promo_banner

Реклама

Читать книгу: «Original Mind - Anfängergeist und Bildung», страница 2

Шрифт:

Bei der folgenden Geschichte können Sie mit mir Detektiv spielen. Eines Tages saß ich in einer Sonderschulklasse in der Lesestunde. Zu der Klasse gehörte ein sehr autistischer, acht Jahre alter Junge, der ein paar rudimentäre Sprachkenntnisse hatte, aber die meiste Zeit in seiner eigenen kleinen Welt verbrachte. An jenem Morgen schien er ziemlich unruhig zu sein. Zuerst ging er zu dem Aquarium, bewegte es ein paar Mal hin und her und betrachtete es dann mit offensichtlichem Vergnügen. Er wollte es gerade wiederholen, als die Lehrerin ihn bat, dort wegzugehen. Daraufhin lief er zu der glänzenden Metalltüre des Materialschranks und begann, sie heftig hin- und herzuschwingen. Dann wurde er gebeten, sich mit auf den Boden zu setzen, wo die Klasse über Kalender sprach. Hinter ihm stopfte ein Kind einen Therapieball passgenau in eine Spielzeugtonne. Der Junge regte sich furchtbar auf und beruhigte sich erst wieder, als der Ball aus der Tonne entfernt wurde. Daraufhin saß er ein paar Minuten lang still, doch sobald zur Pause geläutet wurde, lief er zu einem Platz direkt neben der Heizung.

Erkennen Sie das unsichtbare Muster? Wenn Sie von den Dingen absehen und mehr die Wellen betrachten, die sie erzeugen, merken Sie vielleicht, wie fokussiert der Junge eigentlich war. Bei dem Aquarium ging es ihm nicht um die Fische, sondern um die Wellenbewegungen auf dem Wasser, die er erzeugt hatte. Auch die Metalltüre vibrierte durch die heftige Bewegung und erzeugte Wind und Lichteffekte. Der Ball? Er setzte die Tonne unter Druck. Der Junge hörte wahrscheinlich den zischenden Luftzug, als der Ball in die Tonne gepresst wurde, und verspürte den Drang, die Tonne zu »befreien«. In der Pause genoss er dann die Wärmewellen, die von dem Heizkörper aufstiegen.

Die Welt ist voll von solchen Schwellen-Phänomenen – Ereignissen, die gleichermaßen unsichtbar und ansichtbar sind. Versuchen Sie, Gelegenheiten zu finden, wo Sie sich mit kleinen Kindern darüber austauschen können. Ein Regenbogen zum Beispiel mag wie ein wirkliches Ding erscheinen, doch tatsächlich besteht er nur aus prismatisch angeordneten Lichtwellen. Bäche und Wasserfälle sind sichtbar gewordene Fließwellen. Ein Echo ist nichts als eine Klangwelle, die unsere Stimme zurückspiegelt. Die meisten Kinder unter sechs Jahren leben in einer Welt der direkten Sinneserfahrung. Sie können sich ganz auf die jeweilige Erfahrung einlassen, ohne das ständige mentale Geplapper des erwachsenen Verstands. Sie empfinden diese Wellen und Bewegungspfade als natürliche Aspekte der sie umgebenden Bilder und Sinneseindrücke. Um diese Fähigkeiten vollständig zu entwickeln, bedürfen sie jedoch unserer Unterstützung, indem wir ihre Sinneseindrücke ihrer Umwelt würdigen und aufhören, immer den Reiseführer zu spielen, der weiß, was richtig und wichtig ist. Die große Biologin Rachel Carson riet in diesem Zusammenhang:

Um sich seine angeborene Fähigkeit des Staunens zu erhalten, braucht ein Kind darin die Begleitung von mindestens einem Erwachsenen, der mit ihm zusammen die Freude, die Aufregung und das Wundersame der uns umgebenden Welt entdeckt.

Die folgende Übung lädt Sie ein, ein kleines Kind auf diese Weise zu begleiten. Ich möchte Sie ermutigen, mit einem Kind zusammen einen sogenannten stillen Spaziergang zu unternehmen. Diese Übung hat im Laufe der Jahre Hunderte meiner Studenten und Teilnehmer überrascht, begeistert und angeregt, die Welt mit frischem Blick zu betrachten. Machen Sie sich in Ruhe mit der Anleitung vertraut, damit sie dafür bereit sind, wann immer sich die Gelegenheit dazu ergibt.

