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Читать книгу: «Original Mind - Anfängergeist und Bildung», страница 3

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Da viele Krankheiten von bestimmten Körpergerüchen gekennzeichnet sind, gehörte es früher auch zur westlichen medizinischen Ausbildung, den Geruchssinn zur Diagnose zu verwenden. Diabetes, Darmbeschwerden, Leberprobleme, Nierenversagen und Lungenkrebs bilden Duftmarker, die im Atem »riechbar« werden. In der östlichen Medizin ist die Lehre von Gerüchen als diagnostischem Instrument immer noch Teil der Ausbildung, doch im Westen ist es aus den Lehrplänen verschwunden, und immer weniger Studenten haben den feine Geruchssinn, der dafür notwendig ist. Die Diagnostik verlässt sich heute viel mehr auf visuelle Beobachtungen, Aussagen der Patienten und technische Messgeräte. Das neuerliche Interesse für den Geruchssinn hat dazu geführt, dass nun elektronische Riechgeräte und Hundenasen die Batterie der diagnostischen Mittel bereichern. Die frühesten elektronischen »Nasen« stammten aus der Parfüm-Industrie. Inzwischen sind die Geräte sehr viel einfacher, tragbarer und preiswerter geworden. Ein vielversprechender Ansatz identifiziert die Moleküle in der Atemluft mit Hilfe von Laserstrahlen. Therapiehunde wurden ausgebildet, um anzuzeigen, wann die Veränderungen im Atem ihrer menschlichen Gefährten auf einen bevorstehenden epileptischen Anfall oder auf niedrigen oder hohen Blutzucker schließen ließen. Manche Hunde haben sogar gelernt, im menschlichen Atem mit bemerkenswerter 99-prozentiger Sicherheit Krebs zu erkennen.

Die menschliche Nase ist zu solchen Dingen von Natur aus nicht fähig, denn sie kann jeden Geruch nur ein paar Minuten lang wahrnehmen. Weil sich die Nase nicht verschließen kann, schützt sie sich damit vor olfaktorischer Überwältigung. Um einen Geruch anhaltend wahrzunehmen, müssen wir alle paar Minuten bewusst schnuppern. Vielleicht kennen Sie das: Auf dem Weg zur Haustür weist Ihre Nase Sie darauf hin, dass der Müll hinausgetragen werden müsste. Wenn Sie sich dann entscheiden, zuvor noch einen Blick in die Post zu werfen, verblasst die Wahrnehmung des Geruchs und die Chance ist groß, dass Sie den Müll wieder komplett vergessen.

Hunde erleben Gerüche ganz anders. Sie haben eine spezielle Art zu atmen, um ihre Umgebung ständig auf Gerüche abzutasten. Beim Einatmen beben ihre Nasenflügel, um die Luft zu verwirbeln, und beim Ausatmen flattern die seitlichen Schlitze der Nasenlöcher, um eine leichte Luftströmung zu erzeugen, die den Geruch beim nächsten Atemzug frischer erscheinen lässt.

Die Nasen von Hunden und den meisten anderen Tieren verfügen über zwei Geruchssysteme. Das eine ähnelt unserem primären Geruchssinn: Es registriert alle starken Gerüche der Umgebung. Der zweite Mechanismus dient dem Umgang mit sehr schwachen Düften, den sogenannten Pheromonen. Dazu gehören alle Körpergerüche, vom Atem über Urin, Stuhl, vaginale Gerüche, Erbrochenes und Blut bis zu schwärendem Fleisch, aber auch Gerüche von emotionalen Zuständen wie Angst oder Aggression, und die bereits erwähnten vielen Gerüche der gesundheitlichen Problemen und Krankheiten. Starke Pheromone werden von dem primären Geruchssystem verarbeitet, den schwachen widmet sich jedoch ein einfacheres System namens vomeronasales Organ oder VNO. Dieses winzige Organ sitzt bei Säugetieren tief in der Nase und bei Reptilien im Gaumen. Es steht mit dem Riechkolben in Verbindung, verfügt jedoch über eigene neuronale Bahnen und dient einzig und allein dem Aufspüren von Pheromonen. Solche Pheromone kommen einem nicht eingebundenen Geruchseindruck vielleicht am nächsten. Und wie sieht es damit beim Menschen aus?

