Читать книгу: «Das Antikrebs-Buch», страница 4

Шрифт:

KAPITEL 3
GEFAHR UND CHANCE
Ich werde »Patient«

ALS ICH ERFUHR, dass ich einen Hirntumor hatte, geriet ich über Nacht in eine Welt, die mir zwar bekannt vorkam, von der ich tatsächlich aber kaum etwas wusste: die Welt des Patienten.

Den Neurochirurgen, an den ich sofort überwiesen wurde, kannte ich flüchtig. Wir hatten gemeinsame Patienten, und er interessierte sich für meine Forschungen am Gehirn. Doch nach der Entdeckung meines Tumors veränderten sich unsere Gespräche völlig. Von meinen wissenschaftlichen Experimenten war nicht mehr die Rede. Ich musste mich buchstäblich entblößen, die intimsten Details meines Lebens offenbaren, meine Symptome ausführlich schildern: Wir sprachen über meine Kopfschmerzen, meine Übelkeit, die Möglichkeit epileptischer Anfälle. Meiner beruflichen Attribute beraubt, wurde ich zum gewöhnlichen Patienten. Ich hatte das Gefühl, mir würde der Boden unter den Füßen weggezogen.

Und ich klammerte mich an meinen Status als Mediziner. Zu meinen Arztterminen trug ich meinen weißen Kittel mit dem Schild, das meinen Namen und Titel angab – was ziemlich kläglich gewirkt haben muss. In meinem Krankenhaus legte man Wert auf Hierarchien, und die Schwestern und Pfleger nannten die Ärzte respektvoll »Doktor«. Doch auf der Untersuchungsliege und ohne meinen weißen Kittel wurde ich zu »Mr. Soundso«, oder wurde sogar mit »Honey« angesprochen. Wie alle anderen saß ich im Wartezimmer, das ich als Arzt im Eilschritt durchmessen hatte, mit erhobenem Kopf, jeden Blickkontakt mit Patienten meidend, um nur nicht aufgehalten zu werden. Wie alle anderen wurde ich nun im Rollstuhl ins Untersuchungszimmer geschoben. Was zählte es jetzt, dass ich in der übrigen Zeit durch die Flure eilte? »Das ist nun einmal so üblich«, sagten die Pfleger. Ich fügte mich und ließ mich behandeln wie jemand, dem man nicht einmal mehr zutraute, selbst zu laufen.

Ich geriet in eine graue Welt, in der die Patienten keinen Titel, keine Qualifikation, keinen Beruf hatten. Hier interessierte sich niemand dafür, was man im Leben machte oder was einem durch den Kopf ging. Das einzig Interessante an mir war oft nur die neueste Aufnahme meines Gehirns. Ich musste feststellen, dass die meisten Ärzte nicht wussten, wie sie mich als Patienten und Kollegen in einer Person behandeln sollten. Bei einer Einladung zum Abendessen traf ich zufällig meinen damaligen Onkologen, einen brillanten Spezialisten, den ich sehr schätzte. Er war der Situation offensichtlich nicht gewachsen, stand auf, wurde blass und ging unter einem fadenscheinigen Vorwand. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass es einen Club der Lebenden gab und man mir signalisierte, dass ich nicht mehr Mitglied war. Ich bekam es mit der Angst zu tun; Angst, dass man mich einer anderen Kategorie zuordnete, der Kategorie von Menschen, die sich durch ihre Krankheit definieren. Ich hatte Angst, allmählich unsichtbar zu werden. Angst, nicht mehr richtig zu existieren, obwohl ich noch gar nicht tot war. Vielleicht würde ich bald sterben, aber bis dahin wollte ich mein Leben wie ein ganz normaler Mensch leben.

