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DREI: DAS ZEICHEN

Gerry legt mir sanft eine Hand auf den Arm. «Oh, so darfst du das nicht sehen! Du musst niemanden eigenhändig ermorden, du musst nur einen … aussuchen.» Das Gefühl der Zuwendung wird durch das Funkeln in seinen Augen ein wenig beeinträchtigt.

«Und der- oder diejenige stirbt dann an meiner Stelle?»

Gerrys Zähne glänzen im grellen Lampenlicht.

«Aber dann bin ich ja doch schuld! Auch wenn ich nicht selbst abdrücke!»

Er strahlt mich an. «Betrachte es als Selbsterhaltungstrieb – so wie wenn man nach rechts und links schaut, bevor man die Straße überquert. Man springt ja auch nicht ohne Fallschirm aus einem Flugzeug. Du sorgst einfach für dich, das ist vernünftig.»

Fast hat er mich so weit, aber noch nicht ganz. «Trotzdem würde ich nur überleben, weil ein anderer stirbt. Es wäre, als ob man jemandem den Fallschirm klaut und ihn aus dem Flieger schubst!»

«Hmm», erwidert er stirnrunzelnd. «Hauptsache, du sorgst vorher dafür, dass das Opfer das hübsche pinke T-Shirt überzieht.»

«Was?»

«Das pinke T-Shirt.» Er zeigt auf das tote Mädchen. «Das ist das Zeichen.»

Sprachlos sehe ich ihn an.

«Ich muss erkennen können, wen du ausersehen hast, statt deiner zu sterben», sagt Gerry. «Einige Kollegen bevorzugen etwas Dunkleres – einen schwarzen Fleck auf einem Zettel oder Krähen auf einem Fenstersims, aber das ist alles so trostlos und schaurig! Ich favorisiere etwas, das mehr Pfiff hat, aber mein Humor ist vielleicht ein wenig abgründig.» Er grinst.

«Noch mal zum Mitschreiben: Wenn ich möchte, dass jemand mich ersetzt und für mich stirbt, soll ich ihm oder ihr das pinke T-Shirt geben?»

«Du musst natürlich schon dafür sorgen, dass es auch angezogen wird.»

«Und wie soll ich das genau machen?»

«Wie genau, kann ich dir auch nicht sagen, aber dir wird schon etwas einfallen. Es geht hier ganz akut um dein Leben und deinen Tod, Darling! Wenn du selbst im äußersten Notfall keine Lösung findest, hast du es offen gesagt nicht verdient zu leben!»

Vor lauter Panik ziehe ich die Schultern hoch und kann kaum noch atmen. Ich spüre, wie mein Herz sich windet und gegen den plötzlichen Druck ankämpft.

Dann ermahne ich mich, dass das Ganze nicht real sein kann. Das ist doch der Beweis: Ich soll jemanden auswählen, der sterben soll, und ihm dafür ein pinkes T-Shirt überziehen! Ein klassisch unsinniger Traum, oder nicht? Deshalb gibt es auch keinen Grund zur Panik. Ich muss einfach weiter mitspielen und abwarten, bis der typische Albtraummoment kommt, in dem ich in den Abgrund springen soll und vor Schreck aufwache.

Als ich den Blick wieder hebe, lacht Gerry.

«Was ist so lustig?»

«Wenn du dein Gesicht sehen könntest!» Er wischt sich eine Träne von der Wange. «Eine Minute lang bist du mir auf den Leim gegangen, nicht wahr? Das pinke T-Shirt ist das Zeichen – als ob!» Er lacht bellend und schlägt mit der Hand auf den Rollwagen aus Edelstahl. «’tschuldigung, Darling. Hier unten gibt es nicht viel zu lachen – wir müssen uns amüsieren, wenn wir können.»

Ich weiß nicht, ob ich sauer oder erleichtert sein soll. «Ich muss also keinen Ersatz für mich finden?»

«O doch, der Teil stimmt. Wie gesagt, Alex: Jemand muss sterben. Und wenn du es nicht sein willst …», er tippt sich an die Nasenspitze, «wäre es eine hervorragende Idee, eine andere Person dafür zu finden.»