Weil das vomeronasale Organ so klein und gut versteckt ist, hat man es beim Menschen erst kürzlich entdeckt. In der Hoffnung, neue Stoffe für die Parfümindustrie zu finden, versuchen die Wissenschaftler daraufhin, einzelne Pheromone herauszufiltern, doch die Ergebnisse waren enttäuschend. Erwachsene scheinen Pheromone nicht deutlich wahrnehmen zu können. Säuglinge reagieren da viel intensiver, insbesondere auf den Geruch ihres eigenen Fruchtwassers und der Milch ihrer Mutter. Der Fruchtwassergeruch wirkt sofort beruhigend, während sie beim Geruch der Muttermilch frustriert anfangen zu schreien, wenn sie nicht gleich die Quelle finden können. Die Gerüche der Mutter scheinen für die frühkindliche Bindung von großer Bedeutung zu sein. Auch diese möchte ich als reine Sinneseindrücke bezeichnen.

Das ist alles, was die Wissenschaft über die menschliche Reaktion auf Pheromone weiß. Ich möchte Sie ermuntern, eigene Forschungen anzustellen. Können Menschen Angst riechen? Welche Rolle spielen solche »animalischen Kräfte« bei der Partnerwahl? Führen manche emotionale Ereignisse zu schlechtem Atem?

GESCHMACK, BERÜHRUNG UND BEWEGUNG

Wie Kirschen und Beeren behagen,

muss man Kinder und Sperlinge fragen.

Johann Wolfgang von Goethe

Unser Geschmack beruht zum großen Teil aufvergangenen Erfahrungen und den Assoziationen, die damit einhergingen. War die erste Begegnung angenehm, und war es ein gutes Beispiel für diesen Geschmack? Auch bei Geschmäckern scheint es also ziemlich schwierig zu sein, einen Sinneseindruck zu erleben, der nicht verknüpft ist. Vom Genuss vertrauter Speisen über das Ausprobieren neuer Gerichte bis zum Prüfen, ob etwas noch genießbar ist oder vielleicht den bitteren Geschmack von Giftigem hat – wir verbinden alles mit Geruch oder mit Erinnerungen an bereits Erlebtes. Über die Geschmackserfahrung eines Neugeborenen können wir jedoch ein wenig über reine, unverknüpfte Geschmäcker lernen. Selbst unmittelbar nach der Geburt reagieren Säuglinge auf drei verschiedene Geschmäcker, und manche Studien lassen vermuten, dass sie das vielleicht sogar schon im Mutterleib tun. Wenn ihnen ein sauer schmeckender Tupfer mit milder Essigsäure angeboten wird, spitzen sie die Lippen, rümpfen die Nase und blinzeln stark mit den Augen. Wenn ihnen ein Tupfer mit Zuckerwasser angeboten wird, lecken sie sich die Lippen, fangen an zu saugen und zeigen Anzeichen von Zufriedenheit. Und wenn es eine ziemlich bitter schmeckende milde Chininlösung ist, strecken sie die Zunge heraus, versuchen zu würgen und zu spucken und kneifen die Augen zusammen.

Manche Wissenschaftler vermuten, diese impulsive Ablehnung des Bitteren diene den Neugeborenen als Schutz vor Giften, da Gifte häufig bitter sind. Auch Kinder mögen in der Regel nichts Bitteres, erst als Erwachsene entwickeln wir uns darüber hinaus und genießen Dinge wie Kaffee, bittere Schokolade oder grüne Salate. Doch selbst kleine Dosen bitterer Nahrungsmittel können heranwachsenden Föten schaden, weshalb viele Schwangere eine natürliche Abneigung gegen alles Bittere entwickeln.

Wenn wir wissen, wie sich bestimmte Geschmäcker auf dem Gesicht eines Babys widerspiegeln, sagt das jedoch noch wenig über ihre tatsächliche Geschmackserfahrung aus. Ich habe vielleicht einen Hinweis auf eine Antwort entdeckt. Während der 1970er-Jahre nahm ich an einer Gruppentherapie teil, in der es unter anderem um sogenanntes »Reparenting« ging, einen Therapieprozess, der dazu dient, den Teilnehmern in einem kindlichen Zustand gesunde elterliche Botschaften zu übermitteln. Die Gruppe traf sich jede Woche, um zunächst eine Stunde lang unter der Obhut der beiden Therapeuten zu spielen und dann in der zweiten Stunde das Erlebte zu besprechen. Die Teilnehmer begaben sich während der ersten Stunde in eine Art halbhypnotischen Wachzustand, in dem sie sich wie Kinder fühlten und verhielten, mit Spielzeug spielten und den Therapeuten kindliche Fragen stellten. Zu Beginn der Spielstunde fragten die Therapeuten jeweils, wer denn vielleicht ein Fläschchen haben wolle, und bereiteten dann warme Milchflaschen vor. Und tatsächlich fing die entsprechende Person dann im Laufe der Stunde häufig an, zu weinen und wie ein Kind nach der Flasche zu verlangen. Ich war mir sicher, dass mir das nie passieren würde. Ich verabscheue den Geschmack warmer Milch und konnte mir nicht vorstellen, bei diesem Geschmack im regredierten Zustand eines kleinen Kindes bleiben zu können. Doch nach sechs Monate wagte ich einen Versuch, und es hatte großen Einfluss auf mein Verständnis von frühkindlicher Erfahrung.

