürfeln liegend, so weit heruntergekühlt werden, dass sie während einer Stunde bei Herzstillstand und ohne die Gefahr einer Hirnschädigung operiert werden können. Das sind schon vor der Herztransplantation einige grosse Momente, von denen die Öffentlichkeit nichts mitbekommt. Sie wären auch nicht so einfach in reisserische Schlagzeilen zu fassen gewesen, retten aber letztlich mehr Menschen das Leben als das medienwirksame Thema Herztransplantation.

Gattiker selbst ist nicht Chirurgin, obwohl das ursprünglich ihr Plan war. Ihr Weg hat sie in eine andere Richtung geführt, nicht zuletzt, weil sie eine Frau ist und sie sich Mitte der 1950er-Jahre, als sie sich für eine Fachrichtung entscheiden muss, ausrechnet, dass sie in der männerdominierten Chirurgie vermutlich weniger Aufstiegschancen haben wird als in dem damals noch jungen Fach Anästhesie. Und ehrgeizig ist sie von Kindsbeinen an. Mit dieser Eigenschaft, ihrem Willen und ihrer Intelligenz hat sie sich ihre Karriere erarbeitet. Der Artikel «Ein grosser Tag für die Schweizer Chirurgie», der nach der Herztransplantation am 15. April 1969 im Tages-Anzeiger erschienen ist (siehe Buchumschlag), dokumentiert ihren beruflichen Status als gleichgestellte Ärztin neben ihren männlichen Kollegen. Auf der Fotografie sitzt sie links mit ernster, aufmerksamer Miene und schaut in die gleiche Richtung wie Åke Senning, der das Bild im Vordergrund dominiert. Zwischen den beiden und etwas im Hintergrund die Kollegen Linder und Rothlin, die sich unterhalten. Professor Krayenbühl ganz rechts. Eine subtile Nuance findet sich dennoch, und zwar in der Bildunterschrift. Dort wird sie als «Frl. Dr. Ruth Gattiker» bezeichnet, ohne dass ihre Funktion oder ihr Rang erwähnt werden, immerhin ist sie Oberärztin und Anästhesistin. Linder wird dagegen als Oberarzt bezeichnet, Rothlin als Kardiologe, Senning und Krayenbühl mit ihrem Professorentitel.

Die Bezeichnung «Fräulein» ist 1969 noch lange nicht tot. Ruth Gattiker mag auf der Fotografie als gut aussehende Frau in dieser Herrenrunde zwar herausstechen, aber ein «Fräulein Doktor» ist damals in dieser Kombination der Worte nicht ungewöhnlich. Damit wird signalisiert, dass sie eine akademisch gebildete Frau ist, die sich für den Beruf und gegen Heirat und Familie entschieden hat. Die Bezeichnung «Frau Doktor» ist dagegen noch bis in die 1980er-Jahre vor allem üblich für die Ehefrauen von Männern mit Doktortitel. Deshalb stiften Frauen, die selbst einen Doktortitel führen und verheiratet sind, als «Frau Doktor» mehr Verwirrung als ein «Fräulein Doktor».

Ruth Gattiker fühlt sich im Kreis ihrer Kollegen völlig gleichwertig. Man bildet eine Arbeitsgemeinschaft, in der sie sich ihre Anerkennung durch überdurchschnittliche Leistungen erarbeitet hat. Ihre Habilitationsschrift steht zu diesem Zeitpunkt kurz vor dem Abschluss. Sie wird ein halbes Jahr später der Medizinischen Fakultät vorgelegt werden. 1970 wird Gattiker Privatdozentin, ab 1976 führt sie einen Professorentitel.

Der Unterschied zwischen ihr und den vier Männern liegt, wie es die Bezeichnung «Fräulein» deutlich macht, nicht im Beruflichen, sondern im Privaten. Die vier Ärzte sind alle verheiratet und haben Kinder. Gattiker dagegen ist unverheiratet und hält ihr Privatleben bedeckt. Die Kollegen wissen wenig bis nichts darüber, höchstens, dass sie mit einer Chirurgin befreundet ist, ebenfalls ein Fräulein Doktor, vermutlich eine Gleichgesinnte. Gibt oder gab es Männer im Leben der attraktiven, im Umgang mitunter etwas rauen und selbstbewussten Mittvierzigerin? Gemunkelt wird immer, Genaues weiss man nicht. An Anlässe im gastfreundlichen Haus von Åke Senning oder im Spital kommt Ruth Gattiker allein. Es wird nicht gefragt, und sie erzählt nichts. Ruth Gattiker ist ein Fräulein Doktor, das für ihren Beruf lebt, so scheint es von aussen, und sie selbst will auch, dass es so scheint. Der Rest ist ihr Privatleben, ihre Burg, die sie hartnäckig verteidigt.

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