Mir wird erneut eng um die Brust.

«Aber du kannst dir das Zeichen aussuchen – es mag sein, was immer du willst. Du musst sie dem oder der Glücklichen nur überreichen. Es spielt keine Rolle, ob die Person den Gegenstand dann wegwirft oder zurückgibt – das Zeichen steht nach der ersten Berührung.»

«Das T-Shirt hat nichts damit zu tun?»

«So kann man das auch nicht sagen. Vergiss nicht, je mehr du veränderst, umso besser – diesem T-Shirt würde ich an deiner Stelle dringend aus dem Weg gehen.» Gerry lächelt. «Was soll es nun sein? Was hast du denn so?» Er zeigt auf das tote Mädchen.

Ich kann den Blick nicht von ihm losreißen. Schlägt er gerade wirklich vor, was ich vermute?

«Es muss etwas sein, das du dabeihattest, als du gestorben bist», sagt Gerry und weist mit dem Kinn zur Bahre. «Schau mal nach, was du in deinen Taschen findest.»

Das ist hoffentlich wieder ein Scherz, doch ich fürchte, Gerry meint es todernst. «Mir kann nichts passieren, oder? Wenn man die Taschen der eigenen Leiche durchsucht, ist es schließlich eher so, als würde man seinem früheren Ich begegnen, nicht wahr?»

Gerry kichert kurz und schrill. «Deine Fantasie möchte ich haben! Eine Begegnung mit seinem früheren Ich! Wirklich unmöglich!»

Klar, und ansonsten läuft alles völlig normal ab, was?

Ich gehe vorsichtig auf die Leiche zu und hoffe, dass sie sich als unecht erweist – eine raffiniert ausge stattete Schaufensterpuppe oder eine Wachsfigur –, doch je näher ich komme, umso menschlicher wirkt sie. Mein Kopf fühlt sich mit einem Mal schwer und schwebend zugleich an, und ich muss mich seitlich an der Bahre festhalten. Als ich den kalten Stahl berühre, wird es jedoch schlimmer, realer.

Ich wende den Blick von dem schrecklich vertrauten, aber leblosen und grauen Gesicht ab und strecke die Hand zu der Jeanstasche des Mädchens aus. Fast glaube ich, dass die Gestalt ruckartig aufwacht und mich packt, sobald ich sie berühre. Doch vielleicht ist das eben der Moment, auf den ich die ganze Zeit warte und der mich aus diesem wahnsinnigen Albtraum reißt?

Nachdem ich tief Luft geholt und mich gewappnet habe, zittert meine Hand so sehr, dass es mir erst beim dritten Versuch gelingt, die Finger hineinzustecken.

Das Mädchen bewegt sich nicht.

Weil sie tot ist.

Und ich stehe gezwungenermaßen immer noch hier und hole mein Handy aus der Tasche meiner eigenen Leiche. (Ernsthaft – kann es noch gestörter werden?) Ich tippe aufs Display, aber es bleibt dunkel und reagiert nicht.

Obwohl ich weiß, dass ich ein Zeichen finden soll, suche ich insgeheim auch nach möglichen Hinweisen auf die Todesursache oder zumindest darauf, was in den letzten Stunden passiert ist.

In der Handyhülle steckt, wenig überraschend, eine Busfahrkarte zu meinem Wochenendjob, hin und zurück. Weiter hole ich meinen Honiglippenbalsam, ein Taschentuch und einen gelben Post-It-Klebezettel aus der Tasche. Wenn das kein Hinweis sein soll! Aber als ich das Papier entfalte, finde ich nur einen blauen Kulikrakel, als hätte jemand überprüft, ob der Stift funktioniert.

Ganz unten in der Tasche ertaste ich einen runden Klumpen und muss die Hand ganz hineinstecken, um ihn herauszuholen. Ich spüre durch den Stoff, wie fest das Bein des Mädchens ist, hart und schrecklich kalt. Erschauernd packe ich den Gegenstand und ziehe meine Finger schnell zurück.