Ich kam bewusst hungrig zu der Veranstaltung. Dann rollte ich mich in einer Ecke zusammen und ließ mich in eine ganz frühe Zeit zurücktreiben. Plötzlich spürte ich, wie mein ganzer Körper aus meinem Bauch heraus von einem Schmerz erfasst wurde. Als Nächstes drang ein durchdringendes Schreien an mein Ohr. Ein kurzer Blick aus der Erwachsenen-Perspektive zeigte mir, dass das tatsächlich meine Stimme war! Ich ließ mich wieder in den kindlichen Zustand zurückfallen. Jemand kam, hielt mich und gab mir die Flasche. Ein erneuter kurzer Blick aus der Erwachsenen-Perspektive ließ mich erkennen, dass ich keinen besonderen Geschmack im Mund wahrnahm, dann überließ ich mich wieder dem Genuss der Wärme, die sich in mir ausbreitete und sich besonders in meinen Händen und Füßen zu sammeln schien. Die Zehen- und Fingerbewegungen der Babys, die gestillt werden, scheinen offenbar Teil der noch im ganzen Körper und nicht nur im Mund verankerten Geschmacks-Erfahrung zu sein. Es lässt sich vielleicht am ehesten mit dem sich ausbreitenden Wärmegefühl vergleichen, welches sich nach einem langen Aufenthalt in der Kälte mit einer Tasse heißem Tee oder Kakao einstellt.

Der letzte unserer fünf Sinne, der Tastsinn, ist wieder leichter als reiner Sinneseindruck zu erfahren. Wenn wir über samtenen Stoff streichen, die Temperatur des Wassers aus dem Hahn prüfen, eine schwere Tasche probeweise hochheben oder einem kranken Kind die Hand auf die Stirn legen, verwenden wir unseren Tastsinn, um Informationen zu erlangen. Doch wenn wir unsere Suche auf Ganzkörper-Erfahrungen ausdehnen, können wir eine Fülle von unverknüpften Körpereindrücken entdecken. Die ganze Spielplatzgeräte- und Vergnügungspark-Industrie lebt von unserer Freude an solchen unverbundenen Empfindungen. Springen, Drehen, Fallen, Schaukeln und Wiegen sind alle für sich allein erfahrbar. Sie brauchen keinen Kontext, und selbst kleinste Kinder lieben diese Bewegungen.

Manchmal entstehen solche Bewegungen ganz unvermittelt. Wenn ein Vogelschwarm aufsteigt, ein Fischschwarm losschießt, oder ein Hornissenschwarm entsteht, geschieht dies aus einem sogenannten Aktionsimpuls heraus. Im menschlichen Verhalten zeigt sich dieser Aktionsimpuls vielleicht in randalierenden Menschenmengen, in Begeisterungsstürmen eines Publikums oder in heroischen Akten. Lebensretter, die ins Wasser gesprungen, in ein brennendes Haus gerannt oder mit übermenschlichen Kräften ein Auto von einem Verletzten hoben, können hinterher oft nicht erklären, warum sie sich so verhielten, und können sich nicht erinnern, darüber nachgedacht zu haben.