Die Anleitung

Nehmen Sie sich etwa 30 bis 45 Minuten Zeit, um mit einem Kind zwischen 2,5 und 5,5 Jahren spazieren zu gehen. Sie können einfach um den Block gehen, durch den Garten wandern oder einen nahe gelegenen Park besuchen. Wenn Sie mit dem Kind nicht gut bekannt sind, kann es sinnvoll sein, in der Nähe des ihm vertrauten Umfeldes zu bleiben. Lassen Sie das Kind die ganze Zeit das Tempo bestimmen. Lassen Sie alle Gesprächsimpulse vom Kind ausgehen. Das Ziel ist, so weit zur Ruhe zu kommen, dass das Kind Sie praktisch vergisst und auf natürliche Weise mit seiner Umgebung Kontakt aufnimmt. Um eine entspannte Atmosphäre zu schaffen, kann es jedoch hilfreich sein, wenn Sie sich zu Anfang ein wenig mit dem Kind unterhalten. Vollkommen wortlos loszugehen könnte dem Kind unangenehm sein. Versuchen Sie dabei, jede Führung des Gesprächs oder Erklärungen zu vermeiden – keine Belehrungen! Idealerweise wird das Gespräch nach ein paar Minuten verebben, und der Spaziergang wird weitgehend schweigend erfolgen. Lassen Sie unabhängig davon, ob das Kind gesprächig ist oder nicht, Ihre Aufmerksamkeit mit weichem Fokus auf dem Kind und seinen Interaktionen mit seiner Umwelt ruhen.

Wenn Sie mit einem Kind unterwegs sind, das die ganze Zeit redet, wird Ihre Herausforderung darin liegen, gut auf das Kind und seine Aktivitäten zu achten, ohne sich auf die Worte des Kindes zu konzentrieren. Vielleicht durchlebt das Kind gerade einen Sprachentwicklungsschub und genießt es, seine Welt mit all ihren Wundern zu benennen. Versuchen Sie, der Verlockung zu widerstehen, sich in ein Gespräch verwickeln zu lassen. Wenn Sie sich besonders zwischen seinen Mitteilungen mit aktiver Aufmerksamkeit an dem Kind erfreuen, wird selbst das gesprächigste Kind allmählich spüren, dass es so etwas wie nonverbale Zuwendung gibt.

Achten Sie auf diesem Spaziergang darauf, welcher Art von Dingen und Aktivitäten sich das Kind zuwendet, wie lange es jeweils dabei verweilt, und was es zu entdecken scheint. Bemerken Sie auch, was mit Ihrem Tempo und Denken geschieht, wenn Sie sich so auf die Welt des Kindes einlassen.

Viele ehemalige Studenten von mir haben solche Spaziergänge ausführlich beschrieben. Beachten Sie in den folgenden Auszügen daraus vor allem, wie die Kinder ihre Welt wahrnehmen.

Sie nimmt einen Stein auf und wirft ihn auf die Straße. Sie vertieft sich völlig in das Steine Werfen. (2 Jahre alt)

Die Reize, von denen ich annahm, dass sie ihn anregen würden, interessierten ihn nicht. Er beschäftigte sich eher mit der Dose, dem Zigarettenstummel, dem Klopfen. (5 Jahre alt)

Die Leute auf der Straße nahmen ihre Aufmerksamkeit weniger ein als ein Grashalm, ein hoher Baum oder eine Bewegung. (5 Jahre alt)

Wir hielten an, um die nasse Zeitung auf dem Rasen zu betrachten. Beim nächsten Haus rochen wir an den Blumen. (3,5 Jahre alt)

Kurz bevor die Kinder die Dinge auswählten, denen sie sich zuwandten, nahmen sie eine gewisse Bewegung wahr oder einen Schimmer, etwas, das eher einer ganzen Reihe von Sinneseindrücken entspricht als einer strukturierten Wahrnehmung. Wenn sich ihre Wahrnehmung dann einem Ding zugewandt hatte, entstand eine bedeutsame Veränderung. Die zuvor unabhängig voneinander erscheinenden Merkmale verbanden sich zu einer bewussten Wahrnehmung, die ihre konzentrierte Aufmerksamkeit forderte.

Als Erwachsene tun wir dasselbe, nur geschieht es so schnell, dass wir uns dieses feature-binding-Prozesses nicht mehr bewusst sind. Mit den bisherigen Übungen haben wir angefangen, diesen Prozess wieder zu verlangsamen, um ihn wieder in unser Bewusstsein zu holen. Im nächsten Kapitel werden wir uns dieses Feature-Binding näher betrachten und entdecken, wie jeder unserer Sinne Merkmale verbindet, um daraus Wahrnehmungen zu bilden, und vor allem, wie wir diese Bindungen wieder aufheben können.