Einige Tage nach den Scanner-Aufnahmen mit Jonathan und Doug kam mein Bruder Édouard geschäftlich nach Pittsburgh. Ich hatte noch niemandem außer Anna von meiner Krankheit erzählt. Mit einem Kloß im Hals weihte ich Édouard ein, so gut ich konnte. Ich hatte Angst, ihm wehzutun, und fürchtete seltsamerweise, damit das Verhängnis erst recht heraufzubeschwören. Édouards schöne blaue Augen füllten sich mit Tränen, aber er wurde nicht panisch. Er nahm mich einfach in den Arm. Wir weinten zusammen und sprachen dann über Behandlungsmöglichkeiten, Statistiken und das, was mir nun bevorstand. Und dann brachte er mich zum Lachen, wie er es so gut konnte, indem er mich daran erinnerte, dass ich mit kahl rasiertem Kopf doch noch wie ein Punk aussehen würde – damals, mit achtzehn, hatte ich es nicht gewagt … Zumindest für ihn zählte ich noch zu den Lebenden.

Am nächsten Tag gingen Anna, Édouard und ich in der Nähe des Krankenhauses zusammen Mittag essen. Wir verließen das Restaurant in bester Laune, ich lachte so sehr über die alten Geschichten von früher, dass ich mich an einem Laternenpfahl festhalten musste. In dem Augenblick kam Doug über die Straße auf uns zu. Er wirkte düster und verblüfft, und sogar eine Spur Missbilligung lag in seinem Blick. Als ob er mich fragen wollte: Wie kannst du nur lachen, wo du gerade eine so schlechte Nachricht bekommen hast?

Bestürzt begriff ich, dass die meisten Leute es offenbar für falsch hielten, fröhlich zu lachen, wenn man eine schwere Krankheit hat, und mir wurde klar, dass ich für den Rest meines Lebens als ein Mensch gelten würde, der nicht mehr lange zu leben hatte.

Sterben? Unmöglich …

Und dann war da die quälende Frage nach dem Tod. Auf die Diagnose »Krebs« regiert man zunächst oft ungläubig. Wenn wir uns den eigenen Tod vorzustellen versuchen, begehrt unser Verstand auf: als ob der Tod nur andere treffen würde. Tolstoi beschreibt diese Reaktion großartig in Der Tod des Iwan Iljitsch. Wie viele andere erkannte ich mich darin wieder. Iwan Iljitsch ist Richter in Sankt Petersburg und führt ein geregeltes Leben, bis er eines Tages krank wird. Man verheimlicht ihm seinen Zustand, doch schließlich wird ihm klar, dass er dabei ist zu sterben, und alles in ihm sträubt sich gegen diese Erkenntnis. Unmöglich!

In seinem tiefsten Innern wusste Iwan Iljitsch, dass er sterben müsse, allein er wollte sich nicht nur nicht an diesen Gedanken gewöhnen, sondern konnte ihn einfach nicht begreifen. Jenes bekannte Beispiel für Syllogismen, das er in der Logik von Kieswetter gelernt hatte: Cajus ist ein Mensch, alle Menschen sind sterblich, also ist auch Cajus sterblich, war ihm sein ganzes Leben hindurch rechtmäßigerweise lediglich als auf Cajus anwendbar vorgekommen, keinesfalls aber auf ihn, Iwan Iljitsch selber. Jenes war der Mensch Cajus, der Mensch überhaupt, und für diesen war das Gesetz völlig gerechtfertigt; er indes war nicht Cajus und ebenso wenig der Mensch an sich, sondern er war ein Wesen völlig für sich und völlig von allen anderen verschieden; er war der Wanja mit seiner Mama und seinem Papa, mit Mitja und Wolodja, mit Spielzeug und einem Kutscher, mit seiner Kinderfrau und späterhin mit Katjenka, kurz, mit allen Freuden, Leiden und Entzückungen der Kinderzeit und Jugend. War denn der Geruch des aus Lederstreifen zusammengesetzten Balles, den Wanja so geliebt hatte, etwa für Cajus bestimmt gewesen? Und hatte Cajus etwa, so wie er, die Hand der Mama geküsst? Und hatte vielleicht für jenen die Seide des Faltenkleides der Mama gerauscht? War es Cajus gewesen, der in der Rechtsschule wegen der Kuchen revoltiert hatte? Cajus, der so verliebt gewesen war wie er? Und verstand etwa Cajus so wie er eine Verhandlung zu leiten? Cajus war in der Tat sterblich, und wenn er starb, so war es ganz in Ordnung; ich dagegen, ich, Wanja, ich, Iwan Iljitsch, mit all meinen Gefühlen und Gedanken – bei mir ist es nun einmal eine ganz andere Sache. Und es kann ja gar nicht sein, dass auch ich sterben muss. Das wäre zu entsetzlich.1