Eine weitere wichtige, wenn auch unangenehme Funktion des Tastsinns ist, Schmerz wahrzunehmen. Die meisten Schmerzempfindungen werden auf irgendeine Weise zugeordnet und analysiert und fallen damit in die Kategorie der verknüpften Sinneseindrücke. Doch wie ist es mit Wohlbefinden? Kann es vielleicht zu einer Art Hintergrundqualität werden, die mitschwingt, ohne dass wir es bemerken? Wenn wir nach einer schmerzhaften Krankheit wieder unsere Gesundheit schätzen, ist das eindeutig eine verknüpfte Erfahrung, die unser Gehirn bewusst und zufrieden abspeichert. Doch wenn wir unsere Gesundheit als selbstverständlich nehmen, rückt die Abwesenheit von Schmerz in den Hintergrund. Auch hier empfinden wir die reinen Sinneseindrücke eines Babys nach: Wenn es schmerzfrei ist, ruht es, schläft es und widmet sich den jeweils auftretenden Sinnesreizen. Auch kleine Kinder halten körperliches Wohlgefühl so lange für selbstverständlich, bis es unterbrochen wird.

WEITERE GENÜSSLICHE SINNESEINDRÜCKE

So beginnt ein kleines Kind damit, die Welt als reine Sinneseindrücke zu erfahren und sich allmählich ein Inventar an verknüpften Informationen zuzulegen, und wir haben hier damit begonnen zu versuchen, uns wieder dem reinen Sinneseindruck anzunähern. Vermutlich haben Sie dabei bemerkt, wie ein unverknüpfter Sinneseindruck durch Benennen zu einem verknüpften wurde. Im nächsten Kapitel werden wir anfangen, uns diesen verknüpften Informationen als Wahrnehmungen zuzuwenden, und erforschen, wie Sprache dazu dient, diese Wahrnehmungen zu festigen. Je stärker wir in die Welt der Sprache hineinwachsen, desto unzugänglicher werden die unmittelbaren Sinneseindrücke.

Doch jeder unserer Sinne erlebt besondere Momente, in denen wir wortlos werden und uns wieder dem reinen Sinneseindruck hingeben. Die folgenden Beispiele können Sie vielleicht zu solchen Erfahrungen inspirieren.

In Bezug auf Geschmack versuchen gute Köche immer wieder, Geschmackserlebnisse zu kreieren, die den Gästen vor Genuss die Sprache verschlägt. Es gibt wunderbare Filmszenen dieses Moments, zum Beispiel in Tom Jones oder in Babettes Fest.

Die Natur kann uns auch über den Geruchssinn in diesen erweiterten Zustand versetzen. Der Duft eines blühenden Lavendelfelds oder der frische Geruch des Waldes nach einem Regenschauer können uns so tief berühren, dass wir in Schweigen verfallen.

Ähnliches geschieht manchmal angesichts überwältigender Schönheit, sei es wenn uns ein Kunstwerk gefangen nimmt oder wenn sich das ganze Panorama eines farbenprächtigen Sonnenuntergangs vor uns entfaltet.

Auch Musik kann Zuhörer und Ausführende in diese sprachlose Welt versetzen, ja sie tut es so oft, dass wir es beinahe erwarten. Solche Art der Musikerfahrung gehört zu den zutiefst erfüllenden Erlebnissen des Lebens.

Zu guter Letzt können der Tastsinn und das Spüren sowohl Liebende in ekstatische Zustände versetzen als auch einen Zugang zu subtilen Energiefeldern vermitteln. Die Energie einer Gedenkstätte oder eines spirituellen Ortes kann so ergreifend sein, dass wir spontan in ehrfürchtiges Schweigen verfallen.

Wir haben uns bislang darum bemüht, die Fähigkeit zu reinen, unverknüpften Sinneseindrücken zurückzugewinnen. Jetzt wird es darum gehen, daraus bewusst Wahrnehmungen zu bilden. Dazu bedarf einer gewissen fokussierten Aufmerksamkeit und Analyse, und es gibt verschiedene Möglichkeiten, diese Qualitäten zu verstärken. Es geht darum, den frontalen Cortex zu aktivieren. Sie werden mit diesem Bereich des Gehirns im Laufe unserer Reise noch sehr vertraut werden und ihn gut zu nutzen wissen. In den ersten Übungen dazu möchte ich Sie anregen, Ihre Aufmerksamkeit und Ihren Fokus mit Hilfe von fünf wirksamen sensorischen Auslösern spielerisch zu stärken.

Wenn Ihre Ohren Mühe haben zu hören, können Sie die Augenbrauen heben. Damit heben sich auch die Ohren ein wenig, wodurch sich das Trommelfell anspannt und die Aufmerksamkeit wacher wird. Tiere, die die Ohren spitzen, tun etwas ganz Ähnliches.