2. VOM SINNESEINDRUCK ZUR WAHRNEHMUNG UND ZURÜCK

Wir spüren unendlich viel mehr Dinge, als wir wahrnehmen …

Wir baden in einem Pool an Sinneseindrücken, aus dem unsere

Wahrnehmung das entnimmt, was genau jetzt hilfreich ist.

Serge Carfantan

Philosophie und Spiritualität

Wir haben jetzt die wichtige Unterscheidung getroffen zwischen Sinneseindrücken, die vor einer genauen Fokussierung auftreten, und Wahrnehmungen, die sich bilden, wenn wir dem Reiz unsere Aufmerksamkeit zugewandt und ihn benannt haben. Das Überwechseln vom Sinneseindruck zu Wahrnehmung geschieht ganz natürlich und erfolgt umso schneller, je vertrauter wir mit unserer Umgebung sind. Vielleicht erinnern Sie sich daran, wie Sie einmal nach einer längeren Abwesenheit zu Hause erst mal durch die Wohnung wanderten, als wollten Sie sich vergewissern, dass noch alles da ist. Dabei feuerte Ihr Gehirn blitzschnell Wahrnehmungen, um all die bekannten Dinge wieder zu inventarisieren.

Wenn wir uns jedoch die Sinneseindrücke vor ihrer Verwandlung in Wahrnehmungen genauer betrachten, können wir etwas erforschen, was uns sonst nicht bewusst ist – den Akt der Rückverwandlung von der Wahrnehmung zum Sinneseindruck. Wir können lernen, eine nur selten genutzte Schwelle unseres Bewusstseins zu überschreiten!

Diese Fähigkeit, Schwellen zu überschreiten, ist die Grundlage jeglicher Intuition! Wenn Sie es üben, werden Sie vielleicht unter anderem bemerken, wie sich Ihre Intuition deutlich verbessert. Es ist einer der im Vorwort erwähnten verborgenen Schätze unserer gemeinsamen Reise, etwas, was nicht gelehrt werden kann, doch wenn es in Ihnen aufsteigt, kann es ein wertvoller Bestandteil Ihrer natürlichen geistigen Brillanz werden. Dieses Kapitel enthält eine Fülle von Übungsmöglichkeiten, um unsere erstaunlichen intuitiven Fähigkeiten zu erkunden und zu entfalten.

DAS TERRAIN ZWISCHEN ZWEI MYSTERIEN

Die Frage steht weiterhin im Raum, wie das Gehirn Informationen zu einer kohärenten Wahrnehmungserfahrung »verbindet«.

David Whitney

Center for Mind and Brain, University of California, Davis

In vielen Bereichen der Wissenschaft sind die polaren Extreme rätselhaft. In den Randbereichen scheinen manche Regeln plötzlich nicht mehr zuzutreffen. Newtons 1687 veröffentlichte Ideen dienten den Physikern fast drei Jahrhunderte lang wunderbar, bis sie sich mit den extrem kleinen subatomaren Teilchen und den extrem großen Wechselwirkungen zwischen Himmelskörpern befassten. Aus der Beschäftigung mit dem Mikro-Universum ging die Quantenmechanik hervor, und Einsteins Relativitätstheorie widmete sich den Phänomenen des Makro-Universums.

Auch beim Bevölkerungswachstum bergen die Extreme Rätsel. Wenn eine Bevölkerung vom Ausstreben bedroht ist, werden oft sehr viel mehr Kinder geboren. Wenn jedoch Überbevölkerung die Lebensgrundlagen bedroht, geht die Geburtenrate oft stark zurück und die Fruchtbarkeit lässt auf geheimnisvolle Weise nach.

Auch im Feature-Binding stoßen wir in den Extremen auf ähnliche Phänomene. Auf der zellulären Ebene ringen die Neurowissenschaftler immer noch mit der Frage, wie das Gehirn Informationen über Farben, Bewegungen, Formen und Klänge zu einer Wahrnehmung verknüpft. Im großen Maßstab hingegen debattieren die kognitiven Theoretiker darum, welche Rolle diese Fähigkeit zur Verbindung bei der Bewusstseinsbildung spielt und ob es überhaupt Bewusstsein geben kann, bevor solch eine Verknüpfung von unzusammenhängenden Eindrücken stattgefunden hat. Doch genau wie die Wissenschaft trotz dieser Rätsel das Gebiet zwischen den Extremen der Physik oder dem Bevölkerungswachstum erforscht, können wir auch die vielen faszinierenden Aspekte des Feature-Binding erkunden, die zwischen diese beiden Rätsel fallen.