Als ich die Hand öffne, ist es ein Ring, den ich nicht wiedererkenne. Er ist scheußlich – ein grünes wasserspeierartiges Wesen, das die Zunge herausstreckt – und gehört bestimmt nicht mir. Keine Ahnung, warum sich jemand so etwas zulegen sollte oder was zum Teufel es in meiner Hosentasche macht. Gleichzeitig erscheint mir der Ring wiederum nicht als besonders bedeutsam oder hilfreich, um zu beleuchten, wie ich gestorben bin. Es sei denn, der Ring ist verflucht? Vor einer Stunde hätte ich darüber noch gelacht, aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher.

Als ich mich über die Leiche beuge, um die andere Tasche zu untersuchen, weht mir etwas entgegen, das mich an den Obdachlosen an der Bushaltestelle erinnert. Einen schrecklichen Moment lang fürchte ich, es wäre der Geruch von verwesendem Fleisch, doch dann registriere ich den Alkohol – mein totes Ich stinkt nach Schnaps!

Dabei trinke ich nicht mehr. Seit dem letzten Mal. Aber vielleicht ist das der Grund, warum alles den Bach runtergegangen ist? Kürzliche Erfahrungen haben Folgendes ergeben:

Alkohol + Alex = komplette Katastrophe.

Bierbedingte Blindheit würde auch den schlechten Geschmack bei der Wahl des T-Shirts erklären.

«Ich will dich ja nicht drängen, Darling», sagt Gerry. «Aber die Zeit ist heute Nacht nicht auf unserer Seite.»

Ich bin schwer in Versuchung zu erwidern, dass er eben noch bestritten hat, es gebe so etwas wie Zeit überhaupt, aber ein rötliches Mal auf dem linken Handrücken des Mädchens lenkt mich ab. In meinen Augen sieht es wie ein Hase aus, mit einem Klecks als Gesicht und zwei langen Ohren. Zunächst halte ich es erschrocken für verschmiertes Blut, doch so eine kleine Wunde konnte nun wirklich nicht tödlich sein.

In der anderen Tasche finde ich nur meinen Schlüssel mit dem Schlüsselring in Form eines Drachens, der Flagge von Wales.

«Perfekt!» Gerry klatscht in die Hände. «Der Drache des Schicksals. Wie überaus passend!»

«Das soll das Zeichen sein?»

«Warum nicht?»

Ich betrachte den roten Filzdrachen mit den großen Augen und dem albernen Lächeln. «Und das gebe ich nun der Person, die meinen Platz einnehmen soll, und die stirbt dann?»

Gerry lässt die Zähne aufblitzen. «Einfach, oder?»

Grauenhaft einfach und total wahnwitzig. Gott sei Dank ist es nur ein dämlicher Traum.

«Jetzt kommt noch etwas Wichtiges, Alex.» Gerry packt meine Schultern und zieht ein ernstes Gesicht. «Du musst dich daran erinnern, was hier geschehen ist. Du musst daran glauben

Meine Wangen werden heiß. «Ja, natürlich!» Obwohl ich bereitwillig nicke, ist mir das alles plötzlich sehr unangenehm. «Äh … und wenn es mir kurz entfällt oder wenn ich beim Aufwachen glaube, es sei alles nur ein Traum?»

«Echt? Ich hätte dich für klüger gehalten.» In seiner Stimme klingt nun eine gewisse Schärfe mit. «Dieses Traumding ist ein blödes Klischee, Alex. Wenn du es vergisst oder verdrängst, wirst du höchstwahrscheinlich genau das Gleiche tun wie vorher und das gleiche Ergebnis erzielen.» Er weist mit dem Kopf auf das tote Mädchen.

«Aber das kann ja eigentlich nicht passieren, oder? Das kann ich doch gar nicht vergessen!»

«Es gibt leider keine Garantie, denn das hängt davon ab, wie dein Gehirn mit einem eventuell noch vorhandenen Sterbetrauma umgeht.» Gerry zeigt auf das Glas, das ich in der Hand halte. «Trink das Wasser lieber aus. Der Flüssigkeitspegel kann in Bezug auf die Schmerzen bei einem Neustart viel ausmachen.»