Wenn Sie merken, wie ihre Augen abschweifen oder Ihr Blickfeld verschwimmt, kann Blinzeln helfen, den Fokus zu aktivieren. Achten Sie mal darauf, was Sie tun, wenn Sie bei schlechter Sicht Auto fahren oder einen Text zu Ende lesen wollen, obwohl Sie sehr müde und Ihre Augen erschöpft sind. Wahrscheinlich werden Sie merken, wie Sie blinzeln.

Wenn Sie sich geistig erschöpft fühlen und Ihnen die Welt schal erscheint, probieren Sie mal, tief und schnüffelnd durch die Nase zu atmen. Das erfrischt nicht nur Ihren Geruchssinn, sondern auch Ihr Denkvermögen. Wenn Studenten, Manager oder alte Menschen Gehirnaerobic-Atemübungen machen, um ihren Geist auf Trab zu halten, bedienen Sie sich genau dieses Mechanismus.

Wenn Sie einen wachen Geist brauchen, können Sie auch mit der Zunge gegen den Gaumen schnalzen. Tierforscher haben festgestellt, dass viele Säugetiere solche Schnalzlaute verwenden, um die Aufmerksamkeit ihrer Jungen zu erregen.

Und wenn Sie mal um die richtigen Worte ringen, können Sie die Fingern Ihrer rechten Hand beklopfen oder mit Daumen und Mittelfinger der rechten Hand schnalzen. Der Bereich des Gehirns, der diese Finger bewegt, liegt im linken frontalen Cortex direkt neben dem wichtigsten Sprachzentrum und kann dieses anregen, die passenden Worte zu finden.

Im nächsten Abschnitt der Reise werden wir entdecken, dass viele Kinder und Naturvölker genau dazu fähig sind. Sie können die Welt der Formen wahrnehmen und dann ihren Fokus so verändern, dass sie nur die energetischen Aspekte hinter den Formen sehen. Sie können sich frei über die Schwelle zwischen Sinneseindruck und Wahrnehmung hin- und herbewegen. Auch der zu Anfang erwähnte Mönch schien das zu tun, als er die Blume jedes Mal neu sah, wenn er sich ihr zuwandte. Wenn Sie die beschriebenen Übungen praktizieren, können auch Sie Wege finden, diese Schwelle leichter zu überschreiten.

3. STUFEN DER CHARAKTERBILDUNG

… wenn du einen Schritt vorwärts zu machen versuchst

in der Erkenntnis geheimer Wahrheiten,

so mache zugleich drei vorwärts in der Vervollkommnung

deines Charakters zum Guten.

Rudolf Steiner

Die Stufen der höheren Erkenntnis

Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Welt leben werden, in der sie nicht nach der Farbe ihrer Haut, sondern nach ihrem Charakter bewertet werden.

Martin Luthur King Jr.

Wie entsteht Charakter, wie wird er geformt, wie viel davon ist ererbt und wie viel erworben? Können wir unsere Kinder darin unterstützen, einen starken Charakter zu entwickeln? Und können wir auch noch später im Leben unseren Charakter stärken? Wir erkennen einen starken Charakter, wenn wir ihm begegnen. Aus ihm gehen jene edlen Taten hervor, die uns zu Tränen rühren können. Besonders berührt es uns, wenn Kinder sich so verhalten. Kindliche Akte des Mitgefühls sind für Eltern, Erzieher und Lehrer häufig eine kostbare Inspiration, selbst mehr danach zu streben, den eigenen Charakter zu stärken.

Dieses Kapitel beginnt mit neuen Erkenntnissen darüber, dass die Bildung unseres Charakters bereits vor unserer Geburt beginnt. Im zweiten Abschnitt über die Suche nach einer Neurologie des Friedens stelle ich ein Grundmuster für die kindliche Entwicklung von Charakter, Willenskraft und sozialem Engagement vor. Wir erkunden die vier Entwicklungsschritte, die wir in den ersten fünf Lebensjahren bewältigen müssen, und Sie können prüfen, welche Rolle diese Aspekte bei Ihrer eigenen Charakterbildung gespielt haben und wie sie Ihren Umgang mit anderen Menschen prägen. Zum Glück können die Strategien, die bei der kindlichen Entwicklung helfen, auch auf Erwachsene angepasst werden, um unseren eigenen Charakter und Beziehungsfähigkeit zu stärken.

ERSTE SCHRITTE DER CHARAKTERBILDUNG

Man hat erst kürzlich entdeckt, dass die frühesten Impulse zur Formung des Charakters bereits im Mutterleib stattfinden. Es sind sogenannte epigenetische Einflüsse in Form von chemischen Botenstoffen.

