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Die Durchquerung der Wüste

Von den etablierten Wissenschaftlern wollte sich niemand mit der »Klempner-Theorie« befassen, die ein Chirurg entwickelt hatte. Judah Folkman war in ihren Augen ein Handwerker, der mit Rohrsystemen arbeitete und wahrscheinlich keine Ahnung von Krebsforschung hatte. Allerdings war er Professor an der Harvard Medical School und Leiter der Chirurgie am renommierten Children’s Hospital. Daher erklärte sich das New England Journal of Medicine 1971 bereit, seine exzentrische Hypothese zu veröffentlichen.48

Später berichtete Folkman von einem Gespräch, das er in dieser Zeit mit einem Kollegen im Krankenhauslabor führte, mit Professor John Ender, einem Nobelpreisträger für Medizin. Folkman befürchtete, er habe zu viel von seinen Ideen preisgegeben. Hatte er mit der Veröffentlichung seines Artikels womöglich so viel verraten, dass konkurrierende Labore nun seinen Ansatz kopieren würden? Ender sog an seiner Pfeife und meinte lächelnd: »Ihr geistiges Eigentum ist perfekt geschützt. Niemand wird Ihnen glauben!«

Tatsächlich gab es auf Folkmans Artikel keinerlei Reaktionen. Schlimmer noch, seine Kollegen zeigten ihm ihre Missbilligung deutlich: Wenn er bei Konferenzen sprach, standen sie geräuschvoll auf und verließen den Saal. Man munkelte, er manipuliere seine Forschungsergebnisse, um seine Theorie zu stützen, und noch schlimmer für einen Arzt: Man nannte ihn einen Scharlatan. Nach einer brillanten Karriere als Chirurg sei er vom Weg abgekommen. Studenten, die für den Betrieb eines Forschungslabors unverzichtbar sind, mieden ihn. Sie wollten ihre Karriere nicht riskieren, indem sie mit ihm in Verbindung gebracht wurden. Ende der Siebzigerjahre verlor Folkman sogar seine Position als Leiter der Chirurgie.

Trotz dieser Rückschläge blieb er von seiner These überzeugt. 20 Jahre später erklärte er dazu: »Ich wusste etwas, was niemand sonst wusste, und ich war im Operationssaal gewesen. Nicht die Chirurgen kritisierten mich, sondern die Grundlagenforscher, und ich wusste, dass viele von ihnen Krebs nur auf einer Trägerplatte gesehen hatten. Ich wusste, dass sie nicht die Erfahrungen hatten, die ich gemacht hatte. Die Tumoren, die dreidimensional wachsen und Blutgefäße brauchen – im Auge, im Bauchraum, in der Schilddrüse und an vielen anderen Stellen –, und das ganze Konzept der In-situ-Krebserkrankungen und der Tumoren im Ruhestadium – ich hatte das alles gesehen. Deshalb sagte ich mir immer wieder: ›Die Ideen sind schon richtig, es wird nur lange dauern, bis die Leute es begreifen.‹«49

Mit immer neuen Experimenten belegte Judah Folkman die zentralen Aussagen seiner neuen Krebstheorie:

1. Mikrotumoren können sich nicht zu gefährlichen Tumoren entwickeln, ohne ein neues Netz aus Blutgefäßen zu bilden, die sie versorgen.

2. Zu diesem Zweck produzieren sie eine chemische Substanz, das »Angiogenin«, das die Gefäße zwingt, neue Verästelungen in ihrer Nähe zu bilden.

3. Die neuen Tumorzellen, die sich im übrigen Körper ausbreiten, die Metastasen, sind nur gefährlich, wenn auch sie in der Lage sind, neue Blutgefäße auszubilden.

4. Große Primärtumoren bilden Metastasen. Aber wie jede Kolonialmacht verhindern sie, dass die fernen Gebiete zu wichtig werden. Dazu produzieren sie eine chemische Substanz, die das Wachstum neuer Blutgefäße blockiert – das »Angiostatin«. (Das erklärt, warum Metastasen plötzlich wachsen, nachdem der Primärtumor chirurgisch entfernt wurde.)

Doch Folkman konnte noch so viele Experimente durchführen, den meisten Wissenschaftlern erschien die Idee zu einfach und zu – ketzerisch. Vor allem konnte man, wie so oft in den Naturwissenschaften, das Konzept nicht ernst nehmen, solange der Mechanismus, mit dem die Tumoren die Kontrolle über die Blutgefäße erlangten, nicht geklärt war. Die Existenz von »Angiogenin« und »Angiostatin« musste bewiesen werden.

Wie die Nadel im Heuhaufen

Judah Folkman ließ sich von den Kritikern nicht unterkriegen. Er verlor auch nie das Vertrauen in die Fähigkeit seiner Kollegen, seine Theorie anzuerkennen, sobald sie genug Beweise gesehen hatten. Wahrscheinlich dachte er an den Ausspruch von Schopenhauer, wonach jede Wahrheit drei Stadien durchläuft: Zuerst wird sie verhöhnt, danach wird sie gewaltsam bekämpft, zuletzt wird sie als selbstverständlich akzeptiert. Und so machte er sich daran, die Existenz der Substanzen zu beweisen, die verhindern können, dass neue Blutgefäße wachsen.

Aber wie sollte man sie unter den Tausenden von Proteinen erkennen, die das Krebsgewebe bildet? Das erinnerte an die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Nach vielen Jahren und zahlreichen Rückschlägen war Judah Folkman kurz davor aufzugeben. Aber dann hatte er doch noch Glück.

Michael O’Reilly, ein junger Chirurg und Forscher, der seit Kurzem in Folkmans Labor arbeitete, hatte die Idee, im Urin von Mäusen, die resistent gegen Metastasen waren, nach Angiostatin zu suchen. Michael war so hartnäckig wie sein Chef. Zwei Jahre lang filtrierte er unzählige Proben mit Mäuseurin. (Eine ziemlich »anrüchige« Aufgabe, wie er später meinte). Schließlich fand er ein Protein, das die Bildung von Blutgefäßen blockierte, wenn man es bei einem Hühnerembryo anwandte (wo sich Blutgefäße normalerweise sehr schnell entwickeln). Der Augenblick der Wahrheit war gekommen. Dieses potenzielle Angiostatin konnten die Forscher nun an Labortieren testen und so herausfinden, ob es die Entwicklung von Krebs in einem lebenden Organismus verhinderte.

O’Reilly nahm 20 Mäuse und transplantierte einen virulenten Krebs auf ihren Rücken, dessen Metastasen sich aggressiv verbreiten und nach der Entfernung des Primärtumors rasch in den Lungen heranwachsen. Direkt nach der Entfernung des Tumors injizierte er der Hälfte der Mäuse Angiostatin, bei der anderen Hälfte ließ er die Krankheit ihren Lauf nehmen. Einige Tage später zeigten einige Mäuse erste Krankheitserscheinungen. Nun musste sich die Theorie in der Praxis beweisen.

Judah Folkman wusste, dass niemand ihm glauben würde, selbst wenn die Ergebnisse positiv ausfallen sollten. Daher lud er alle Forscher auf seinem Stockwerk ein, das Ergebnis zu begutachten. In Gegenwart der versammelten Zeugen öffnete O’Reilly den Brustkorb der ersten Maus, die nicht behandelt worden war. Die Lungen waren schwarz und von Metastasen zerfressen. Dann öffnete er die erste Maus, die Angiostatin erhalten hatte. Ihre Lungen waren perfekt rosa und zeigten keine Anzeichen von Krebs. Er wollte seinen Augen kaum trauen. Alle Mäuse, die kein Angiostatin injiziert bekommen hatten, waren vom Krebs befallen. Und alle, die Angiostatin erhalten hatten, waren völlig geheilt. Nach 20 Jahren der Schikanen und Rückschläge wurde das Ergebnis 1994 in der Fachzeitschrift Cell veröffentlicht.50 Von einem Tag auf den anderen wurde die Angiogenese zu einem der wichtigsten Forschungsthemen der Krebsforschung.

Eine außergewöhnliche Entdeckung

Später konnte Folkman zeigen, dass Angiostatin das Wachstum verschiedener Krebsarten aufhalten kann, darunter auch drei Krebsformen beim Menschen, die man auf Mäuse übertragen hatte. Zur allgemeinen Überraschung der Wissenschaftler und Mediziner konnte man sogar eine Rückbildung des Krebses bewirken, wenn man die Bildung neuer Blutgefäße verhinderte. Wie die Offensive der deutschen Wehrmacht nach Marschall Schukows Angriff auf ihre Nachschublinien fielen die Tumoren in sich zusammen, sobald sie von der Versorgung abgeschnitten waren. Auf eine mikroskopische Größe geschrumpft, waren sie völlig harmlos. Außerdem wurde gezeigt, dass Angiostatin schnell wachsende Blutgefäße angreift, bereits vorhandenen Gefäßen aber nicht im Geringsten schadet. Anders als bei herkömmlichen Behandlungsmethoden gegen Krebs (Chemotherapie und Bestrahlung) wurden die gesunden Zellen nicht angegriffen. Militärisch gesprochen gab es keine »Kollateralschäden«. Damit ist diese Behandlungsmethode deutlich sanfter als die Chemotherapie. In einem Artikel in der Zeitschrift Nature, in dem über die Forschungsergebnisse berichtet wurde, hieß es abschließend: »Eine Regression von Primärtumoren ohne toxische Folgen wurde zuvor noch nicht beschrieben.«51 Hinter diesem lakonischen Ton, der typisch für die Naturwissenschaften ist, verbirgt sich große Aufregung über eine außergewöhnliche Entdeckung.

Mit diesen beiden Artikeln bewiesen Folkman und O’Reilly die Rolle der Angiogenese im Tumorstoffwechsel. Das hatte nachhaltige Auswirkungen auf die Krebsbehandlung. Wenn wir den Feind durch einen Angriff auf seine Versorgungslinien kontrollieren können, sollte man langfristig zu verhindern versuchen, dass Blutgefäße Verästelungen in Richtung des Tumors ausbilden. Wie bei einer militärischen Strategie lässt sich diese Behandlungsmethode mit präzisen Angriffen in Form von Chemotherapie oder Bestrahlung kombinieren. Eine langfristige Planung erfordert jedoch auch eine Therapie für sogenannte »schlummernde« Tumoren zum Schutz vor dem Auftreten des ersten Tumors, vor Rückfällen nach früheren Behandlungen und vor einem potenziellen Ausbruch von Metastasen nach einer Operation.

Natürliche Abwehrmaßnahmen zur Blockierung der Angiogenese

Mittlerweile hat die Pharmaindustrie Medikamente entwickelt, die dem Angiostatin ähnlich sind (zum Beispiel Avastin). Doch ihre Wirkung ist, wenn man sie allein einsetzt, enttäuschend. Sie können zwar das Wachstum bestimmter Krebsarten verlangsamen und haben bei einigen Tumoren sogar eine spektakuläre Rückbildung bewirkt, doch die Ergebnisse sind nicht so durchschlagend wie bei Mäusen. Außerdem haben Medikamente zur Anti-Angiogenese, obwohl sie besser vertragen werden als die übliche Chemotherapie, problematische Nebenwirkungen, die man so nicht erwartet hatte. Daher sind sie wahrscheinlich nicht die lang ersehnten Wundermittel. Doch das überrascht eigentlich nicht. Krebs ist eine komplexe Krankheit, die selten durch eine einzige Maßnahme geheilt wird. Wie bei der Aids-Kombinationstherapie werden zur Steigerung der Effektivität verschiedene Ansätze kombiniert.

Es bleibt jedoch die Tatsache, dass die Kontrolle der Angiogenese künftig eine zentrale Rolle in der Krebsbehandlung spielen wird. Als Alternative zum Warten auf ein Wundermittel bieten sich natürliche Methoden an, die eine große Wirkung auf die Angiogenese, aber keine Nebenwirkungen haben. Außerdem lassen sie sich perfekt mit konventionellen Behandlungsmethoden kombinieren. Diese Ansätze sind:

1. Eine spezielle Ernährung (in jüngster Zeit wurden viele natürliche anti-angiogenetische Nahrungsmittel entdeckt, darunter bestimmte essbare Pilze, Grünteesorten, Kräuter und Gewürze).52–54

2. Alles, was zur Verminderung der Entzündung beiträgt, dem direkten Auslöser für das Wachstum neuer Blutgefäße (siehe Kapitel 8).55, 56

Krebs ist ein faszinierendes und bösartiges Phänomen. Er borgt sich seine verstörende Intelligenz von lebenswichtigen Funktionen unseres Körpers, korrumpiert sie und wendet sie schließlich gegen sich selbst. Studien aus jüngster Zeit haben gezeigt, wie diese Korruption funktioniert. Ob es darum geht, eine Entzündung hervorzurufen oder Blutgefäße zu bilden, Krebs imitiert unsere Fähigkeit zur Regeneration, obwohl er das entgegengesetzte Ziel verfolgt. Er ist das Gegenteil von Gesundheit, das Negativ der Vitalität. Aber das bedeutet nicht, dass Krebs unverwundbar ist. Tatsächlich kennt unser Immunsystem sogar Möglichkeiten, ihm auf natürliche Weise beizukommen. Als Vorposten unserer Verteidigungsanlagen bilden unsere Immunzellen (einschließlich der NK-Zellen) eine starke Streitmacht, die Krebs ständig im Keim erstickt. Alle Erkenntnisse stimmen überein: Alles, was unsere kostbaren Immunzellen stärkt, schwächt das Krebswachstum. Wenn wir unsere Immunzellen mobilisieren, Entzündungen bekämpfen (mit der richtigen Ernährung, mit Bewegung und seelischer Ausgeglichenheit) und so auf die Angiogenese einwirken, können wir die Ausbreitung von Krebs verhindern. Parallel zu rein konventionellen, schulmedizinischen Ansätzen können wir die Ressourcen unseres Körpers stärken. Der »Preis«, den wir dafür bezahlen müssen, ist ein bewusstes, ausgeglichenes und damit ein besseres Leben.


Zheng Cui testete an der ersten Generation von Nachkommen keine Krebszellen, weil er fürchtete, dass sie sterben könnten, wenn das Gen mit der Resistenz rezessiv wäre.
Dr. Millers Video, das zeigt, wie weiße Blutkörperchen des menschlichen Immunsystems Krebszellen aufspüren und attackieren, ist im Internet zu sehen: www.anticancerbook.com, dort »Videos«.
Die Fallbeispiele von Mary-Ann und George (die Namen wurden geändert) werden in einem Artikel im New England Journal of Medicine beschrieben, auf den sich diese Darstellung stützt.18
Die Verbindung zwischen einem aktiven Immunsystem und dem Fortschreiten einer Krebserkrankung ist bei Mäusen besser nachzuvollziehen als bei Menschen. Manche Krebsarten sind zweifelsfrei virusbedingt (etwa Leber- oder Gebärmutterhalskrebs) und hängen daher stark vom Zustand des Immunsystems ab, bei anderen ist das jedoch weniger eindeutig. Bei einem geschwächten Immunsystem (etwa bei Aids oder Patienten, die Immunsuppressiva nehmen müssen) entwickeln sich nur bestimmte Krebsarten (vor allem Lymphknotenservankrebs, Leukämie oder Melanome), die meisten anderen aber nicht. Gleichzeitig zeigen viele Studien, dass Menschen, deren Abwehr besonders aktiv gegen Krebszellen vorgeht, vor zahlreichen Krebsformen geschützt sind (beispielsweise Brust-, Eierstock-, Lungen-, Magen- und Darmkrebs), im Gegensatz zu Menschen, deren Immunzellen passiver sind. Wenn Menschen mit aktivem Immunsystem einen Tumor entwickeln, ist die Wahrscheinlichkeit der Metastasenbildung geringer.21–25
Dies geschieht dadurch, dass die Krebszellen selbst anfangs Cox-2 (Cyclooxygenase- 2) produzieren. Das Enzym ist ein unverzichtbarer Bestandteil des Entzündungsprozesses, weshalb verschiedene moderne entzündungshemmende Medikamente, die Cox-2-Hemmer, auch an dieser Stelle eingreifen.
Die Forscher in Glasgow haben eine einfache Formel zur Einschätzung des individuellen Risikos entwickelt. Sie basiert auf zwei Blutproben, die den Grad der Entzündung zeigen: CRP (C-reaktives Protein)<10 mg/l UND Albumin > 35 g/l = minimales Risiko; CRP > 10 mg/l ODER Albumin<35 g/l = mäßiges Risiko; CRP > 10 mg/l UND Albumin<35 g/l = hohes Risiko.

KAPITEL 5
DIE SCHLECHTE NACHRICHT ÜBERBRINGEN

EINE SCHWERE KRANKHEIT KANN furchtbar einsam machen. Wenn eine Affenhorde in Gefahr gerät und die Affen Angst haben, drängen sie sich instinktiv zusammen und beginnen, sich gegenseitig hektisch zu lausen. Dadurch wird die Gefahr zwar nicht gebannt, aber zumindest fühlen die Tiere sich nicht mehr so allein. Unsere westlichen Werte mit ihrem Kult um konkrete Ergebnisse lenken manchmal unseren Blick ab von dem grundlegenden, animalischen Bedürfnis nach Nähe, wenn wir in Gefahr oder unsicher sind. Sanfte, konstante, verlässliche Nähe ist oft das schönste Geschenk, das uns unsere Familienangehörigen und Freunde machen können, aber leider wissen das nur die wenigsten.

Ich hatte einen sehr guten Freund in Pittsburgh, Arzt wie ich, mit dem ich in unerschöpflichen Diskussionen die Welt neu erfand. Eines Morgens ging ich in sein Büro und teilte ihm mit, dass ich Krebs hatte. Bei meinen Worten wurde er blass, zeigte aber kein Gefühl. Als Arzt wollte er instinktiv Behandlungsvorschläge machen, wollte mir etwas Konkretes bieten, eine Entscheidung, einen Plan. Aber ich war bereits bei den Onkologen gewesen, in dieser Hinsicht konnte er mir nicht weiterhelfen. Weil er mir unbedingt konkrete Vorschläge machen wollte, verkürzte er unser Gespräch ungeschickt. Er hatte mir mehrere praktische Ratschläge erteilt, aber er hatte mich nicht spüren lassen können, dass ihn meine Mitteilung berührte.

Als wir viel später noch einmal darüber sprachen, erklärte er ein wenig verlegen: »Ich wusste nicht, was ich sonst hätte sagen sollen.« Aber vielleicht ging es auch gar nicht darum, überhaupt etwas zu sagen.

Manchmal bringen uns die Umstände dazu, die Bedeutung der Nähe neu zu entdecken. Dr. David Spiegel berichtet von einer Patientin, Leiterin eines Unternehmens, die mit dem Leiter eines anderen Unternehmens verheiratet war. Beide waren Workaholics und daran gewöhnt, ihr Leben bis ins kleinste Detail durchzuplanen. Als sie krank wurde, sprachen sie ausführlich über Behandlungsmöglichkeiten, aber kaum über ihre Gefühle. Eines Tages war sie nach der Chemotherapie so erschöpft, dass sie im Wohnzimmer auf dem Teppich zusammenbrach und nicht mehr aufstehen konnte. Zum ersten Mal weinte sie. Ihr Mann erinnert sich: »Alles, was ich sagte, um sie zu beruhigen, machte es nur noch schlimmer. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also setzte mich schließlich zu ihr auf den Boden und weinte mit ihr. Ich dachte, ich hätte völlig versagt, weil ich nicht mehr für sie tun konnte. Tatsächlich aber fühlte sie sich gerade dadurch besser – weil ich nicht mehr versuchte, das Problem zu lösen.«

In unserer Kultur, in der Kontrolle und aktives Handeln einen so hohen Stellenwert besitzen, hat bloße Anwesenheit stark an Wert verloren. Wenn Gefahr oder Leid droht, treibt uns eine innere Stimme weiter: »Steh nicht rum. Tu etwas!« Doch in manchen Situationen würden wir den Menschen, die wir lieben, gern sagen: »Hör auf, unbedingt etwas tun zu wollen. Bleib einfach da!«

Manche Menschen finden die richtigen Worte und sagen das, wonach wir uns am meisten sehnen. Ich fragte eine Patientin, die während ihrer langwierigen, anstrengenden Brustkrebsbehandlung sehr gelitten hatte, was ihr am meisten geholfen habe, stark zu bleiben. Sie überlegte mehrere Tage und schickte mir dann folgende E-Mail:

Ganz am Anfang meiner Krankheit gab mein Mann mir eine Karte, die ich mir bei der Arbeit an meine Pinnwand vor den Schreibtisch hängte. Ich las sie immer wieder. Darauf stand:

Vorne: »Öffne diese Karte und halte sie an dein Herz. Jetzt drück sie.« Innen hatte mein Mann geschrieben:

»Du bist mein Ein und Alles – mein Lichtblick am Morgen (auch an den Tagen, an denen wir keinen Sex haben!), mein sexy, warmherziger, lachender Vormittagstagtraum, du bist bei mir in der Mittagspause, auch wenn du nicht da bist, meine Vorfreude am Nachmittag, meine Beruhigung und Freude, wenn ich nach Hause komme, meine Muntermacherin beim Fitnesstraining, mein Sous-Chef in der Küche, meine Gefährtin, meine Geliebte, mein Alles.«

Auf der Karte stand weiter: »Alles wird gut.« Darunter hatte er geschrieben: »Und ich werde dir immer zur Seite stehen. In Liebe P.J.«

Und er stand mir die ganze Zeit zur Seite. Seine Karte bedeutete mir so viel und gab mir während der langen Behandlung Hoffnung.

Ich hoffe, das beantwortet Ihre Frage.

Mish

Besonders schwer fällt es uns, den Menschen, die wir am meisten lieben, die Nachricht der Erkrankung zu überbringen. Bevor ich selbst an Krebs erkrankte, hatte ich in meinem Krankenhaus jahrelang ein Seminar für Ärzte gehalten mit dem Titel: »Wie man schlechte Nachrichten mitteilt«. Schon bald musste ich erkennen, dass die Aufgabe viel schwieriger ist, wenn es um einen selbst geht.

Tatsächlich fürchtete ich mich so sehr davor, meiner Familie von meiner Krankheit zu erzählen, dass ich es immer wieder hinausschob. Ich war in Pittsburgh, meine Familie in Paris. Die Nachricht war für sie mit Sicherheit ein Schock, und mit diesem Schock mussten sie dann leben. Zuerst sprach ich mit meinen drei Brüdern, einem nach dem anderen. Zu meiner ungeheuren Erleichterung reagierten sie auf eine einfache, direkte Art. Sie wurden nicht panisch; sie versuchten nicht, mich oder sich mit ungeschickten Phrasen zu beruhigen. Sie sagten nicht: »Das ist nicht so schlimm. Du wirst es schon überstehen.« Abgedroschene Worte, die ermutigend klingen sollen, aber von jedem gefürchtet werden, der sich fragt, welche Überlebenschancen er hat. Meine Brüder fanden die richtigen Worte, verliehen ihrem Schmerz Ausdruck, zeigten mir, dass sie Anteil an dem nahmen, was ich durchmachen musste, und dass sie mir beistehen wollten. Und das war es, was ich wirklich brauchte.

Als ich meine Eltern anrief, hatte ich trotz der »Vorübungen« mit meinen Brüdern keine Ahnung, wie ich ihnen die schlechte Nachricht beibringen sollte. Ich hatte schreckliche Angst. Meine Mutter war in Zeiten der Not stets eine Quelle der Stärke, doch mein Vater war alt geworden, und ich spürte seine Verwundbarkeit. Obwohl ich damals noch kein Kind hatte, wusste ich, dass es viel schmerzlicher sein kann, von der Krankheit eines Kindes zu erfahren als von der eigenen.

Als mein Vater auf der anderen Seite des Atlantiks den Hörer abhob, konnte ich hören, wie er sich über meinen Anruf freute. Das Herz wurde mir schwer. Ich hatte das Gefühl, ich würde ihm einen Dolch in die Brust stoßen. Schritt für Schritt befolgte ich die Regeln, die ich meinen Kollegen beigebracht hatte: Zuerst soll man einfach die Fakten darlegen, ohne Drumherumreden: »Papa, ich habe Krebs, einen Gehirntumor. Alle Untersuchungen bestätigen das. Es ist ziemlich ernst, aber nicht die schlimmste Form. Es bestehen gute Aussichten, dass ich noch einige Jahre weiterleben werde und dass das Leiden nicht zu schlimm sein wird.«

Und dann soll man warten. Man soll die entstandene Pause nicht mit leeren Phrasen füllen. Mein Vater räusperte sich, als ob es ihm die Kehle zuschnüren würde. »Oh David, das kann doch nicht …« Wir hatten nicht die Angewohnheit, über solche Themen Witze zu machen. Ich wusste, dass er verstanden hatte. Ich wartete noch ein bisschen, stellte ihn mir an seinem Schreibtisch vor, in der üblichen Haltung, die ich so gut kannte: wie er sich aufrichtete, um das Problem direkt anzugehen, wie er es sein Leben lang getan hatte. Er war nie einer Auseinandersetzung ausgewichen, auch nicht unter schwierigsten Bedingungen. Aber diesmal würde es keinen Kampf geben. Er musste keinen Schlachtplan entwerfen, keinen flammenden Artikel schreiben. Ich ging zu Phase drei über und sprach über konkrete Maßnahmen. »Ich werde einen Chirurgen suchen, der sobald wie möglich operiert. Und je nachdem, was die Ärzte bei der Operation finden, entscheiden wir, ob danach eine Chemotherapie oder eine Bestrahlung kommt.« Er hörte zu, er hatte die Nachricht aufgenommen.

Bald darauf erkannte ich, dass die Krankheit mir die Chance gab, so etwas wie eine neue Identität auszuprobieren, die durchaus auch ihre Vorteile hatte. Ich hatte lange Zeit befürchtet, dass ich die Hoffnungen, die mein Vater in mich setzte, nicht erfüllen konnte. Ich war sein ältester Sohn, und ich wusste, dass er Großes von mir erwartete. Obwohl er es nie so deutlich gesagt hatte, wusste ich, dass er enttäuscht war, weil ich »nur Arzt« geworden war. Er hätte es gern gesehen, wenn ich wie er in die Politik gegangen wäre und vielleicht dort Erfolg gehabt hätte, wo er seinen eigenen Erwartungen nicht gerecht geworden war. Und nun wurde ich mit 30 Jahren schwer krank – die Enttäuschung konnte nicht größer sein. Doch auf einmal spürte ich auch eine gewisse Freiheit. Die Verpflichtung, die mich seit meiner Kindheit belastet hatte, war schlagartig verschwunden. Ich musste nicht mehr Klassenerster sein oder der Beste an der Universität oder auf meinem Forschungsgebiet. Ich war befreit von dem ewigen Wettstreit, musste mich nicht mehr mit anderen messen, meine Fähigkeiten und meinen Intellekt unter Beweis stellen. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, ich könnte die Waffen niederlegen und frei atmen. In jener Woche spielte Anna ein Lied für mich, das mich zu Tränen rührte, als ob ich mein ganzes Leben lang auf diese Worte gewartet hätte:

I’m gonna lay down my heavy load

Down by the riverside

I ain’t gonna study war no more

Gonna lay down my sword and shield

Down by the riverside

Ain’t gonna study war no more …

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488 стр. 48 иллюстраций
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9783956140839
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