Wir haben damit ja bereits begonnen. Die Bewegungspfade und die Wellenmuster, die Menschen beschäftigen, die gerade sehen gelernt haben, sind unverknüpfte Eindrücke. Sobald eine Wahrnehmung auftaucht, sei es eine Blume oder das Gesicht der Mutter, haben sich diese Eindrücke verbunden. Unser Geist stellt diese Verbindungen praktisch unmittelbar her, doch wir wollen hier versuchen, diese Eindrücke zu erfahren, bevor sie sich verknüpfen.

Machen wir ein Experiment. Lauschen Sie auf die Geräusche, die Sie jetzt gerade umgeben, und beachten Sie dabei zwei oder drei einfache Klänge. Zum Beispiel höre ich jetzt gerade ein Klappern … von Tellern, ein Brummen … des Kühlschranks, ein Ping … von meinem Computer, um den Eingang einer Email anzuzeigen. Was ich auch gerade höre, wird von meinem Geist möglichst sofort mit der Geräuschquelle verbunden. Das ist Feature-Binding in Aktion. Es wird meistens schon allein davon ausgelöst, dass wir uns unserer Umgebung aufmerksam zuwenden.

Ein Kaninchen hält bei allen überraschenden Geräuschen kurz inne und rennt dann instinktiv weg, ohne sich darum zu kümmern, was das Geräusch verursacht haben könnte. Was machen Sie, wenn Sie überraschend ein unbekanntes Geräusch erschreckt? In jenem Moment, kurz bevor Sie denken »Was war das?«, erleben Sie einen reinen Klang.

Doch nicht jedes einfache Geräusch ist flüchtig oder überraschend. In der Musik des Nahen Ostens gibt es ein Element namens »Bordun« oder »Drone«, welches reinem Klang recht nahe kommt. Es bildet einen anhaltenden summenden Hintergrund, um den die Melodie herum tanzt. Es erdet gewissermaßen das Musikstück, ohne selbst Informationen zu übermitteln. Die Formen der Melodie werden vom Ohr bemerkt und beim zweiten Hören vielleicht wiedererkannt, doch mit dem darunter liegenden Summton beschäftigt sich das Ohr nicht so.

Etliche moderne westliche Komponisten suchten nach solchen unverbundenen oder unvorhersehbaren Klängen. Der berühmte Pianist Keith Jarrett meditiert vor seinen Auftritten, um sich von allen musikalischen Mustern in seinem Geist zu lösen und frei von allen Erwartungen mit dem Ton anzufangen, der sich bildet, wenn er seine Hand auf die Tasten legt.

Dem Un-Komponisten John Cage ging es vor allem um das, was er Unbestimmtheit, nannte, die Vereinzelung von Tönen, Tongruppen und Stille-Intervallen. Oft verwendete er auch mechanische Klänge oder Umweltgeräusche. Er bat die Zuhörer häufig, sich vom fokussierten Zuhören zu lösen und ihre Ohren den reinen Klängen zu öffnen. Doch selbst sein erfahrenes Publikum war nicht auf das extreme Experiment vorbereitet, welches John Cage 1952 bei einem New Yorker Konzert durchführte. An jenem Abend stellte er ein neues Stück vor, welches er 4‘33“ nannte (4 Minuten, 33 Sekunden), das aus drei zeitlich genau definierten Bewegungen bestand. Der Pianist betrat die Bühne, setzte sich an das Klavier, stellte seine Stoppuhr und seine Noten auf und öffnete den Klavierdeckel für die erste Bewegung. Er begann, die Seiten umzublättern, aber er spielte nicht. Dann schloss er das Klavier wieder und öffnete es für die nächste Bewegung, blätterte ein paar weitere Seiten um, schloss es und öffnete es ein letztes Mal für die dritte Bewegung.