Die Wissenschaft der Epigenetik (= jenseits der Genetik) befasst sich damit, wie unsere Gene darauf programmiert werden, ihre Funktionen zu erfüllen. Es ist zwar schon seit einer Weile bekannt, dass veränderte Gene zu emotionalen und körperlichen Störungen führen können, doch das ganze Ausmaß der Bedeutung dieser genetischen Programm-Änderungen zeigt sich erst allmählich. Bestimmte chemische Verbindungen bestimmen, wie sich die Gene während der fötalen Entwicklung ausbilden, wie sie verpackt sind, welche Rollen die Zellen übernehmen und wann diese Rollen aktiviert werden.

Wenn sich die Zelle nicht an diese Rolle erinnert, kann es zu Krebs und anderen Krankheiten kommen. Gene, die schlecht verpackt sind oder Fehlinformationen enthalten, geben entsprechend schlecht ihre Anweisungen weiter, was zu ernsthaften Problemen führen kann. Und was kann die genetischen Bindungs- und Verpackungs-Prozesse des Fötus stören? Der Forschung zufolge stammt die Anweisung zur abweichenden Genbildung von den Eltern! Das Folgende ist nur ein Beispiel von vielen Studien, die zu dieser Erkenntnis geführt haben:

2010 führten Wissenschaftler der Züricher Universität ein Experiment durch, bei dem sie eine Gruppe männlicher Mäuse in den ersten zwei Wochen ihres Lebens erhöhtem Stress aussetzten, indem sie die Jungen häufig und plötzlich von ihren Müttern trennten. Danach wurden sie normal versorgt und aufgezogen, doch auch als ausgewachsene Tiere zeigten sie mit vermehrtem Rückzug und großer Sprunghaftigkeit Anzeichen von Traumatisierung. Diese Mäuseriche wurden dann mit ganz normal ruhigen Mäusen gepaart und hatten mit der weiteren Aufzucht der daraus entstehenden Jungen nichts mehr zu tun. Nichtsdestotrotz wiesen diese Jungen ein ähnliches Verhalten auf wie ihre Väter, und ihre Gehirne wiesen dieselben genetischen Programmierungsabweichungen auf. Es zeigte sich, dass dieses Programmierungsmuster über das Sperma des Vaters übertragen und so über die Empfängnis an die nächste Generation weitergegeben wurde.

Mütter übermitteln ihre Alarmbotschaften auf anderem Wege. Der menschliche Fötus schützt sich mit Hilfe bestimmter Enzyme vor dem gewöhnlichen Auf und Ab der Stresshormone der Mutter. Doch wenn die Mutter extremem Stress ausgesetzt ist oder unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leidet, reicht dieser Puffer nicht mehr aus und der Fötus leidet unter sogenanntem fötalem Stress. Wenn dieser lange anhält, wird die Sauerstoffversorgung des Fötus gemindert, was alle möglichen Folgen haben kann, von Wachstumsstörungen über Frühgeburten bis zu einer Schwächung des Immunsystems, durch die das Neugeborene anfälliger für Infektionen, Asthma und Verdauungsprobleme wird. Darüber hinaus erhöht sich die Empfindlichkeit des Kindes für PTBS.

Dieses Muster zeigte sich unter anderem in einer Studie über Mütter, die 1992 während des Wirbelsturms Andrew schwanger waren. Die fötalen Stressmuster der Neugeborenen wurden danach unterteilt, ob sich die Schwangerschaft zu dem Zeitpunkt im ersten, zweiten oder letzten Drittel befand, und mit den Stressmustern von Kindern verglichen, die zur gleichen Zeit in einem Gebiet geboren wurden, in dem es keine Naturkatastrophe gab. Bei den Kindern, wo der Wirbelsturm im ersten Drittel der Schwangerschaft stattgefunden hatte, zeigten sich keine Auffälligkeiten. Während des zweiten Drittels erhöhte sich die Anfälligkeit für fötalen Stress jedoch um 20 Prozent, im letzten Drittel um 26 Prozent. Bei Kindern afrikanisch-amerikanischer Mütter, die im letzten Schwangerschaftsdrittel waren, erhöhte sich dieser Wert sogar auf 45 Prozent, wahrscheinlich weil diese Bevölkerungsgruppe besonders betroffen war. Sie hatten geringere Chancen, evakuiert zu werden, litten häufiger unter Verletzungen, waren schlechter versichert und endeten mit größerer Wahrscheinlichkeit obdachlos.