Solange wir nicht ernsthaft krank sind, scheint das Leben unendlich, und wir schieben den Tod gern von uns weg. Wir denken wohl, dass immer noch Zeit ist, das Glück zu suchen. Zuerst muss ich meinen Abschluss machen, meine Schulden abbezahlen, die Kinder großziehen, in Ruhestand gehen … Über Glück mache ich mir später Gedanken. Wenn wir die Suche nach dem Wesentlichen immer auf morgen verschieben, riskieren wir, dass uns das Leben durch die Finger rinnt, ohne dass wir es jemals richtig genossen haben.

Mit geöffneten Augen

Manchmal kuriert uns Krebs von dieser seltsamen Kurzsichtigkeit, dem Zaudern und Zögern. Eine Krebsdiagnose öffnet uns die Augen dafür, wie vergänglich das Leben ist, und kann dem Leben so seinen wahren Reiz zurückgeben. Einige Wochen nach der Diagnose meines Gehirntumors hatte ich das seltsame Gefühl, ein Schleier wäre weggezogen worden, der mir bis dahin die Sicht getrübt hatte. An einem Sonntagnachmittag betrachtete ich Anna in dem kleinen sonnigen Zimmer unseres Häuschens. Sie saß auf dem Boden neben dem Couchtisch, versuchte sich an der Übersetzung französischer Gedichte ins Englische und strahlte Konzentration und Ruhe aus. Zum ersten Mal sah ich sie so, wie sie war, ohne mich zu fragen, ob ich nicht lieber eine andere Frau hätte. Ich sah, wie eine Haarsträhne anmutig nach vorne fiel, wenn Anna den Kopf über das Buch beugte, sah, wie leicht die zarten Finger den Stift hielten. Warum war mir nie aufgefallen, wie anrührend es war, wenn sie bei der Suche nach einem bestimmten Wort unbewusst die Kiefermuskeln anspannte? Mit einem Mal sah ich sie als sie selbst, losgelöst von meinen Fragen und Zweifeln. Ihre Gegenwart war unglaublich bewegend. Allein dass es mir vergönnt war, diesen Moment zu erleben, erschien mir als ein großes Privileg. Warum hatte ich sie nicht früher so sehen können?

Irvin Yalom, der große Psychiater und Professor an der Stanford University, zitiert in seinem Buch über den Wandel, den die Aussicht auf einen baldigen Tod bewirkt, einen Brief, den ihm Anfang der Sechzigerjahre ein Senator schrieb, kurz nachdem er erfahren hatte, dass er schwer krebskrank war.

Ein Wandel ergriff mich, von dem ich glaube, das er nicht wieder rückgängig zu machen ist. Fragen des Prestiges, des politischen Erfolges, des finanziellen Status wurden auf einmal unbedeutend. In jenen ersten Stunden, als mir bewusst wurde, dass ich Krebs hatte, dachte ich nicht an meinen Sitz im Senat, an mein Bankkonto oder an das Schicksal der freien Welt … Meine Frau und ich hatten keinen Streit, seit meine Krankheit diagnostiziert wurde. Ich pflegte sie auszuschimpfen, weil sie die Zahnpasta von oben herausdrückte statt von unten her, weil sie nicht genügend für meinen sehr eigenwilligen Appetit gesorgt hatte, weil sie eine Gästeliste anfertigte, ohne mich zu fragen, weil sie zu viel für Kleider ausgab. Jetzt sind mir diese Dinge entweder nicht bewusst oder sie scheinen mir unbedeutend …

Stattdessen kam eine neue Wertschätzung von Dingen, die ich einst für selbstverständlich hielt – mit einem Freund zusammen essen gehen, Muffets Ohren kraulen und seinem Schnurren zuzuhören, die Gesellschaft meiner Frau, ein Buch oder eine Zeitschrift in dem ruhigen Lichtkegel meiner Nachttischlampe zu lesen, aus dem Kühlschrank ein Glas Orangensaft oder ein Stück Kuchen zu räubern. Zum ersten Mal glaube ich, dass ich das Leben genieße. Schließlich werde ich mir bewusst, dass ich nicht unsterblich bin. Es schaudert mich, wenn ich an all die Gelegenheiten denke, die ich mir – selbst als ich bei bester Gesundheit war – durch falschen Stolz, künstliche Werte und eingebildete Kränkungen verdarb.2