Leider ging diese Chance, ohne Fokus zu lauschen, an den meisten Zuhörern ungenutzt vorüber. John Cage erzählt von dieser Premiere: »Sie haben es nicht kapiert. … Was sie für Stille hielten, weil sie nicht zu lauschen wussten, war voll zufälliger Geräusche. Während der ersten Bewegung konnte man den Wind draußen rauschen hören. Während der zweiten Bewegung begannen Regentropfen auf das Dach zu trommeln. Und während der dritten Bewegung machten die Zuhörer alle möglichen interessanten Geräusche, als sie anfingen, miteinander zu reden, oder aufstanden und gingen.«

Sie können jederzeit üben, ohne Fokus zu lauschen. Der Trick besteht darin, die Geräusche zu sich kommen zu lassen, statt ihnen entgegenzugehen. Spazieren Sie durch die Natur und lassen Sie die zufälligen Geräusche an Ihr Ohr dringen. Sie können das natürlich genauso entspannt mit städtischen Geräuschen machen. Erfahrene Lehrer nutzen diese Fähigkeit in der Pausenaufsicht. Sie lassen die gewöhnlichen Geräusche zu einem Hintergrundbrummen verblassen. Wenn es irgendwo ein Problem gibt, wird es sich deutlich von diesem Hintergrundklang abheben und sie können sich dem schnell zuwenden.

Bevor wir die anderen Sinne erkunden, möchte ich Ihnen noch davon erzählen, wie Säuglinge Klänge wahrnehmen. Es gibt zwei Geräusche, auf die sie besonders mit Beruhigung und Aufmerksamkeit reagieren. Die Wissenschaftler haben dazu bei Neugeborenen den sogenannten vagalen Tonus gemessen, einen Parameter des Immunsystems. Je höher dieser Index ist, desto größer sind die Überlebenschancen des Kindes. Bei gefährdeten Neugeborenen auf der Intensiv-Station stieg dieser Vagustonus jedes Mal deutlich an, wenn das Kind die Stimme der Mutter hörte. Dieser Effekt konnte von keinem anderen Geräusch hervorgerufen werden.

Neben der Stimme der Mutter gibt es noch ein zweites Geräusch, welches im Mutterleib besonders deutlich ist – den Herzschlag der Mutter. Um die Kinder zu beruhigen läuft deshalb in vielen Säuglingsstationen Musik, der der Herzschlag eines entspannten Erwachsenen unterlegt ist. Und wenn die Mutter während der Schwangerschaft oft eine bestimmte Serie geschaut und sich dabei entspannt hat, beruhigten sich die Babys innerhalb von dreißig Sekunden, nachdem sie die entsprechende Titelmusik gehört hatten. Diese Ergebnisse legen die Vermutung nahe, dass die erste Aufgabe des Ohres darin besteht, die Verbindung zur Mutter zu stärken, indem es Geräusche verzeichnet, die mit der Mutter zusammenhängen. So beginnen die ersten Erfahrungen der Verbindung von Sinneseindrücken zu Wahrnehmungen.

SICHTWEISEN

Der das Denken steuernde Wille muss aufhören,

vom Subjekt zum Objekt zu fließen,

und anfangen, vom Objekt zum Subjekt zu fließen. …

Diese Läuterung der subjektiven Erfahrung erfolgt

durch die Praxis des Staunens, der Verehrung, der Einheit

und der vollständigen Hingabe.

John Gardner

Right Action, Right Thinking

Das Auge sieht über zwei grundlegende Mechanismen. Der erste ist das Fokussieren, welches in der Mitte des Auges erfolgt und dazu dient, Dinge genau in den Blick zu nehmen und jede Einzelheit zu erkennen. In der Natur sind es vor allem die Raubtiere, die sich dieser Art des Sehens bedienen, um ihre Beute zu erkennen, aufzuspüren, Entfernungen abzuschätzen und zuzuschlagen. Der zweite Mechanismus, die periphere Sicht, wird vor allem von Beutetieren verwendet, die damit Bewegungen ihres Umfeldes viel schneller erfassen können als mit dem fokussierten Sehen. Raubtiere haben deshalb nach vorne gerichtete Augen, die zusammen einzelne Dinge genau erkennen können, während Beutetiere wie Kaninchen und Pferde seitlich ausgerichtete Augen haben. Bei Kaninchen sitzen die Augen so weit auseinander, dass sie kein gemeinsames Blickfeld mehr haben, weshalb sie alles, was unmittelbar vor ihnen liegt, kaum sehen können. Pferde können Dinge fokussieren, zu denen sie einen gewissen Abstand haben, doch nichts, was näher als etwa einen Meter ist. Ausgebildete Springpferde vertrauen vollkommen darauf, dass ihnen der Reiter signalisiert, wann sie zum Sprung ansetzen müssen, weil sie das Hindernis aus der Nähe nicht mehr erkennen können.