Diese Geschichte wiederholt sich überall dort, wo Eltern mit Naturkatastrophen, großer Armut, Gewalt oder Krieg konfrontiert sind und diese Schrecken unwissentlich an ihre Kinder weitergeben. Wir können dieser Dynamik entgegenwirken, indem wir schwangere Mütter besser vor Trauma schützen und indem Väter ihre eigenen Traumata verarbeiten, um mit dem täglich neu produzierten Sperma bessere Botschaften weiterzugeben. Die Epigenetiker forschen auch danach, wie sich solche Botschaften in Kindern und Erwachsenen umprogrammieren lassen. Die Ergebnisse brauchen ihre Zeit, doch es werden mit Spannung neue Durchbrüche erwartet.

Im Augenblick müssen wir erst mal lernen, mit den Botschaften umzugehen und die Schatten zu lichten, die sie auf unseren Charakter werfen. Zum Glück fallen sie bei der Charakterbildung nur untergeordnet ins Gewicht. Unser Charakter beruht zum größten Teil auf den Qualitäten unserer Willenskraft. Dabei umfasst Willenskraft nicht nur die Fähigkeit, Versuchungen zu widerstehen, sondern auch Eigenschaften wie Initiative, Ausdauer, Kompromiss- und Verzichtsbereitschaft und mutiges Handeln. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Vielleicht möchten Sie sie auch mit bestimmten Eigenschaften ergänzen, die Ihnen besonders wichtig sind.

In dem Rest dieses Kapitel erkunden wir nun, wie sich diese Willensqualitäten in den ersten fünf Lebensjahren entwickeln und dabei wesentlich unseren Charakter formen. Im Gegensatz zu epigenetischen Einflüssen lassen sich die Auswirkungen dieser Erfahrungen jedoch später korrigieren. Falls Sie mit den charakterlichen Auswirkungen dieser Phase Ihres Lebens nicht zufrieden sind, finden Sie auf den folgenden Seiten viele Übungen, mit denen Sie diese Qualitäten verbessern können.

DIE SUCHE NACH EINER NEUROLOGIE DES FRIEDENS

Ich plante meine öffentlichen Reden über viele Jahre hinweg nach einem wunderbar funktionierenden Muster. Mit meiner unstillbaren Neugier entdeckte ich ständig neue Forschungsergebnisse, die ich dann auf den Bereich von Bildung und Erziehung übertrug und bei der nächsten Gelegenheit einem Publikum vorstellte. Dieser Prozess vollzog sich für mich mit großer Leichtigkeit. Die Einladungen zu großen Konferenzen erfolgten allerdings oft ein bis zwei Jahre im Voraus. Ich versuchte dann jeweils abzuschätzen, welche Themen ich bis dahin erkundet haben würde und bot einen entsprechenden Vortrag an. So vermied ich, über etwas sprechen zu müssen, was mich nicht mehr inspirierte. Vor ein paar Jahren brachte mich dieses Vorgehen in eine Zwickmühle. Mit achtzehn Monaten Vorlauf wurde ich eingeladen, vor knapp zweitausend Montessori-Lehrern zu sprechen. Zu jener Zeit dachte ich gerade darüber nach, wie die neurologischen Grundlagen für Frieden aussehen mochten. Da sich die Montessori-Erziehung ganz wesentlich als Friedens-Erziehung begreift, freuten sie sich sehr, als ich anbot, über die neue Neurologie des Friedens zu sprechen.

Ich hatte verschiedene Ideen, wo ich suchen wollte. Zuerst durchforstete ich erneut die Studien zum Riechkolben, in der Hoffnung, dass sich dieser in seiner Verbindung zum Frontallappen in neuen Studien als eine Art Wahrheitsdetektor erwiesen habe. Daraus könnte sich die Fähigkeit zu klügeren Entscheidungen und damit friedvollerem Verhalten ableiten. Doch nichts dergleichen. Dann studierte ich, ob es Forschungen zur moralischen Entwicklung gab, die sich mit neurologischen Prozessen verbinden ließen. Die Wissenschaftler waren sich zwar ziemlich sicher, dass die Frontallappen dabei eine zentrale Rolle spielten und zitierten viel aus den Arbeiten von Alexander Luria, doch ich war mit Lurias Werk gut genug vertraut, um zu wissen, dass ich dort auch nicht ausreichend fündig werden würde.