«Schmerzen?»

«Du bist gestorben, Darling. Da geht’s nicht einfach ohne Nebenwirkungen weiter.» Er lächelt. «Hattest du schon einmal einen Kater?»

Ich nicke und zucke bei der Erinnerung zusammen.

«Tja, ich muss gestehen, so wird es im Allgemeinen wahrgenommen. Wenn du aufwachst, fühlst du dich wie nach einer sehr harten Nacht!»

«Na super!»

«Besser als die Alternative, das kann ich dir versichern. Oh, und noch etwas: Beim Aufwachen hast du die ersten fünf Stunden nach dem Neustart bereits verschlafen, also würde ich mich an deiner Stelle ranhalten. Bist du bereit?»

«NEIN!»

Wie eine Flut rauscht Schwärze von allen Seiten auf mich zu. Als Letztes sehe ich ein blendend weißes Lächeln in der Luft hängen, das unmittelbar von dem Gefühl begleitet wird, als hätte mir jemand voll ins Gesicht geschlagen.

1DAS ALEXANDRA-SYNDROM

Ich höre Gesang. Lieblich. Besänftigend, vielleicht ein Engelschor. Mein Körper schwebt, sinkt zurück in den Schlaf … und in warmes dunkles Vergessen …

Eine Kreissäge von Gitarre bricht kreischend in das Wiegenlied hinein und holt mich zurück. (Ich habe diesen Song aus gutem Grund zum Wecken ausgesucht.) Obwohl ich eigentlich die Augen lieber immer noch nicht aufschlagen würde, kann ich die innere Alarmglocke, die mich schrillend auf etwas hinweist, nicht ignorieren. Es ist dringend und benötigt meine Aufmerksamkeit.

Es geht um die Toilette.

Ich taumle aus dem Bett quer durchs Zimmer und fluche, weil mein Schädel so furchtbar wehtut und mir mein aufgewühlter Mageninhalt hochkommt.

«Wo zum Teufel kam das denn her?»

Meine Stimme hallt durch die Kloschüssel.

So muss sich der weltschlimmste Kater anfühlen.

Abgesehen davon, dass ich nichts trinke.

Seit dem letzten Mal.

Es sei denn …

Doch in dem Moment, wo ich mich an letzte Nacht erinnern will, fühlt es sich an, als hätte mir jemand eine Axt in den Schädel gerammt und würde versuchen, sie wieder herauszuziehen. Ganz schlecht. Glaubt mir.

Ich wanke zum Waschbecken und lege meinen feuchten Kopf einen Augenblick lang auf meine zitternden Arme. Als ich aufschaue, blickt mir ein totes Mädchen aus dem Spiegel entgegen, mit blutunterlaufenen Augen in tiefen Höhlen, die Haut so blass, fast durchsichtig – ein Geist. Die hohläugige verwesende Leiche meines früheren Ichs. Offenbar werde ich krank.

Aber was kann ich nur haben, dass ich so furchtbar aussehe und mich genauso fühle?

Sofort türmen sich unliebsame Vorschläge wie schmutziges Geschirr in mir auf: Gehirntumor, Herzinfarkt oder irgendeine bisher unentdeckte Krankheit, bei der man sich fühlt, als hätte jemand einem einen Holzpflock durchs Auge gestoßen und das Gehirn rausgetrieben.

Das passt. Ich werde an einem seltenen Fall von Gehirnablösung krepieren. Damit werde ich berühmt.

Tot, aber berühmt.

Auf jeden Fall schaffe ich es auf die Titelseite der Hardacre Gazette: STADT TRAUERT UM TOTE SCHÜLERIN. Mein Gesicht wird in unserem Viertel auf Katzenstreusäcken abgebildet, und anerkannte Ärzte schreiben Artikel oder geben Vorlesungen über mich. Vielleicht benennen sie das Leiden nach mir – zum Beispiel die «Ernst-Erkrankung» oder das «Alexandra-Syndrom» oder «Morbus Alexis»? Das klingt gut, finde ich, wenn man davon absieht, dass ich vorher daran sterben muss.

Meine Kopfschmerzen treiben den Holzpflock eine Umdrehung weiter.

Es könnte natürlich auch am Schlafmangel liegen. Um halb zwölf war ich noch wach – ich erinnere mich daran, weil ich in Tashs Küche auf die Wanduhr geschaut habe.

Was rede ich denn da? Gestern Abend war ich gar nicht bei meiner Freundin Tash. Ich war … Bilder von Orten und Menschen gehen mir bruchstückhaft durch den Kopf, aber sie sind zu vage und zu fern, um sie festzu halten. Sie können auch gar nicht stimmen, weil ich gestern Abend hier war – allein. Anscheinend habe ich Wahnvorstellungen.

Mein Hals fühlt sich an, als hätte ich Glasscherben gegurgelt. Kopfschmerzen und Durst bis zum Umfallen? Irgendwo habe ich gelesen, dass dies klassische Symptome für etwas ganz Schreckliches sind. Ich nehme die Zahnbürsten aus dem Becher und halte ihn unter den Wasserhahn. Das Wasser schmeckt nach Minze und etwas körnig, ist aber trotzdem einfach himmlisch. Ich trinke den Becher aus und fülle ihn erneut.

Vielleicht fehlt mir nur Flüssigkeit.

Aber Flüssigkeitsmangel ist keine ausreichende Erklärung für diese entsetzlichen Schmerzen. Und wenn es nun doch ein Tumor ist?

Ich gehe lieber wieder ins Bett.

Aber etwas nagt in meinem Hinterkopf und will sich durch die Kopfschmerzen und die Übelkeit bohren, beharrlich und drängend, als wollte es mir sagen:

DAS MUSST DU DIR ANHÖREN – JETZT!

Als ich die Uhrzeit auf meinem Handy sehe, fluche ich.

ARBEIT! Natürlich! Wie konnte ich das vergessen? Warum sollte ich sonst an einem Samstag um zehn vor sechs aufstehen?

Trotzdem merkwürdig – ich hätte schwören können, dass heute Sonntag ist.

Um genau zu sein, kann ich mich daran erinnern, dass ich gestern aufgestanden bin, um arbeiten zu gehen.

Doch sobald ich diese Erinnerung festhalten will, entgleitet sie mir.

Ich prüfe das Datum. Eindeutig Samstag, schon wieder! Anscheinend verfliegen die Wochen im Nu, wenn das Leben eine lustige Achterbahnfahrt ist wie meins.

Bevor ich noch einen Gedanken fassen kann, fängt mein Handy erneut zu trällern an.

2MEIN HELD

Das dürfte Dad sein, der hören will, ob ich die Nacht überlebt habe. Wenn er auswärts arbeitet, ruft er morgens sofort an. Er macht sich Sorgen, wahrscheinlich weil wir nur noch zu zweit sind und ich, wie er andauernd betont, sein Ein und Alles bin. Die Frau zu verlieren ist schlimm genug, aber Frau und Tochter – das würde er wohl nicht überleben.

«Hey, Dad!» Ich lege meine beste Good-Day-Sunshine-Stimme auf, aber heute Morgen klingt sie ein wenig wolkenverhangen. Vielleicht merkt er es nicht.

«Ich wollte nur mal sehen, ob du auch aufgestanden bist. Nicht dass du zu spät zur Arbeit kommst.» Ich höre sein Grinsen durchs Telefon. «Alles in Ordnung?»

«Jep, alles bestens. Damit du es weißt, ich bin schon seit fünf Minuten wach.»

Er lacht. «Geht es dir wirklich gut? Du hörst dich nicht so an.»

Ich fühle mich, als hätte mir jemand eine Axt in den Schädel gerammt, Dad, was möglicherweise zu einem Aneurysma führen wird, wäre die ehrliche Antwort darauf, aber Ehrlichkeit ist nicht automatisch die beste Strategie. «Ich bin noch nicht richtig wach … So in der Übergangsphase.»

Noch ein Lachen. «Das Gefühl kenne ich. Ist Tash schon auf?»

«Ja, sie duscht gerade.» Ich werfe einen schuldbewussten Blick auf den stummen Duschkopf über der Badewanne – wie gesagt, Ehrlichkeit ist nicht immer das einzig Wahre. Trotzdem habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich lüge, und eigentlich habe ich meinem Vater auch nicht ausdrücklich gesagt, dass Tash bei mir übernachten würde. Er geht einfach davon aus, weil wir das normalerweise so machen, wenn er auswärts arbeitet. Natürlich brauche ich keinen Babysitter mehr, zu zweit macht es eben mehr Spaß. Und, auch klar, Dad fühlt sich besser, wenn er weiß, dass ich nicht allein bin.

«Und wie ist Nantwich so?», frage ich, um das Thema zu wechseln.

«Ach, weißt du, wie das Paradies mit einem Billig-hotel.»

«Schön! Und weißt du schon, wann du zurückkommst?»

«Wieso? Damit du alle rechtzeitig rausschmeißen kannst, wenn du eine Party gibst?» Er gluckst, aber darin schwingt ein Hauch von Wehmut mit, als wünschte er sich beinahe, ich würde genug Leute für eine Party kennen, selbst wenn die Wohnung darunter leiden müsste.

«Ha, klar! Also, weißt du zufällig, wie man Blutflecken vom Teppichboden entfernt? Ich frag nur so.»

«Ich denke, bis Sonntagnachmittag sollte ich es schaffen», sagt er. «Damit bleiben dir noch gut sechsunddreißig Stunden, um das Blut rauszuwaschen! Um wie viel Uhr fängt das Konzert heute Abend noch mal an?»

Meine Schultern verkrampfen sich.

«Kommt drauf an, wie lange Tash braucht, um sich schönzumachen. Sie würden es nicht wagen, ohne sie anzufangen.»

Diesmal lacht er nicht. Ich spüre, wie seine Angst die Entfernung überbrückt und wie er unsichtbar die Arme nach mir ausstreckt. «Du weißt, ich bin nicht gerade glücklich, dass ihr in diesen Club gehen wollt.»

«Das ist doch nur ein Konzert, Dad. Außerdem spielt Tokyo Girl!»

«Ich weiß, aber pass auf dich auf, ja?»

Fast wünsche ich mir, Dad würde es mir verbieten. Und das würde er wohl selbst liebend gern tun, aber gleichzeitig denkt er, dass ich etwas unternehmen und rausgehen soll – wie eine glückliche normale Jugendliche, falls es so was überhaupt gibt.

«Vergiss nicht, was Dr. Hiaasen gesagt hat», meint Dad. «Wenn du einen Anflug von Panik spürst …»

«Ich weiß, Dad! Mir passiert schon nichts, außerdem ist Tash dabei. Sie weiß, was sie tun muss.»

«Ruf mich an, wenn ihr wieder zu Hause seid. Wann ist es zu Ende?»

«Keine Ahnung, ich schätze mal, so gegen halb zwölf.» Ich weiß selbst nicht, warum ich das gesagt habe, denn in Wirklichkeit habe ich keinen Schimmer, wann wir da rauskommen. «Aber es kann etwas dauern, bis wir wieder hier sind, also mach dir keine Sorgen, wenn ich vor Mitternacht noch nicht angerufen habe.»

«Nehmt ein Taxi», sagt Dad. «Ich habe dir Geld hingelegt.»

«Okay, danke. Es ist wirklich alles gut, kein Grund zur Sorge.» Während ich mich das sagen höre, bin ich nicht sicher, ob ich damit meinen Vater oder vielleicht mich selbst überzeugen möchte. Was bescheuert ist. Schließlich geht es nur um ein Konzert.

Tokyo Girl ist unsere Band – sie gehört zu Tash und mir. Ihretwegen haben wir uns überhaupt erst angefreundet, als wir feststellten, dass wir beide auf Tokyo Girl stehen. Sobald Tash erfahren hat, dass die Band in unserer kleinen Popelstadt auftreten, war klar, dass wir hingehen müssen – nicht einmal ich habe auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht. (Oh, jugendlicher Leichtsinn …)

«Dad, ich muss mich langsam mal beeilen und Tash aus der Dusche holen.»

Doch mein Vater ist noch nicht bereit, die Verbindung zu kappen. «Funktioniert der Boiler einigermaßen? Denk bloß dran, das Fenster aufzulassen!»

Seit Wochen drängt Dad den Vermieter, dass er den Boiler reparieren lässt. Das Teil fällt andauernd aus, und seit Kurzem ist Dad überzeugt, dass Kohlen monoxid austritt. Vor zwei Wochen sind wir beide vor dem Fern seher eingeschlafen und mit schrecklichen Kopfschmerzen aufgewacht. Seitdem läuft Dad durch die Wohnung, schnüffelt wie ein Bluthund und besteht darauf, dass die ganze Zeit die Fenster aufstehen.

«Geht schon, Dad. Du glaubst nicht, was wir zu hören bekämen, wenn bei Tash das Wasser plötzlich kalt würde!»

Er lacht und legt endlich auf.

Ich weiß, ich habe Glück, weil sich jemand um mich kümmert, aber manchmal macht es mir zu viel Druck, dass sein Glück und seine geistige Gesundheit von mir abhängen! Deshalb denke ich viel über meinen Vater nach: wie sich das, was ich tue, auf ihn auswirkt. Wenn ich zum Beispiel sterben würde – damit würde er nicht gut zurechtkommen.

Andererseits ist es leicht, anderen die Schuld für die eigenen Probleme in die Schuhe zu schieben. Ohne Dad wäre ich nicht einmal hier, und das meine ich keineswegs rein biologisch. Um diese lange und traurige Geschichte kurz zusammenzufassen: Meine Mutter hat uns praktisch sitzengelassen, gleich nachdem sie mich rausgepresst hat. Dad hat alles aufgegeben, um mich allein großzuziehen.

Als ich klein war und versuchte, mit den ersten grundsätzlichen Dingen klarzukommen – also zum Beispiel mehr als zwei Schritte zu machen, ohne auf den Po zu fallen, aufs Klo zu gehen, solche Sachen –, da war mein Vater mein Held. Ich schäme mich keineswegs, das zuzugeben. Gut, ich hatte keine Vergleichsmöglichkeiten, aber ich begriff, dass der Mann sich viel Mühe gab und mir einen Großteil seiner Zeit opferte. Ich war glücklich, das Leben mit Dad war gut.

Doch die Jahre vergehen, man wird älter, und die Dinge verändern sich. Das geschieht nicht über Nacht, eher ganz allmählich, bis einem eines Tages dieses alberne Zeug, die Kosenamen und die Witze, die nur Insider verstehen, auf den Wecker gehen. Plötzlich merkt man, dass der Held auch nicht auf alles eine Antwort hat und nicht jedes Problem lösen kann, ja, dass er nicht einmal dafür sorgen kann, dass einem nichts passiert.

Diese unliebsame Erkenntnis kam mir ungefähr zur gleichen Zeit, als mir auffiel, dass die Welt außerhalb meiner gemütlichen kleinen Kindheitsblase groß und erschreckend war und nicht alle automatisch mit mir befreundet sein wollten – oder wenn doch, dann nicht unbedingt aus den richtigen Beweggründen.

Aber als sich langsam alles, worauf ich vertraut und woran ich geglaubt hatte, in Luft auflöste, gerade da erschien Tash auf der Bildfläche.

Ich entdeckte sie eines Abends vor unserer Siedlung, wo sie wie ein schlecht gelaunter Gartenzwerg auf der Mauer saß. Da es eiskalt war und ich sie von der Schule kannte, fragte ich sie, ob sie mit reinkommen wollte. Tash meinte, ich solle mich verziehen, doch ich sah, dass sie geweint hatte, und setzte mich einfach neben sie. Nach einer Weile brach sie ihr Schweigen.