Wir Menschen können beide Mechanismen nutzen. Unser peripheres Sehen nutzt die Randbereiche unserer Augen. Es reagiert viel schneller und bemerkt die kleinsten Bewegungen. Deshalb legen Vogelbeobachter den Kopf schief, patrouillieren Soldaten die feindlichen Linien seitlich und überwachen gute Lehrer die Klasse mit den »Augen am Hinterkopf«. Auch Mannschaftssportler verlassen sich vor allem beim Hochleistungssport auf diese Fähigkeit, um Veränderungen in den Bewegungsmustern der eigenen Mannschaft und des Gegners sofort aufzunehmen. Da solche Bewegungen rasch, unerwartet und ohne Einbettung in andere Eindrücke erfolgen, können wir sie als reine visuelle Informationen oder unverbundene Sinneseindrücke bezeichnen. So gut unser peripheres Sehen im Wahrnehmen der feinsten Bewegungsimpulse ist, so schwach ist es im Erkennen von Farben und Details. Dafür müssen wir uns der Bewegung zuwenden und zum fokussierten Sehen mit dem zentralen Augenbereich übergehen.

Unser hoch analytisches visuelles System macht es uns nicht leicht, reine visuelle Eindrücke zu gewinnen. Am besten geht es mit Licht und Farbe. Sowohl Menschen, die zum ersten Mal sehen, als auch Neugeborene scheinen vom Licht stark beeindruckt zu sein. Vielleicht sehnen wir uns nach dieser reinen, glanzvollen Erfahrung, wenn wir ein Feuerwerk bestaunen, nach Sternschnuppen suchen oder uns das Aufleuchten eines Weihnachtsbaums berührt. Solche Lichteffekte ermöglichen uns Erfahrungen reiner visueller Eindrücke. Um Ähnliches mit Farbe zu erleben, bedurfte es jedoch einiger herausragender Künstler.

Während im 20. Jahrhundert einige Komponisten nach der reinen Erfahrung des Klangs suchten, gab es auch bildende Künstler, die ihre Liebe zur Farbe als reine Erfahrung zu vermitteln strebten. Der französische Maler Yves Klein war besonders von einem bestimmten Blauton fasziniert. Er arbeitete sogar mit einem Chemiker zusammen, um ein Bindemittel zu entwickeln, welches dem Pigment all seine strahlende Brillanz ließ. Klein bemalte fast zweihundert Leinwände mit nichts als dieser Farbe, die er International Klein Blau nannte. Manche dieser Leinwände waren einfach von dem Blauton bedeckt und luden den Betrachter ein, das Bild weniger anzuschauen, als sich mehr dem reinen Eindruck der Farbe hinzugeben, der von dem Bild ausging.

Ähnlich wie es John Cage in der Musik anstrebte, suchte der amerikanische Autor, Kriegsgegner und Künstler Ad Reinhardt nach einem Weg, die bildende Kunst von allen Formen und Informationen zu befreien. In seiner Erregung über das oppositionelle Denken während des Vietnamkriegs versuchte er, diese Polarisierung mit seinen Texten und seiner Kunst aufzuheben. Es ging ihm darum, »ein unmanipuliertes, nicht manipulierbares, nutzloses, nicht vermarktbares, nicht reduzierbares, nicht fotografierbares, nicht vervielfältigbares, unerklärliches Bild« zu schaffen. Die letzten dreizehn Jahre seines Künstlerlebens malte er auf große Leinwände mit höchster Sorgfalt kaum erkennbare Schwarz-in-Schwarz-Quadrate. Auf einer Ausstellung über sein Lebenswerk war kürzlich als zentrales Exponat eines seiner großformatigen Werke zu sehen, welches seit über fünfzig Jahren sorgfältig erhalten wird. Es zieht die Betrachter immer noch machtvoll in seinen Bann. Sie standen lange bewegungslos davor, ließen die analytische Wahrnehmung los und nahmen einfach die Schwärze auf, die von dem Bild ausging.

Diese visuellen Ereignisse haben auch eine starke Beziehung zu dem reinen Eindruck von Wellen. Man könnte sicher das Licht selbst schon als Wellenerfahrung bezeichnen, doch das ist nur der Anfang. Mit etwas Übung können auch Sie mehr in den Genuss der Welt der Wellen kommen. Das Geheimnis besteht auch hier darin, die Eindrücke auf Sie zukommen zu lassen, statt nach ihnen zu suchen. Spüren Sie der aufbrandenden Empfindung nach, wenn Sie ein Pferd plötzlich losgaloppieren sehen. Spüren Sie den Strom des vorbeirauschenden Verkehrs, die mäandernden Bewegungen der Einkaufswagen im Supermarkt, das Herabströmen des Regens. Lassen Sie Ihren Blick weich werden und entdecken Sie die Bewegungspfade, die sich in der Welt um Sie herum abspielen.