Inzwischen waren es nur noch neun Monate bis zu dem Vortrag und ich wurde unruhig. Ich bin keine Schnellleserin, sondern eine eher gemächliche Wissenschaftlerin. Ich beschloss, meine Suche auf die Werke drei wichtiger Forscher zu begrenzen und zu hoffen, daraus die Schlüsse ziehen zu können, die ich brauchte. Ich entschied mich als Erstes für D. Bruce Perry von der Baylor Universität in Texas, der über die Auswirkungen von Gewalt und Trauma auf das Verhalten und Denkvermögen kleiner Kinder forschte. Als Nächstes wählte ich Dr. Allan Schore, einen Kinderpsychiater, der sich auf die affektive kindliche Entwicklung spezialisiert und enorme Mengen an Daten über die neurologische Entwicklung bei Kindern verarbeitet hatte. Und zuletzt nahm ich Dr. Stephen Porges hinzu, der kurz zuvor die Ergebnisse von zwanzig Jahren Forschung am Vagus-Nervensystem veröffentlicht hatte.

Als ich nach Monaten des Lesens und Studierens begann, meine Notizen auszuwerten, zeigte sich ein überraschend einfaches Muster. Die Entwicklung zur Selbstregulation und zu mitfühlendem Verhalten schien in vier einfachen Schritten zu erfolgen. Kinder werden gewissermaßen ohne »Bremsen« geboren, sehr zum Leidwesen aller Mütter, die versuchen, ihre Neugeborenen zu beruhigen. Sie müssen erst lernen, mit der Fülle an Sinneseindrücken umzugehen, die auf sie zukommen. Und sie lernen erst allmählich, ihre Bewegungsimpulse zu steuern. Ich werde das in den nächsten Abschnitten noch genauer erläutern. Im Moment lässt sich das Muster, grob gesagt, als eine Reihe von An- und Ausschaltern beschreiben, die es zu entwickeln gilt.

Als Erstes lernen Kinder, mit der Welt der Sinneseindrücke umzugehen. Um zur Ruhe zu kommen, lernen sie, diese Eindrücke abzuschalten, wenn sie zu viel werden. Wir können das den Sinne-Abschalter nennen. Dann lernen sie, mit immer mehr Eindrücken aus der Umwelt umzugehen, ohne davon überwältigt zu werden. Das können wir den Sinne-Anschalter nennen. All dies findet im ersten Lebensjahr statt. Dann beginnen sie zu krabbeln und die Umwelt zu erkunden, und die motorischen Prozess rücken in den Vordergrund. Zuerst folgen sie ihren Bewegungsimpulsen, dem Motorik-Anschalter. In der zweiten Hälfte dieser Phase lernen sie sprechen, um ihre sozialen Beziehungen zu vertiefen. Damit sind dann auch die Voraussetzungen gegeben, den Motorik-Ausschalter zu bilden, und Erzieher und Eltern können aufatmen. Das sind die vier grundlegenden Schritte.

Da ich nur noch acht Wochen Vorbereitungszeit hatte und das Muster sich gerade erst zu zeigen begann, bat ich eine Kollegin von der Naropa-Universität um ein kurzes Gespräch. Jane Carpenter war zu jener Zeit Leiterin der psychologischen Fakultät und darüber hinaus eine langjährige praktizierende Buddhistin und Kennerin buddhistischer Psychologie. Ich war mir sicher, dass sie meine Entdeckungen interessieren würden. »Weißt du, ich glaube, die kindliche Entwicklung verläuft von Sinne ab- zu Sinne anschalten, und von Motorik an- zu Motorik abschalten«, erklärte ich ihr und erwartete, das noch sehr viel ausführlicher erklären zu müssen.

Doch sie antwortete sofort: »Oh, du meinst befrieden, bereichern, anziehen und zerstören!?« Ich fragte nach, was sie mit zerstören meine, und sie erklärte: »Du weißt schon, das Überwinden von Verlangen.« Da war mir klar, dass es passte. Befrieden oder Beruhigen ist gleichbedeutend mit Sinne abschalten. Bereichern entspricht dem Genießen von Eindrücken oder Sinne anschalten. Anziehen passt zu der Hinbewegung auf die Welt, dem Anschalten der Motorik, und Zerstören zur Entwicklung der Impulskontrolle oder dem Abschalten der Motorik.

»Und was sind das?«, fragte ich sie.

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9783867287401
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