Sie erzählte mir, dass sie nicht nach Hause wollte, weil es dort ständig Streit mit ihrer Mutter und ihren Schwestern gab. Schließlich konnte ich sie doch überreden, mit zu mir zu kommen, aber Tash brauchte vor allem jemanden, der ihr zuhörte. Wir bildeten so etwas wie unsere eigene kleine Therapiegruppe – wir schimpften, jammerten und machten Pläne, aus der Stadt abzuhauen … Das Übliche eben. Wir waren so verschieden, dass unsere Mitschüler nicht kapierten, warum wir uns angefreundet hatten. Dabei ist genau das der Grund, weshalb es funktionierte: Wir hatten beide etwas zu bieten, was die andere jeweils brauchte.

Unsere Wohnung bot Tash einen freundlichen Unterschlupf, während ihre unverdrossen lodernde Wut meine aufkommende Paranoia und meine Angstvorstellungen zurückdrängte. Sie verdrehte die Augen oder wütete, sie würde sie es mit der ganzen Welt aufnehmen, und zwar mit links, und schon fühlte ich mich stärker, nur weil sie bei mir war. Tash war wie ein Lagerfeuer in der Wildnis. Selbst wenn ich dort draußen tausend unbekannte und ungesehene Dinge spürte, die mich quälen wollten, fühlte ich mich sicher, solange ich in ihrer Nähe war.

Es war wie früher mit meinem Vater.

Ich will in keiner Weise kleinreden, was Dad für mich tut, und ihm nicht zu nahe treten, aber es ist nun mal eine Familienbeziehung, und er hat die Aufgabe, mich zu lieben. Tash dagegen ist einfach meine Freundin, ohne Verpflichtungen, ohne Blutsbande, und wir sind Schwestern, weil wir es so wollten, was etwas vollkommen anderes ist.

Ich schließe den Toilettendeckel und greife endlich zum Handy. Normalerweise schreibe ich Tash morgens direkt als Erstes, aber heute ist mir etwas dazwischengekommen.

Eine Nachricht wartet schon auf mich. Sie wurde kurz vor ein Uhr heute Morgen abgeschickt:

Was für ein Abend

Val ist wirklich der Wahnsinn

Muss dir total viel erzählen.

Nacht, Süße

Tash steht total auf kleine Bildchen.

Tief in meinem Bauch rührt sich die Schlange der Eifersucht. Das war bereits das dritte Mal in dieser Woche, dass Tash mit Val weg war. Ich scherze schon, dass sie Tashs neue beste Freundin wird, nur ist das leider gar nicht lustig.

Jetzt verdränge ich den Gedanken und setze meine Daumen in Bewegung:

Schön, dass ihr es schön hattet

Vielleicht sollte ich ein Emoji mit zwei Gesichtern suchen? Haha!

Ich schreibe Tash weiter:

Ich bin krank

Kotze voll

Schwanger vielleicht?

Fühle mich total irre.

Ehrlich, das mein ich todernst.

XO.

Todernst. Angeblich sagt ein Bild mehr als tausend Worte, aber dieses eine Wort wird Tash mehr sagen als tausend Emojis.

Tash und ich haben die Regel aufgestellt, dieses Wort niemals zu gebrauchen. So werde ich in der Schule gehänselt. Mein Nachname ist Ernst – man muss kein Genie sein, um «Tod» voranzustellen und es lustig zu finden.

Womit ich das verdient habe? Tja, vielleicht weil ich alles immer extrem tragisch nehme. Auch die Panikattacke vor ein paar Monaten während der Vollversammlung in unserer Aula könnte etwas damit zu tun haben. Aber es liegt wohl vor allem daran, dass ich bei einer Party betrunken ausgeflippt bin und dann einen auf sterbenden Schwan gemacht habe. Das ist der eigentliche Grund, warum sie mir das für den Rest meiner Zeit an der «Hardacre-Anstalt für Analphabeten» (nicht der richtige Name) nachrufen werden.

Aber es ist wirklich sonderbar. Nicht nur die Kopfschmerzen und das Kotzen, da ist noch etwas. Das Gefühl, als hätte ich die Welt noch schlechter im Griff als sonst – als würde die Schwerkraft nicht so gut funktionieren wie sonst.

Irgendwie fühlt es sich an, als wäre meine Situation nicht nur beschissen, sondern tatsächlich todernst – das ist das einzige Wort, das diesen Zustand treffend beschreibt.

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