So kann die Nähe des Todes auch eine Art Befreiung sein. In seinem Schatten erhält das Leben auf einmal eine Intensität, eine Tiefe und einen Reiz, die es bis dahin nicht gehabt hat. Natürlich sind wir, wenn es so weit ist, auch verzweifelt, weil wir Abschied nehmen müssen, ähnlich wie wenn wir uns für immer von einem geliebten Menschen verabschieden müssen. Viele fürchten diese Traurigkeit. Aber wäre es nicht trauriger, wenn wir gehen müssten, ohne zuvor das Leben ausgekostet zu haben? Wäre es nicht viel schlimmer, wenn wir im Moment des Abschieds nicht Grund zur Trauer hätten?

Ich muss gestehen, dass ich lange für diese Erkenntnis brauchte. Als ich Anna bei ihrem Einzug half, ihre Bücher zu verstauen, fiel mir ein Buch mit dem Titel What the Buddha Taught (Die Lehre Buddhas) in die Hände. Verblüfft fragte ich: »Warum vergeudest du deine Zeit mit so etwas?« Im Rückblick kann ich es kaum glauben, aber meine Erinnerung trügt mich nicht: Mein Rationalismus grenzte an Beschränktheit. In meiner Kultur waren Buddha und Christus im besten Fall altmodische Moralprediger, im schlimmsten Fall Agenten zur moralischen Unterdrückung im Dienst der Bourgeoisie. Ich war fast schockiert, dass sich die Partnerin, mit der ich zusammenleben wollte, mit solchem Unsinn beschäftigte – mit diesem »Opium fürs Volk«. Anna warf mir nur einen kurzen Blick zu, stellte das Buch ins Regal und sagte: »Ich glaube, eines Tages wirst du es verstehen.«

Die große Wende

Die ganze Zeit konsultierte ich weiter Ärzte und wog das Für und Wider der verschiedenen infrage kommenden Behandlungen gegeneinander ab. Nachdem ich mich für eine Operation entschieden hatte, machte ich mich auf die Suche nach einem Chirurgen, der mir genügend Vertrauen einflößte, dass ich ihm mein Gehirn anvertrauen wollte. Schließlich entschied ich mich für einen Arzt, der vielleicht nicht unbedingt als der Spezialist mit der besten Operationstechnik galt. Aber ich hatte das Gefühl, dass er am besten verstand, wer ich war und was ich erlebt hatte. Ich spürte, dass er mich nicht im Stich lassen würde, wenn es schlecht ausgehen sollte. Er konnte nicht sofort operieren, sein Terminkalender war voll. Zum Glück befand sich der Tumor zu der Zeit nicht in einer Phase raschen Wachstums. Ich musste mehrere Wochen auf einen Operationstermin warten und las in der Zeit etliche Autoren, die sich damit beschäftigt hatten, was man aus der Konfrontation mit dem Tod lernen kann. Ich stürzte mich auf Bücher, die ich einige Wochen zuvor ungeöffnet ins Regal zurückgestellt hätte. Dank Anna, die Schriftsteller aus ihrer Heimat liebte, las ich Tolstoi, und auch dank Yalom, der ihn häufig in seinem Buch zur existentiellen Psychotherapie zitiert. Ich las zunächst Der Tod des Iwan Iljitsch und dann Herr und Knecht, das einen tiefen Eindruck bei mir hinterließ.