NASEWEIS: DAS ERSTAUNLICHE RIECHSYSTEM

Unsere Nase steht mit einem speziellen neurologischen Organ in Verbindung, dem sogenannten olfaktorischen System, welches in unserem Großhirn sitzt. Es besteht aus einer sehr unabhängig agierenden kolbenförmigen Region mit etlichen Verzweigungen, die vom Rest des Gehirns nur wenig beeinflusst wird. Würde man Gehirn-Regionen einen Status zuordnen, säße dieser sogenannte Riechkolben mit seinen Verzweigungen in einer höchst elitären Gegend. Zu seinen Nachbarn gehören der Hippocampus, der Hauptsitz unseres Gedächtnisses; der frontale Cortex, in dem all unser höheres Denken stattfindet; und die Amygdala, unsere emotionale Wächterin, die traumatische Erinnerungen abspeichert und ständig nach Gefahren Ausschau hält.

Die volkstümliche Überlieferung weiß seit jeher um die Fähigkeit der Nase, die Wahrheit zu erkennen und sich einen unabhängigen, unbeeinflussten Eindruck zu verschaffen. Das amerikanische Wort sage für einen Weisen stammt von dem lateinischen Wort sagax, was eine Person bezeichnet, die einen besonders feinen Geruchssinn hat. Dieses Gespür der Nase für Wahrheit kommt auch zum Ausdruck, wenn wir von einem Journalisten sagen, »er hat eine gute Nase für Sensationen« oder in Redewendungen wie »das riecht nach einer Falle« oder »die können sich nicht riechen«.

Bei Verhören achten Kriminalbeamte darauf, ob der Verdächtige die Nase berührt. Beim Lügen gerät der Körper unter Stress, was die Blutgefäße in der Nase anschwellen lässt. Durch Reiben oder an der Nase Ziehen schwellen sie wieder ab. Die Nase spielt auch für die Wiedererkennung eines Gesichts eine große Rolle. Durch Nasenoperationen kann sich der Anblick eines Menschen bis zur Unkenntlichkeit verändern. Eine rote Kugel auf der Nase galt ursprünglich als beschämend, doch inzwischen wird ein Darsteller damit zum Clown.

Wenn wir durch die Nase einatmen, strömt die Luft zu einer Höhlung in der Nähe des Riechkolbens und kühlt dabei den frontalen Cortes. Auf ihrem Weg vom Herzen zum frontalen Cortex verläuft ein Zweig der Halsschlagader durch diese Höhlung. Wenn das Blut hier nur um zwei Zehntel Grad abgekühlt wird, können wir schon einen »kühlen Kopf« bewahren. Sonst werden wir leicht »hitzköpfig« und handeln, ohne vorher nachzudenken. Vielleicht erinnern Sie sich an Zeitungs-Fotos von Randalierern: Sie atmen häufig durch den Mund und haben das Gesicht zur Grimasse verzogen. Beides fördert die Hitzköpfigkeit.

Der Kühlungseffekt der Nasenhöhle beruht auf zwei Verhaltensweisen: der Einatmung kühler Luft durch die Nase, weshalb die Nasenatmung sehr wichtig ist, und dem Vorbeiströmen des kühleren Bluts auf dem Weg vom Kopf zum Herzen. Wenn das Gesicht eine Grimasse bildet, fließt das Blut direkt vom Gehirn zum Herzen, ohne den Umweg über die Nasenhöhle zu machen. Wenn ein Mensch hingegen lächelt, leiten die Gesichtsmuskeln das Blut durch ein Netzwerk von Adern zur Nasenhöhle hin. Der vietnamesische Mönch und Nobelpreis-Kandidat Thich Nhat Hanh rät deshalb allen: »Strebe nach Frieden. Lächele, atme und gehe langsam.« Das ist nicht nur ein weiser philosophischer Rat, sondern auch neurologisch sinnvoll. Sie können diesen Rat prüfen, indem sie ausprobieren, welche Wirkung es auf ihren Geisteszustand hat, ob Sie durch die Nase oder den Mund atmen und ob Sie lächeln oder eine Grimasse schneiden.

Die Nasenhöhle hinter dem Nasenrücken ist der einzige ungeschützte Zugang zum Gehirn. Dass dieser in einen so wichtigen Bereich des Gehirns führt, macht Medizinern gleichzeitig Sorgen und Hoffnung. Sie sorgen sich, weil auf diesem Weg Umweltgifte wie Abgase, Pestizide oder Schimmelgifte direkt ins Gehirn gelangen und dort ernsthaften neurologischen Schaden anrichten können. Alzheimer-Plaque bildet sich als Erstes in dem Bereich um den Riechkolben, und auch Parkinson entwickelt sich hier. Deshalb gehört der Verlust des Geruchssinns zu den ersten Anzeichen dieser Krankheiten. Bislang versuchten die Mediziner, diese Regionen des Gehirns über den Blutstrom mit Medikamenten zu erreichen, doch sie scheiterten an der Blut-Hirn-Schranke, die keine Fremdsubstanzen ins Gehirn dringen lässt. Jetzt forscht man an Inhalationsmitteln und hofft, diese Krankheiten über die Nase direkter behandeln zu können.

Und eine weitere spannende Entdeckung verweist auf die besondere Stellung des Geruchssinns. Gehirnzellen können sich zwar in einem gewissen Umfang regenerieren, doch sie erneuern sich und ihre Verbindungen zu anderen Zellen nur selten vollständig. Man hat diesen Prozess der Zellerneuerung, die sogenannte Neurogenese nur in zwei Bereichen des Gehirns nachweisen können: dem Hippocampus (dem Hauptsitz des Gedächtnisses) und dem olfaktorischen System.

Jüngere Untersuchungen zeigen, dass etwa zehn Prozent der Hippocampus-Zellen sich regelmäßig erneuern. Doch im olfaktorischen System werden alle sechs Monate hundert Prozent aller Zellen durch identische neue Zellen ersetzt. Die Wissenschaftler wissen nicht, warum das so ist, doch wenn dieser Prozess behindert wird, siecht der Riechkolben schnell dahin. Diese Fähigkeit zur Regeneration bildet die Grundlage einer Forschung an Ratten, bei der die Zellhülle der olfaktorischen Nervenzellen verwendet wird, um zertrennte Rückenmarksnerven wieder miteinander zu verbinden. Die ersten Ergebnisse zeigen, dass die Zellen sich reparieren und die Ratten danach wieder laufen können. Die Wissenschaftler hoffen, damit einen Weg zu finden, auch menschliche Rückenmarksverletzungen zu heilen. Während das olfaktorische System vor zwanzig Jahren noch als wissenschaftlich uninteressant galt, erscheint es heute als neurologische Goldgrube.

Im nächsten Abschnitt werden wir uns den Gerüchen selbst zuwenden, wie wir sie aufnehmen und wie wir unverbundene Geruchsempfindungen entdecken können.

VON DÜFTEN ZU PHEROMONEN

Die Neigung der Nase, Gerüche zu identifizieren und mit einem Namen oder einer Assoziation zu versehen, ist so stark, dass die Suche nach einem nicht derartig belegten bewussten Geruch aussichtslos erscheint. Da der Riechkolben unmittelbar neben dem Hauptsitz des Gedächtnisses sitzt, lösen Gerüche sehr leicht Erinnerungen aus. So kann Aromatherapie Menschen mit Alzheimer helfen, ihre schwindenden Erinnerungen wieder zu fassen. Ein einziger Geruch kann eine ganze Flut von Erinnerungen auslösen, wie bei dem Autor Marcel Proust, den ein einziger Duft aus der Kindheit zu seinen Memoiren Auf der Suche nach der verlorenen Zeit inspirierte.

Es scheint jedoch unterschiedliche Kategorien von Gerüchen zu geben. Das primäre olfaktorische System nimmt Umweltgerüche wie Parfüm, Blumendüfte, Abgase oder Essensgerüche auf und leitet sie an den Riechkolben weiter, um sie vom frontalen Cortex identifizieren und im Hippocampus Erinnerungen bilden zu lassen.

Manche Anthropologen halten jedoch zwei Gruppen von Gerüchen für noch ursprünglicher. Der Geruch von Rauch und der Geruch von verdorbener Nahrung spielen für das Überleben eine äußerst zentrale Rolle. Manche Wissenschaftler meinen sogar, die Nase sei ursprünglich genau dafür entwickelt worden. Durch die moderne technologische Entwicklung brauchen wir diese Fähigkeiten jedoch kaum noch. Wir haben Rauchmelder, die auf uns aufpassen, und die Supermärkte versorgen uns ständig mit frischen Lebensmitteln. Viele Menschen sind daher nur noch eingeschränkt fähig, Gerüche zu identifizieren.

1 674,83 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
352 стр. 4 иллюстрации
ISBN:
9783867287401
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip