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3MEINE NEMESIS
Die Versuchung ist groß, wieder ins Bett zu gehen, mir die Decke über den schmerzenden Kopf zu ziehen und abzuwarten, bis das alles vorbei ist. Doch die Vorstellung, den Tag eingemummelt vor dem Fernseher zu verbringen, ist nicht so verlockend wie sonst. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich das Gefühl nicht loswerde, etwas sehr Wichtiges ver gessen zu haben, oder an dieser merkwürdigen Vermutung, nicht richtig hier zu sein.
Albern, ich weiß! Natürlich bin ich hier. Das bin ich, die vom Bad in die Küche geht. Ich bin es, die das Licht anschaltet und den Wasserkocher aufsetzt. Wäre ich nicht hier, könnte ich den kalten Linoleumboden unter meinen nackten Füßen nicht spüren und den Gestank in der Spüle nach totem Dachs, der im Siphon klemmt, nicht riechen.
Trotzdem. Ich fühle mich losgelöst, als würde ich mich selbst durch ein Fenster sehen oder auf einem Bildschirm – jedenfalls nicht im richtigen Leben.
Wie gesagt … komisch.
Ich schalte das Radio ein, um ein bisschen Leben und eine andere menschliche Stimme in die Bude zu bringen. Eigentlich macht es mir nichts aus, allein zu sein, aber ich weiß auch nicht, heute Morgen fühle ich mich aus unerfindlichen Gründen irgendwie … verfolgt. Das liegt teilweise an Tash beziehungsweise daran, dass sie nicht da ist. Ohne sie fühlt sich die Wohnung zu groß und zu leer an, was eigentlich ein Witz ist, denn sagen wir es mal so: Wenn wir eine Katze hätten, könnten wir sie nicht im Kreis schwingen.
Ich stecke zwei Brotscheiben in den Toaster und drehe das Radio lauter.
Der DJ heißt Baz oder Cliff und labert ständig totalen Schwachsinn. Im Moment redet er über Bauarbeiten auf der Umgehungsstraße. Wetten, gleich sagt er so was wie Die stehen da Stoßstange an Stoßstange und spielt dann «Pull up to the Bumper» von Grace Jones. Obwohl, wenn ich so darüber nachdenke, hat er das gestern schon gespielt. (Dad steht auf Musik der Achtziger, und darum kenne ich den Song – falls ihr euch das gefragt habt.)
Aber als ich mir einen Teller aus dem Schrank hole, zieht er das durch – Wort für Wort!
Mein Herz erschauert. Wahnsinn!
Jetzt warte ich, ohne wirklich zu glauben, dass er den Song spielt, und gleichzeitig in dem Wissen, er macht es doch.
Er regelt die Musik leise nach oben und übertönt sie mit seinem Gequatsche: «Der ist für alle, die im Verkehr steckengeblieben sind. Runter vom Stresspedal, Leute, lehnt euch zurück und genießt einen absoluten Klassiker …»
Unmöglich!
Das kann doch nicht wahr sein!
Wie erstarrt lausche ich «Pull up to the Bumper», das in unserer Küche erklingt. Sogar für diesen DJ ist das eine Umdrehung zu viel. Als hätte er seine Sendung von gestern aufgezeichnet und würde sie einfach noch mal abspielen.
Mein Handy reißt mich mit einem Pling aus der Schockstarre. Wahrscheinlich Tash mit weiteren Details von ihrem tollen Abend mit Val.
Val ist mein Racheengel. Mein Todbringer. Meine Nemesis.
Schon gut, ich weiß. Echte Menschen haben keine Nemesisse.
Ist das der richtige Plural, wenn es überhaupt einen gibt? (Wie zum Teufel schreibt man das? Ohne Val würde ich das gar nicht wissen wollen.)
Val – die schwarze Wolke an meinem Toy-Story- Himmel, das Steinchen in meinem Schuh, der Wurm in meinem Apfel. Ihr habt vielleicht schon mitbekommen, dass Val nicht gerade ganz oben auf der Liste meiner Lieblingskontakte steht?
Kein Problem, denn Tash springt hier nur zu gern für mich ein. Ihr solltet sie hören:
Oh, Wahnsinn, Süße, das GLAUBST du nicht, was Val getan / gesagt / angehabt / getrunken hat.
Tash zufolge ist das Mädchen soooooo unfassbar suuuuper. Ein Mädchen, dessen außergewöhn liches Supersein (und ja, ich weiß, das Wort gibt es gar nicht) man nur mit all diesen zusätzlichen Buchstaben beschreiben kann. Aber so ist Val, so einmalig, dass ihr zu Ehren neue Wörter erfunden werden müssen – sie hat’s verdient. Die drei Millionen, die gerade im Umlauf sind, können ihrer unglaublichen Einzigartigkeit nicht Genüge tun.
Das hört sich ganz schön verbittert an, was?
Verbittert und schräg und vielleicht ein kleines bisschen psychotisch? Jep, ich weiß, tut mir auch leid. Keine Ahnung, wen ich mehr hasse: Val, weil sie mir meine beste Freundin abspenstig macht, oder mich selbst wegen dieser Eifersucht.
Das Schlimmste ist – und ihr wisst es hoffentlich zu schätzen, dass ich euch Einblick in die tiefste Finsternis meiner Seele gewähre und Gefahr laufe, mich lächerlich zu machen –, also, was wirklich total ärgerlich ist: Ich verstehe, warum Tash sie mag. Val ist tatsächlich super, sie ist selbstbewusst und lustig, sie hat glänzende lange schwarze Haare und große Augen. Da ihre Familie aus Rumänien stammt, hat sie auch noch einen coolen Akzent à la sexy russische Spionin. Wie soll ich dagegen anstinken?
Ich wappne mich und lese die Nachricht.
Doch Tash ist die Fürsorge in Person.
Süße!
Bleib im Bett &
Du musst heute Abend fit sein
XO XO
Ich will antworten, zögere aber und schaue auf der Suche nach Inspiration für eine interessante oder witzige Entgegnung zum Fenster. Dort sehe ich aber nur mein eigenes Spiegelbild, blass und gespenstisch und mit einem dümmlichen Gesichtsausdruck.
Danke, Schatz
Geht schon bisschen besser
Schleppe meine verfaulende Leiche aus dem Bett zur Arbeit.
Lass dich beim Wickeldienst nicht im Stich.
XO
Ich hänge noch Bilder von einer Windel, einem alten Frauengesicht und einem grünen Teufelsding dran. Ehrlich, bei der Hälfte weiß ich nicht, was sie bedeuten sollen.
Mit Val, dem durchgeknallten Partygirl, kann man vielleicht geil die Nacht durchmachen, aber das ist nicht schwer. Ob man wirklich gut befreundet ist, zeigt sich bei weniger glamourösen Dingen, wie zum Beispiel dann, wenn man einem inkontinenten Rentner eine Erwachsenenwindel anziehen muss. Wenn man vom Totenbett aufsteht, damit die andere ein Heim voller nörgelnder alter Leute nicht mutterseelenallein waschen, anziehen und füttern muss. Das ist echte Freundschaft.
Ich tippe auf «Senden» und bin ganze drei Sekunden lang mit mir zufrieden.
Wem mache ich hier etwas vor? Unsere gemeinsame ehrenamtliche Arbeit im Altenheim wird Tash kaum eine Nachricht an Val wert sein, etwa:
OMG! Was für ein Morgen!
Muss dir unbedingt erzählen, was Alex beim Frühstück gemacht hat.
Hört sich nicht so toll an, was?
Tokyo Girl live im Pandemonium dagegen, das bietet Stoff für einen ganzen Haufen Emojis und die perfekte Gelegenheit, mit Tash wieder in die Spur zu kommen.
Was ist also das Problem?
Es gibt keins. Ich habe ein komisches Gefühl, wenn ich an heute Abend denke. Nicht der Rede wert.
Zwei Sekunden, bevor zwei Scheiben rauchender Kohle aus dem Toaster springen, steigt mir der Brandgeruch in die Nase. Fluchend reiße ich die Fenster auf und wedle den Rauch nach draußen, damit ja der Alarm nicht losgeht. Gestern war es genauso – man sollte meinen, ich wäre lernfähig.
4BITTE BLEIBEN SIE SITZEN, BIS DER BUS VOLLSTÄNDIG ZUM HALTEN GEKOMMEN IST
Um 6:38 Uhr an einem Samstagmorgen ist der Bus Nummer Drei so gut wie leer. Sechs weitere Zombies, die sich vor dem Morgengrauen aus dem Bett gequält haben, sehen mir beim Einsteigen zu.
So dämlich, um diese Zeit wach zu sein, sind nur geistesabwesende Clubber, die verschwitzt und mit glasigem Blick nach Hause fahren, während sie immer noch zu dem langen Ausklang des letzten Songs dieser Nacht nicken. Und außerdem die arbeitende Bevölkerung – Mindestlohnsklaven der Friedhofsschicht. Reinigungspersonal und Krankenhauspförtner, Lagerarbeiter und Fabrikmalocher. Allen steht die gleiche Frage auf die Stirn geschrieben: Was mache ich hier eigentlich?
Eine Frau in einem Putz-Overall blickt von ihrem Buch auf und grüßt mit einem verhaltenen Lächeln. Ich nicke zurück und stelle fest, dass sie Harry Potter liest – eine kurze Flucht in eine andere Welt, in der man Besen zum Fliegen benutzt statt dazu, den Dreck anderer Leute aufzufegen.
Nachdem ich mir im oberen Deck einen Fensterplatz in der Mitte ausgesucht habe, klingelt auch schon mein Handy. Tash, wer sonst?
«Hey, Süße, wo bist du?»
«Im Bus.» Ich rede leise, weil ich es peinlich finde, wenn man im Bus in sein Handy schreit. Aber das dürfte heute kein Problem sein, weil Tash nicht fürs Zuhören geboren ist.
«Geht’s denn? Du hättest dich besser krank melden sollen.»
«Ich konnte das doch nicht alles dir überlassen.» (Seht ihr’s? Also stimmt für Alex, sie ist die Beste!)
«Wow, Danke! Ich bin echt mega aufgeregt.» Aus den Hintergrundgeräuschen schließe ich, dass sie ebenfalls auf dem Weg zur Arbeit ist. «Was für ein Abend! Du hättest mitkommen sollen, Süße.»
Sie hat recht, das hätte ich besser gemacht.
«Val hat uns doch tatsächlich umsonst ins Pandemonium geschleust!»
«Wow!»
«Kann man wohl sagen!» Tash sprudelt Emojis in die Leitung. «Val kennt den Türsteher. Echt, die Frau kennt einfach jeden!»
Ich verkneife mir die naheliegende Bemerkung.
«Und rate mal, wer gespielt hat? Einfach mal Prayer for Halo!»
«Echt.» Ich mag Prayer for Halo. Ich hätte wirklich mitkommen sollen.
«Du ahnst nicht, was Val noch gemacht hat!»
Bestimmt was Tolles.
«Sie ist auf die Bühne geklettert!»
Okay, das würde man von mir tatsächlich nicht zu sehen bekommen.
«Und dann – das glaubst du nicht – ist sie geradewegs zu Marco gegangen und hat die Arme um seinen Bauch gelegt, während er gespielt hat!»
«Marco?»
«Marco Lee!» Ich höre ihr an, wie fassungslos sie ist. «Der geilste Bassist auf unserem Planeten!»
«Ach, der Marco. Ich dachte, du meinst den anderen Marco, der bei Coop arbeitet.»
Tash schnalzt missbilligend mit der Zunge, aber sie ist viel zu begeistert von ihrer Geschichte, um aufzuhören. «Egal, Val tanzt da oben hinter Marco, und dann kommen die Leute von der Security und schleppen alle von der Bühne. Ich dachte schon, jetzt wird Val verhaftet oder rausgeworfen, aber sie hat Marco einfach einen Kuss auf die Wange gegeben und ist von der Bühne gesprungen – mitten in die Menge!», erzählt Tash wie ein Fangirl aus der Siebten bei einer Signierstunde von Boys ’R’ Us. «Ich so: Wahnsinn! Und wenn sie sie nicht auffangen?»
Ja, das wäre eine wahre Tragödie gewesen.
«Ich sag’s dir, Süße, du hast was verpasst!»
«Jep.»
«Und du?», fragt Tash. «Hast du gestern noch was gemacht?»
Bevor ich antworten kann, feuert mein Brummschädel eine weitere Salve durch meine Stirn. Als ich vor Schmerzen die Augen schließe, schwimmt ein Bilderfetzen von weißen Kacheln oder auch von Zähnen über meine Netzhaut. Der Anblick kommt mir vertraut vor, als müsste er mir etwas sagen.
«Alex? Bist du noch da?»
Ich öffne die Augen – leicht überrascht, weil ich immer noch im Bus bin. «Ja, ich bin hier.» Ich betrachte mein Spiegelbild in der Scheibe, doch die beleuchteten Fenster der Geschäfte und Wohnungen schieben sich über mein geisterhaftes Gesicht, bis ich mich erst nicht mehr scharf und dann gar nicht mehr sehe.
«Also, was hast du denn nun gestern gemacht?», fragt Tash beharrlich.
Ich könnte ihr sagen, was sie Tolles verpasst hat, weil sie nicht bei mir war, nämlich einen adrenalingesteuerten Abend, an dem ich meine Bücher und CDs neu sortiert habe.
Als ob.
«Heute Abend Tokyo Girl, ja?», sage ich stattdessen und schüttle den eisigen Schauer ab, der mich durchfährt.
«Unbedingt!»
Der Ausblick verändert sich, nachdem wir das Labyrinth der Siedlung verlassen haben, und ich verspüre allmählich eine immer stärkere Beklommenheit. Dem Bus scheint es ähnlich zu gehen. Mit einem Eifer, als müsste er dem Ort entkommen, bevor jemand die Räder abschraubt, rast er den Hügel hoch und kriegt genügend Schwung, sodass er es schafft, die klebrigen Straßen, die ihn anscheinend festhalten wollen, hinter sich zu lassen.
Ich stecke meine Ohrhörer wieder ein und lehne den Kopf ans Fenster. Meine Lider sind schwer und brennen, weil ich zu wenig geschlafen habe, und es schadet sicher nicht, sie ein Weilchen zu schließen.
Es ist dunkel, und ich bekomme keine Luft. Ich will mich bewegen, doch vergeblich. Ein Gewicht lastet auf meiner Brust und drückt mich zu Boden. Ich muss schreien, doch als ich den Mund öffne, geschieht gar nichts.
Ruckartig werde ich wach, peinlich berührt.
Wie lange habe ich wohl geschlafen? Habe ich etwa geschnarcht oder meine Haltestelle verpasst?
Ich wische über die beschlagene Scheibe, bis ich hindurchsehen kann.
Bäume. Große Häuser mit langen Auffahrten und teuren Autos. Also bin ich fast da.
Der nächste Song ist von Tokyo Girl. Ich finde ihn super, aber im Moment möchte ich lieber nicht an heute Abend denken, also fasse ich in die Tasche und drücke auf die Handytaste, mit der der Track übersprungen wird.
Ein Schauer läuft mir über den Rücken, als ich mich an einen Traumfetzen erinnere: an das Gefühl, nicht atmen zu können. Grauenhaft.
Haus Ulmenblick, Heim für Lebenserfahrene (nicht der offizielle Name) liegt auf einer Hügelkuppe mit Aussicht auf die Stadt, als würde es sie beherrschen. Früher war das tatsächlich so, als Hardacre nur aus versprengten Bauernhöfen im Tal und kleinen Häuschen bestand und der Gutsbesitzer mit seiner Familie in Haus Ulmenblick residierte. Am Empfang hängt ein Porträt von ihm, vor dem ich mich wahrhaftig fürchte. Mit den Koteletten und seinem Rüschenhemd wirkt er wie der Teufel in Person, und sein Blick strahlt die Warnung aus: Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren!
Ein dumpfes Geräusch, jemand flucht. Als ich aufschaue, dreht sich die Harry-Potter-Leserin auf ihrem Platz um. Unsere Blicke treffen sich, und sie entschuldigt sich mit einem kleinlauten Lächeln. «Ich habe meinen Ring fallenlassen. Siehst du ihn vielleicht? Ich glaube, er ist unter deinen Sitz gerollt.»
Ich schaue in die trüben Schatten an meinen Füßen, ohne den Ring zu entdecken.
«Moment.»
Ich rutsche herunter, gehe im Gang in die Hocke und leuchte mit dem Handy in das Dickicht aus Schuhen und Taschen. Als wir um eine Kurve biegen, rollt etwas hinter einer weggeworfenen Chipstüte hervor und trudelt Richtung Rückbank.
Ich verfolge den Ring im Krebsgang und schnappe ihn mir, bevor das Ding wieder außer Sicht rollt. «Hab ihn!»
Ich bin immer noch in der Hocke, da macht der Bus plötzlich einen Satz nach vorn und schlingert so heftig, dass ich umfalle.
Nach einem lauten Knall explodiert plötzlich eine Scheibe, und Glassplitter fliegen durch die Luft. Ein dicker Ast schlägt ein Fenster ein, er windet seine Zweige wie hölzerne Fangarme durch den Bus und krallt sich in die Decke. Wehende Blätter, knackendes Holz und Staub wirbeln durch die Luft.
Schließlich kommt der Bus mit einem Ruck zum Stehen und schwankt auf seinen Rädern.
Jemand flucht. Ich wahrscheinlich.
Nach einem Augenblick vollkommener Stille ruft der Fahrer von unten und will wissen, ob jemand verletzt ist. Ich höre die Panik in seiner Stimme, als er mit donnernden Schritten die Treppe hocheilt. Er sagt etwas über ein Motorrad – er musste ausscheren, um auszuweichen, ist dabei auf den Bürgersteig geraten und gegen einen Baum gefahren.
Auf einmal merke ich, dass die anderen Fahrgäste mich anstarren.
«Dein Platz», sagt die Harry-Potter-Frau und streckt einen zitternden Finger aus.
Ich drehe den Kopf dorthin, wo ich eben noch gesessen habe.
Die Fensterscheibe ist zerstört, und ein Ast, dicker als mein Arm, hat sich in den Sitz gebohrt, und zwar mit so viel Wucht, dass er den grünen Bezug, die Kunststoffpolsterung und den Holzrahmen satt durchstoßen hat und auf der anderen Seite hervorsticht.
Hätte ich noch dort gesessen, wäre ich ebenfalls aufgespießt worden.
5WO BIN ICH NUR MIT MEINEN GEDANKEN?
Ich starre wie gebannt auf das Loch im Sitz, das der Ast gerissen hat. Er hätte genau mein Herz getroffen, das gerade auf und ab hüpft wie ein Shih Tzu auf dem Trampolin.
Um ein Haar wäre ich gestorben.
Aus irgendeinem Grund schockiert mich das nicht so, wie man meinen könnte. Erneut blitzt ein Bild auf: das meiner Leiche auf einer Bahre in einer Leichenhalle … Ich spüre in meiner Kehle, dass sich mein Frühstück wieder auf den Weg nach oben macht – wie Ratten, die aus einem überlaufenden Abflussrohr fliehen.
«Geht’s? Alles in Ordnung?» Der Busfahrer ist blass, und die Hand, die er mir auf die Schulter gelegt hat, zittert.
Ich nicke, obwohl es mir schlecht geht und nichts in Ordnung ist.
Der Fahrer teilt uns mit, dass ein neuer Bus geschickt wird und der Krankenwagen unterwegs ist. Er möchte, dass ich auf die Sanitäter warte, aber ich will nur noch hier weg – fort von meinem ramponierten Sitzplatz. Ich starre auf die Polsterung, die aus dem Loch quillt, auf das gesplitterte Holz und den zerfetzten Stoff. Wenn ich noch dort säße, würde es auch aus mir herausquellen …
«Ich muss zur Arbeit!», platze ich heraus, taumle die Stufen hinunter und halte mich am Geländer fest, weil meine Beine wie Wackelpudding sind.
Die Türen sind offen, und draußen auf dem Bürgersteig stehen Fahrgäste und Passanten, die den Unfall beobachtet haben und helfen oder vielleicht auch nur Fotos machen wollen.
Ich dränge mich hindurch und zwinge meine Beine, mich aufrecht zu halten und so lange weiterzugehen, bis ich die Unfallstelle hinter mir gelassen habe.
Beinahe wäre ich gestorben, aber es macht mich auch fertig, dass ich wusste, es würde irgendetwas Schlimmes passieren. Das war mir schon beim Aufwachen klar.
Soll ich das vielleicht lieber mal erklären?
Einen klassischen Horrorfilm hat ja wohl jeder schon gesehen. Und diese Szene ist auch bekannt: Mitten in der Nacht bleibt ein Auto auf einer einsamen Straße liegen. Ein paar Freunde steigen aus und gehen zum nächstgelegenen unheimlichen Häuschen, um Hilfe zu holen. Während sie darauf zugehen, sagt einer von ihnen: Äh, Leute, ich habe ein schlechtes Gefühl. Die anderen fallen über ihn (oder sie) her, weil er oder sie Angst hat, aber man weiß schon, dass sie am Ende des Films alle tot sein werden.
Tja, dieser Typ beziehungsweise dieses Mädchen bin ich. Die Szene spielt sich in Dauerschleife in meinem Kopf ab und tauscht immer wieder die Location aus, je nachdem, was ich gerade machen will. Es fühlt sich wie ein eingebauter Sabotage-Mechanismus an. Sobald ich etwas vorhabe, macht mich meine bösartige Fantasie verrückt, bis ich von einer nahenden Katastrophe derart überzeugt bin, dass ich eine Panikattacke bekomme und nicht mehr in der Lage bin, das Haus zu verlassen.
Der heutige Morgen war eine Warnung – die Kopfschmerzen, die Übelkeit … Auf die Art und Weise hat mein Körper mir geraten, wieder ins Bett zu gehen und mich unter der Decke zu verstecken.
Nur weil ich Tash so dringend sehen wollte, habe ich nicht darauf geachtet. Und das kommt dabei heraus.
Erst am Tor von Haus Ulmenblick fällt mir auf, dass ich immer noch den Ring der Harry-Potter-Leserin umklammere. Ich hatte ihn mir vorher gar nicht angesehen, doch jetzt erkenne ich, wie hässlich er ist. Der eingefasste Stein besteht aus einem grüngesichtigen Wasserspeier, der die Zunge rausstreckt. Wie kann man nur so etwas tragen?
Doch wenn die Frau ihn nicht aus Versehen fallen gelassen hätte …
Wenn ich nicht am Boden herumgekrochen wäre, um ihn zu suchen …
Wäre ich jetzt tot.
Mit einem Mal ist dieser abscheuliche Ring das schönste Ding auf der ganzen Welt.
Ich sollte ihn zurückgeben, das wäre das Mindeste. Wenn ich das nächste Mal in der Stadt bin, gebe ich ihn am Busbahnhof ab. Bis dahin muss ich ihn sicher aufbewahren.
Als ich den Ring tief in die Jeanstasche stecke, flackert erneut das Bild meiner Leiche auf einer Bahre auf.
«Ja, ich hab’s verstanden!», sage ich laut. «So hätte es laufen können. Ist es aber nicht, also halt die Klappe!»
Doch was mich wirklich verstört, ist die absurde Annahme, es sei kein Unfall, dass der Ast den Sitz durchbohrt hat, auf dem ich normalerweise gesessen hätte. Das ergibt keinen Sinn, ich weiß, aber die Idee klebt wie Kaugummi in meinem Hinterkopf.
Ich rede mir gut zu, dass ich sonst einfach Pech gehabt hätte, dass es purer Zufall war.
Auf keinen Fall konnte es sich um einen Mordversuch handeln.
Allein die Vorstellung ist total lächerlich.
Oder?
Meine Hand zittert, als ich den Mitarbeiterausweis ans Tor von Haus Ulmenblick halte. Es ist sowieso schon unheimlich, im Dunkeln hier anzukommen, an der perfekten Location für einen Horrorfilm. Gruselig, wie das alte Haus am Ende der verschatteten Auffahrt lauert, umgeben von turmhohen Ulmen, die im Wind rauschen.
Darum fluche ich wahrscheinlich auch ausführlich und mache beinahe mir in die Hose, als mir eine Gestalt aus der Finsternis entgegentorkelt.
Ein Hausbewohner im Schlafanzug läuft mit nackten Füßen über den Rasen und schlurft auf mich zu.
Augenblicklich kommt meine umfassende Pflegeaus bildung für Senioren zum Einsatz, und ich schließe messerscharf, dass der Mann nicht hierhergehört. (Beeindruckt? So soll das sein.)
«Äh … Hallo?»
Beim Klang meiner Stimme zuckt er zusammen.
Ich lächle. «Geht es Ihnen gut?»
Der Rentner runzelt die Stirn und senkt den Blick auf seine Füße. «Ich bin auf dem Rasen», sagt er mit verwirrter Miene.
«Das stimmt. Ohne Pantoffeln ist es bestimmt sehr kalt.»
Ich überlege, ob er ein Demenzpatient ist. (Stellt euch euren Verstand wie ein Zimmer vor, in dem eure Erinnerungen ordentlich auf Regalen gestapelt sind. Eines Tages platzt die Demenz wie ein ungezogenes Kleinkind herein und wirft alles auf den Boden. Das ganze Zeug gerät durcheinander, wird mit Buntstiften bekritzelt und verschwindet in einem Spalt im Fußboden.)
«Wir dürfen nicht auf den Rasen.» Jetzt klingt der Mann beunruhigt.
Ich muss ihn wieder ins Haus schaffen, bevor er sich eine Lungenentzündung holt.
«Dann gehen wir besser rein, oder? Ich mache Ihnen einen schönen heißen Tee zum Aufwärmen.» Sanft fasse ich seinen Ellbogen.
Es ist, als würde eine Falle zuschnappen. Wahrscheinlich will er gar nicht zuschlagen, sondern mich nur abschütteln. Wie auch immer, das Ergebnis ist das gleiche: Ich habe eine dicke Lippe und schmecke Blut.
Fluchend schaue ich ihm hinterher, als er erneut über den Rasen torkelt.
Ernsthaft? Ich wäre im Bus beinahe zu Kebab geworden, da hat mir das hier gerade noch gefehlt!
Aber ich kann den Mann nicht einfach frei herumlaufen lassen.
Ich folge ihm in sicherem Abstand und hoffe, dass er die Kraft verliert und ruhig zurückkommt. Ein Plan B fällt mir gerade nicht ein.
Dieser erscheint in Gestalt meiner Chefin.
Ich höre sie schon kommen, bevor ich sie sehen kann – mit klimperndem Schmuck und einem neonblauen Seidenschal, der sich wie ein Umhang hinter ihr aufbauscht, kommt sie angerauscht. Marianne ist sehr klein, knapp einsfünfzig, doch was ihr an Größe fehlt, gleicht sie mit Breite, Farbe und Lärm aus.
«Wollen wir vielleicht ausbüxen, Derek?» Keine Sirene könnte den alten Mann ruckartiger zum Stehen bringen als Mariannes Stimme.
Derek wirkt regelrecht geschockt, als wäre er gerade aufgewacht und wüsste nicht, wo er ist.
«Wir können doch nicht zulassen, dass Sie weggehen und in Schwierigkeiten geraten, oder?» Marianne spricht mit allen, als wären sie fünf Jahre alt. Auch wenn sie schimpft, lächelt sie wie in einer Fernsehsendung für Kinder.
Derek schüttelt wenig überzeugt den Kopf.
«Gut, dass du da warst, Alexandra!» Marianne schenkt mir ihr typisches Lächeln, doch dann runzelt sie die Stirn. «O je, du blutest ja an der Lippe! Das war doch nicht etwa Derek, oder?»
«Nein! Ich, hm, mein Bus ist gegen einen Baum gefahren, gerade eben, auf dem Weg hierher. Ich bin mit dem Gesicht auf den Vordersitz geschlagen.» Was soll ich machen? Einen verwirrten alten Mann verpetzen? Ich habe gesehen, wie Marianne die Bewohner behandelt, wenn sie sich unbeobachtet glaubt.
«Dein Bus!» Sie reißt die Augen auf und ist die Fürsorge in Person. «Ach du meine Güte! Bist du sicher, dass du heute arbeiten kannst?»
Einen Augenblick lang bin ich in Versuchung … Seit ich aufgewacht bin, habe ich ein schlechtes Gefühl, was diesen Tag angeht, und bisher hat sich die Vorahnung mehr als bewahrheitet. Aber ich muss dringend mit Tash sprechen.
«Ja, geht schon», antworte ich. «Ich helfe Ihnen, Derek ins Haus zu bringen.»
Sie lächelt. «Ach, das schaffe ich schon allein. Geh lieber nach oben. Natasha fragt sich bestimmt, wo du bleibst. Wir verstehen uns gut, Derek und ich, nicht wahr, Derek?»
Der alte Mann gibt keine Antwort. Sein Blick schweift in die Dunkelheit, als hätte er dort etwas vergessen und könnte sich nicht mehr daran erinnern, was es war oder wo er es hingelegt hat.
Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn mit ihr allein lasse, aber sie ist die Chefin, was soll ich machen?
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