Tolstoi erzählt darin vom Wandel eines Gutsbesitzers, der nur seine eigenen Interessen kennt. Mit dem Vorsatz, ein überaus lukratives Grundstücksgeschäft abzuschließen, bricht der Herr in der Dämmerung ungeachtet des schlechten Wetters in seinem Schlitten auf und gerät mit seinem Knecht Nikita in einen heftigen Schneesturm. Als er erkennt, dass dies wahrscheinlich seine letzte Nacht sein wird, ändert sich seine Haltung radikal. In einer letzten, Leben spendenden Geste legt er sich auf den erfrierenden Diener, um ihn mit seiner eigenen Körperwärme zu schützen. Er stirbt, rettet aber Nikita das Leben. Tolstoi beschreibt, wie der gerissene Geschäftsmann durch diese gute Tat einen Zustand der Gnade erreicht, den er nie zuvor in seinem Leben verspürt hat. Zum ersten Mal lebt der Gutsbesitzer in der Gegenwart. Während die Kälte in ihm emporkriecht, fühlt er sich eins mit Nikita. Sein eigener Tod spielt keine Rolle, solange Nikita lebt. Jenseits des eigenen Egoismus entdeckt er eine Wahrheit, die an die Essenz des Lebens rührt, und im Augenblick des Todes sieht er das Licht – ein helles weißes Licht am Ende eines dunklen Tunnels.

In dieser Zeit kam es zu einer entscheidenden Wende in meiner Arbeit. Bis dahin hatte sich meine Tätigkeit in erster Linie auf die Wissenschaft konzentriert; im Grunde betrieb ich Forschung um der Forschung willen, doch nun rückte ich immer weiter davon ab. Wie bei einem Großteil der medizinischen Forschung hatte die Arbeit in meinem Labor nur sehr theoretisch etwas damit zu tun, Leid zu lindern. Viele Forscher stürzen sich wie ich zu Beginn ihrer Laufbahn voller Begeisterung und Naivität auf eine Arbeit, von der sie glauben, dass sie Alzheimer, Schizophrenie oder Krebs heilen wird. Aber eines Tages, ohne dass sie wissen, wie es gekommen ist, arbeiten sie mit aller Leidenschaft nur noch daran, bessere Messtechniken für die Reaktion von Zellrezeptoren auf bestimmte Medikamente zu entwickeln. Schließlich haben sie genug Material beisammen, um Artikel in wissenschaftlichen Fachzeitschriften zu veröffentlichen, Förder gelder zu sammeln und ihr Labor am Laufen zu halten. Doch vom menschlichen Leid sind sie meilenweit entfernt.

Die Hypothese, der Jonathan und ich nachgingen – die Rolle des präfrontalen Kortex bei Schizophrenie –, ist heute eine allgemein anerkannte Theorie, auf deren Grundlage weiterhin weltweit in zahlreichen Labors geforscht wird. Es war sicher solide wissenschaftliche Arbeit. Aber sie trug nicht dazu bei, Patienten zu heilen, nicht einmal ihren Zustand zu verbessern. Jetzt, da ich Tag für Tag mit der Angst vor Krankheit, Leid und Tod lebte, wollte ich genau daran arbeiten.

Nach meiner Operation nahm ich meine Forschung und meine Tätigkeit im Krankenhaus wieder auf und entdeckte entgegen meinen Erwartungen, dass mir nun meine Arbeit als Arzt am Krankenbett am meisten am Herzen lag. Als ob ich jedes Mal mein eigenes Leid ein bisschen lindern würde, wenn ich einem Patienten half, der nicht schlafen konnte oder dessen dauernde Schmerzen ihn fast in den Selbstmord trieben. Ich war einer von ihnen geworden. So betrachtet war meine Arbeit als Arzt nicht länger eine Pflicht, sondern sie wurde zu einem wunderbaren Privileg. Ein Gefühl der Gnade war in mein Leben getreten.

Das Wunder der Zerbrechlichkeit

Ich erinnere mich an eine dieser flüchtigen Begegnungen, die uns ganz unvermutet die Zerbrechlichkeit des Lebens und die wunderbare Verbundenheit zu anderen Sterblichen, zu unseren Mitmenschen, spüren lassen. Es war nur ein kurzes Zusammentreffen auf einem Parkplatz, kurz vor meiner ersten Operation, eine Begegnung, die von außen betrachtet belanglos schien, für mich jedoch wie eine Offenbarung wirkte. Anna und ich waren nach New York gefahren, und ich parkte auf dem Parkplatz des Krankenhauses. Während ich tief die frische Luft einsog und die letzten Minuten der Freiheit vor der Aufnahme, den Tests und dem Operationssaal genoss, fiel mir eine alte Frau auf, die offenbar nach einem Krankenhausaufenthalt auf dem Weg nach Hause war, ganz allein und ohne Hilfe. Beladen mit einer schweren Tasche bewegte sie sich auf Krücken und schaffte es nicht in ihren Wagen. Ich starrte sie an, überrascht, dass man sie einfach ihrem Schicksal überlassen hatte. Sie bemerkte mich, und ich erkannte an ihrem Blick, dass sie keine Hilfe von mir erwartete. Nichts. Schließlich waren wir in New York, da muss jeder selbst sehen, wo er bleibt. Ich fühlte mich von einer überraschenden Kraft zu ihr hingezogen, die von meiner eigenen Lage als Patient herrührte. Es war kein Mitleid, sondern ein instinktives Gefühl der Brüderlichkeit. Ich fühlte mich der Frau nahe, die Hilfe brauchte, aber nicht darum bat, denn wir saßen im selben Boot. Ich hievte ihre Tasche in den Kofferraum, fuhr den Wagen für sie aus der Parklücke, stützte sie beim Einsteigen und Hinsetzen und schloss mit einem Lächeln die Tür. In diesen wenigen Minuten war sie nicht allein gewesen. Ich war froh, dass ich ihr diesen kleinen Dienst hatte erweisen können. Tatsächlich tat sie mir einen Gefallen, weil sie mich genau in dem Moment brauchte und mich so spüren ließ, dass wir als Menschen eine Schicksalsgemeinschaft bilden. Wir machten uns gegenseitig ein Geschenk. Ich sehe immer noch ihre Augen vor mir, in die das Vertrauen zu ihren Mitmenschen zurückgekehrt war; ein Gefühl, dass man dem Leben vertrauen konnte, wenn es ihr – wie gerade eben – im richtigen Augenblick die Hilfe sandte, die sie brauchte. Wir hatten nur ein paar Worte gewechselt, aber ich bin mir sicher, dass sie wie ich dieses Gefühl der Verbundenheit empfand. Die Begegnung wärmte mir das Herz. Wir, die Verletzlichen, konnten einander helfen und lächeln. Ich ging in Frieden zu meiner Operation.

Sein Leben retten, bis zum Schluss

Wir alle wollen gebraucht werden. Dieses Gefühl ist unverzichtbar, es ist quasi Nahrung für die Seele. Wenn dieses Bedürfnis nicht gestillt wird, entsteht daraus Schmerz, der umso stärker wird, je näher man dem Tod ist. Ein Großteil dessen, was man als Angst vor dem Tod bezeichnet, rührt von der Befürchtung her, dass unser Leben keinen Sinn hat, dass wir umsonst gelebt haben, dass unsere Existenz bei niemandem Spuren hinterlassen hat.

Eines Tages wurde ich zu Joe gerufen, einem jungen Mann mit zahlreichen Tätowierungen und einer langen Vorgeschichte voller Alkohol, Drogen und Gewalt. Nachdem er erfahren hatte, dass er an einem Gehirntumor litt, war er völlig außer Fassung geraten und hatte angefangen, sein Krankenzimmer zu demolieren. Die verschreckten Krankenschwestern wagten sich nicht in seine Nähe. Als ich mich ihm als Psychiater vorstellte, wirkte er wie ein Löwe im Käfig. Dennoch erklärte er sich bereit, mit mir zu reden. Ich setzte mich neben ihn und sagte: »Ich habe Ihre Diagnose gehört. Ich weiß, dass Sie sehr verstört sind. So etwas kann einem große Angst machen.« Er hob zu einer langen Schimpftirade an, doch nach 20 Minuten begann er zu weinen. Sein Vater war Alkoholiker, seine Mutter hatte sich in sich selbst zurückgezogen und war völlig teilnahmslos. Er hatte keine Freunde, und die Kumpels, die mit ihm in den Bars herumhingen, würden sich sicher von ihm abwenden. Er war verloren. Ich sagte: »Ich weiß nicht, was ich für Sie tun kann. Aber ich kann Ihnen versprechen, dass ich mir jede Woche Zeit für Sie nehme, wenn Ihnen das hilft.« Er beruhigte sich und kam jede Woche zu mir, sechs Monate lang, bis er starb.

Bei diesen Sitzungen musste ich nicht viel sagen, ich hörte hauptsächlich zu. Er hatte ein bisschen als Elektriker gearbeitet, jahrelang jedoch keine Arbeit gehabt und von Sozialhilfe gelebt. Mit seinen Eltern redete er nicht mehr. Er verbrachte den ganzen Tag vor dem Fernseher und war entsetzlich einsam. Schon bald wurde klar, dass ihm der Tod unerträglich erschien, weil er mit seinem Leben nichts angefangen hatte. Ich fragte ihn, ob er in der verbleibenden Zeit nicht etwas tun könne, womit er jemand anderem einen Dienst erwies. Darüber hatte er nie nachgedacht. Er überlegte eine Weile, dann antwortete er: »Bei mir in der Nachbarschaft gibt es eine Kirche. Ich glaube, ich könnte etwas für die Leute tun. Sie brauchen eine Klima anlage. Ich weiß, wie man das macht.« Ich ermunterte ihn, mit dem Pfarrer zu reden, der sich sehr über das Angebot freute.

Joe stand nun jeden Morgen auf und ging zu seiner kleinen Baustelle, um auf dem Dach der Kirche eine Klimaanlage zu installieren. Die Arbeit kam nur langsam voran, weil er aufgrund seines großen Hirntumors Konzentrationsschwierigkeiten hatte. Aber es gab keinen Grund zur Eile. Die Gemeindemitglieder gewöhnten sich an seinen Anblick oben auf dem Dach. Sie grüßten ihn und brachten ihm mittags ein Sandwich und Kaffee. Er war den Tränen nahe, als er mir das erzählte. Zum ersten Mal in seinem Leben tat er etwas, das für andere wirklich wichtig war. Er veränderte sich, bekam nie wieder Wutausbrüche. Tatsächlich verbarg sich unter der rauen Schale ein großherziger Mensch.

Eines Tages konnte Joe nicht mehr zur Arbeit gehen. Sein Onkologe rief an und sagte mir, er sei im Krankenhaus, das Ende sei nahe und er werde in ein Hospiz verlegt. Bei meinem Besuch war sein Zimmer sonnendurchflutet. Joe lag ganz ruhig da, fast schlafend. Sie hatten alle Schläuche und Geräte entfernt. Ich setzte mich an sein Bett, um mich zu verabschieden, und er öffnete die Augen. Er versuchte zu sprechen, hatte aber nicht die Kraft dazu. Mühsam hob er die Hand und winkte mich näher. Ich hielt mein Ohr an seinen Mund und hörte ihn murmeln: »Gott segne Sie, Sie haben mir das Leben gerettet.«

Joe hat mir etwas beigebracht, das ich nie vergessen werde: Noch an der Schwelle zum Tod kann man sein Leben retten. Das gab mir Kraft für die Aufgabe, die ich vor mir hatte; auch ich wollte bereit sein, wenn meine Zeit kam. In gewisser Weise hat mir auch Joe das Leben gerettet.

Seit 17 Jahren feiere ich nun den »Jahrestag« meiner Krebsdiagnose. An das genaue Datum der MRT-Aufnahmen mit Jonathan und Doug kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nur noch, dass es um den 15. Oktober herum war. Die Zeit vom 15. bis zum 20. Oktober ist deshalb etwas Besonderes für mich, ein bisschen wie Yom Kippur oder die Karwoche oder das Fasten im Ramadan. Es ist ein privates Ritual. Ich nehme mir Zeit für mich allein. Manchmal mache ich eine private »Pilgerfahrt« zu einer Kirche, einer Synagoge, einer heiligen Stätte. Ich denke darüber nach, was mir passiert ist, denke an die Schmerzen, die Angst, die Krise. Ich bin dankbar, weil ich mich verändert habe, weil ich seit meiner zweiten Geburt ein viel glücklicherer Mensch bin.

1 058,39 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
488 стр. 48 иллюстраций
ISBN:
9783956140839
Переводчик:
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают