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16

Lena trank bereits den dritten Café con leche, während sie ihre Tour für den heutigen Tag plante. Sie war in einer Pension unweit des Hafens untergekommen. Ein kleines, weiß gekalktes Gebäude, die Zimmer luftig und sauber. Die Pensionswirtin hatte ein üppiges Frühstück serviert. Sie sprach nur ein paar Worte Deutsch und schien nicht neugierig zu sein, warum Lena alleine unterwegs war. Es gab nicht viele Alleinreisende in diesem Ort. Allerdings vermietete man nicht für eine Nacht, sie hatte drei Übernachtungen buchen müssen. In Anbetracht des Umstands, dass sie einen guten Standort darstellte, um die nähere Umgebung auszukundschaften, und sie keine Ahnung hatte, wie lange sie benötigen würde, um ihre Informationen zu sammeln, war das kein Problem für sie.

Lena sah auf die Uhr. Es war kurz vor neun. Sie schob ihre Sachen zusammen und hatte sich bereits halb erhoben, als sie sich doch noch einmal auf den Stuhl des Cafés sinken ließ. Ihre Fingerspitzen schwebten über der Tastatur des Handys. Sie kämpfte mit sich, ob sie die aktuelle deutsche Tagespresse lesen sollte oder nicht.

Das Thema war jedenfalls noch nicht durch.

»Schreckliche Details. So qualvoll musste Toby sterben«, kündigte das Krawallblatt an. Lena schüttelte sich. Was, um alles in der Welt, war in diese Journalisten gefahren? Als sie sah, dass die seriöseren Blätter ebenfalls leicht spekulative Artikel veröffentlicht hatten, biss sie die Zähne zusammen. Einmal wurde sogar die Frage formuliert, ob die zuständige Sozialarbeiterin – hier war ausnahmsweise mal kein Name genannt – überfordert gewesen sei. Ein anderer Journalist berief sich auf Quellen, die nicht genannt werden wollten, sich aber herausnahmen, über Lenas Lebenswandel zu spekulieren. »Man hatte das Gefühl, sie sei auch im Dienst oft mit Dingen beschäftigt gewesen, die nichts mit ihrer Arbeit zu tun hatten«, wurde jemand aus dem »beruflichen Umfeld« zitiert.

Norbert Müller, dachte Lena. Nur ihm waren solche Äußerungen zuzutrauen. Niemand aus dem Team würde derartig dreist lügen. Angesichts dieses Berichtes konnte die Maibaum noch so sehr behaupten, Lena stünde nicht im Mittelpunkt. Solange sich andere über angebliche Verfehlungen ereiferten, ungeachtet der Tatsache, dass sie gar nicht mehr zuständig gewesen war, würden diese an Verleumdung grenzenden Artikel nicht aufhören. Sollte sie auf der Insel nichts erreichen, musste sie nach Hause fliegen und einen Anwalt einschalten.

Sie schloss die Fenster und schob das Telefon in ihre Tasche. Diese blöden Spekulationen würden erst aufhören, wenn Klarheit über das herrschte, was wirklich vorgefallen war. Einer, der mehr über Tobys letzte Monate wissen könnte, war der Unbekannte, den sie suchte.

Eine halbe Stunde später passierte sie eine kleine Bucht. Ein Kleinbus stand dort auf dem sandigen Seitenstreifen neben der Straße. Obwohl der Wagen überlackiert worden war, konnte man noch deutlich die hellblauen, geschwungenen Buchstaben auf den Seitentüren erkennen. Dort hatten einmal die Worte »Naranja Azul« gestanden. Plötzlich klopfte Lenas Herz heftig. Sie bremste ab und parkte ihren Wagen hinter der nächsten Biegung. Sie stieg aus, ging die paar Schritte zu dem Bus zurück und blickte auf den Strand hinunter, den sich drei Familien teilten. Es stand kein weiterer Wagen dort, also waren die Leute alle gemeinsam hergekommen. Die Kinder waren unterschiedlich alt. Eine Frau hielt ein Baby im Arm, die zweite fütterte ein Kleinkind, die Jungs der dritten Familie, ein Zwillingspaar, dürften sechs oder sieben sein. Die Leute würden wissen, wo das Hotel lag.

Lena ging zu ihrem Wagen zurück. Sie schulterte ihre Tasche, schob eine Baseballkappe über die Haare, setzte ihre Sonnenbrille auf, und lief kurz darauf den schmalen Pfad hinunter, der von der Straße zur Bucht führte. Einer der Zwillinge wurde als Erster auf sie aufmerksam. Er rief seinen Eltern etwas zu und im selben Moment schien das Leben dort unten einzufrieren. Irritiert bemerkte Lena, dass alle zehn Personen ihr schweigend entgegensahen. Einer der Männer erhob sich vom Handtuch und kam lächelnd näher. Gerade, als sie am Ende des Pfads angelangt war, erreichte er sie.

»Falls Sie ein ruhiges Plätzchen zum Schwimmen und Sonnenbaden suchen, ist die nächste Bucht ideal.« Er sah sie entspannt an, seine Stimme war freundlich, dennoch fühlte Lena einen leichten Schauder über ihr Rückgrat laufen.

»Ach so, ich dachte …«, sie wies auf den Teil der Bucht, in dem sie locker noch Platz gehabt hätte.

»Da kommen noch welche. Familien mit Kindern.« Er lachte leise auf, verständnisheischend. »Da geht es immer recht lebhaft zu. Manchmal beschweren sich dann andere Leute.« Er zuckte in einer entschuldigenden Geste mit den Schultern. »Darum …« Er deutete wieder in Richtung der nächstliegenden Bucht.

Sonnenlicht sprenkelte seine Augen, ein leichter Wind hob sein gepflegtes, blondes Haar. Ein netter Mann, höflich. Zuvorkommend, weil er ihr und seinen Bekannten Ärger ersparen wollte. So hätte sie ihn sehen können. Stünde er nicht so dicht vor ihr, dass sie nicht auf den Strand hätte treten können, ohne ihn beiseite zu schieben.

»Okay«, murmelte sie, ging einen Schritt rückwärts. »Ist das vielleicht der Strand des Hotels?«

Wachsamkeit trat in seine Augen, sein Körper straffte sich unmerklich. »Welches Hotel meinen Sie?«

»Etwas mit Azul.« Ihr war nicht entgangen, dass die Frau mit dem Baby näher gekommen war und mit leichtem Stirnrunzeln das Gespräch verfolgte.

Der Mann schien zu zögern, dann schüttelte er den Kopf. »Ist mir nicht bekannt. Vielleicht auf der anderen Seite der Insel. Dort gibt es mehr Touristen.«

Das Baby bewegte sich auf dem Arm der Mutter und quengelte leise vor sich hin. Die Zwillinge hatten angefangen, Federball zu spielen.

»Einen schönen Tag noch«, sagte Lena, bevor sie sich umdrehte, um auf dem Pfad wieder nach oben zu gehen. Sich dabei ertappte, plötzlich loslaufen zu wollen, weil sie glaubte, seine Blicke wie Nadelstiche in ihrem Rücken zu spüren. Erst, als sie oben angelangt war, hatte sie das Gefühl wieder frei atmen zu können. Sie warf einen Blick zurück. Der Mann beobachtete sie noch immer. Die Frau war mit dem Baby auf ihr Tuch zurückgekehrt. Der Rest der Leute schien mit anderen Dingen beschäftigt.

Lena atmete tief aus. Sie wandte sich in die Richtung, die der Mann ihr bedeutet hatte. Gerade so, als wolle sie seinem Rat folgen. Doch schon nach wenigen Metern, als sie um eine Biegung war und er sie nicht mehr sehen konnte, blieb sie stehen. Die drei Familien waren mit dem Kleinbus hergekommen. Sie würden mit diesem Wagen wegfahren. Sie musste ihnen einfach nur folgen, dann würden sie sie zum Hotel führen. Allerdings machte niemand dort unten den Eindruck, gleich wieder aufbrechen zu wollen. Wenn sie Pech hatte, würde sie den restlichen Tag über warten müssen.

17

Der Junge war ein Klotz am Bein. Dennoch brachte sie es nicht übers Herz, ihn einfach zurückzulassen. Sie waren nicht weit gekommen seit ihrer Flucht aus der Wohnung. Nicht nur, weil er keine Schuhe an den Füßen trug und ständig jammerte. Auch, weil sie keine Ahnung hatte, wo genau sie sich befanden. Wo sie überhaupt hinwollte. Die Siedlung, aus der sie kamen, erschien ihr unendlich groß. Ständig in Angst, doch noch entdeckt zu werden, hatte sie sich und den Kleinen zu einer schnellen Gangart angetrieben. Jetzt standen sie an einer Haltestelle. Als ein Bus kam, stiegen sie einfach hinten ein. Zunächst achtete niemand auf sie. Bis eine ältere Frau bemerkte, dass der Junge keine Schuhe trug. Sie fing an, herumzulärmen und sie mussten aussteigen. Jetzt befanden sie sich in einer Art Industriegebiet.

»Sind wir bald da?«, wollte der Junge wissen.

»Sei still«, raunzte sie ihn an. Er schwieg, verstört und folgsam zugleich. Niemand hatte sich in den vergangenen Monaten die Mühe gemacht, freundlich mit ihnen zu reden. Sie hatten zu parieren und den Mund zu halten. Auch wenn er diese Art von Fügsamkeit noch nicht so verinnerlicht hatte wie andere, reagierte er doch auf einen strengen Ton.

Angestrengt blickte sie sich um. Wenig Leute unterwegs. Große Gebäude. Büros, eine Gärtnerei, ein Baustoffhandel, ein Lagergebäude. Ihre Blicke wanderten die Straße hoch und runter. Es dämmerte. Bald würde hier Ruhe einkehren.

»Komm«, sie streckte ihm versöhnlich die Hand hin. Er ließ sich mitziehen, presste mit der anderen Hand seine Giraffe an sich. Sie traten durch ein offenes Tor, huschten zwischen hohen, metallenen Gitterboxen durch auf das Gelände des Baustoffhandels. Dort versteckten sie sich in einem Schuppen, in dem Arbeitsgeräte aufbewahrt wurden.

»Pst«, sie bedeutete ihm mit einem Finger an den Lippen, ruhig zu sein. »Sobald hier alle weg sind, gehen wir woanders hin.« Er sagte nichts, blickte nur ängstlich auf. Einen Moment lang fragte sie sich, ob er je wieder etwas anderes würde empfinden können. Dann schob sie den Gedanken weg, denn er kam ihren eigenen Gefühlen viel zu nah.

18

Hitze, Durst, Hunger und das Gefühl dringend pinkeln zu müssen, hatten sich einige Stunden lang abgewechselt. Tatsächlich waren keine weiteren Badegäste angekommen. Lena war sich sicher, dass der freundliche Familienvater sie angelogen hatte. Sie hatte den Standort gewechselt und ihren Wagen oberhalb des Kleinbusses an der Straße geparkt. Als die drei Familien am Nachmittag vom Strand nach oben kamen, schien keiner von ihnen mehr an die Frau zu denken, mit der sie fast ihre kleine Bucht hätten teilen müssen. Fröhlich wirkten sie, ausgelassen. Die Zwillinge knufften einander, die Frau mit dem Baby wirkte beseelt. Lediglich das Paar mit dem Kleinkind schien nicht ganz so guter Laune. Der Mann und die Frau würdigten sich keines Blickes und er räumte die Badesachen mit verkniffener Miene und eckigen Bewegungen in den Wagen.

Lena folgte ihnen in einigem Abstand. Es herrschte kaum Verkehr auf der Straße, sodass sie nicht gezwungen war, dicht aufzufahren. Andererseits musste sie genau deswegen aufpassen, nicht gesehen zu werden.

Nach zehn Minuten Fahrt bog der Kleinbus auf einen schmalen, asphaltierten Seitenweg ein. Lena fuhr zunächst an der Abzweigung vorbei, wendete und folgte dem Bus. Ihrer Berechnung nach konnte die Straße, der sie folgte, nicht sehr lang sein. Sie führte direkt aufs Meer zu und sie waren nicht weit entfernt davon. Tatsächlich tauchte schon nach kaum hundert Metern ein dreistöckiger Gebäudekomplex auf, der von einer halbhohen, sandfarbenen Mauer umgeben war. Dahinter hatte man locker stehende Büsche gepflanzt, die in ein paar Jahren einen dichten grünen Sichtschutz bilden würden. Der Kleinbus war hinter einer hohen, gemauerten Durchfahrt verschwunden, dessen schmiedeeisernes Tor weit offen stand. Lena wartete eine Weile ab, bevor sie ihm folgte. Zunächst passierte sie ein halb fertig gestelltes Gebäude. Achteckig und mit einer halbrunden Kuppel versehen wirkte es, als sei hier ein Wellnesstempel geplant gewesen. Der wirkte, genau wie ein Tennisplatz und etwas, das aussah wie ein Amphitheater, traurig und verlassen. Dem Zustand nach hatte man die Bauarbeiten bereits seit längerer Zeit eingestellt. Vermutlich war den Investoren das Geld ausgegangen. Sie fuhr im Schritttempo weiter, umrundete einen schmalen Seitenteil des rechteckigen Gebäudes. Der Eingang lag in einem einstöckigen Gebäudeteil auf der landabgewandten Seite, vor ihm öffnete sich der Weg zu einer breiten Zufahrt. Im Bereich hinter der gegenüberliegenden Schmalseite war ein Parkplatz angelegt, auf dem rund ein Dutzend Wagen geparkt waren. Dort stand inzwischen auch der Kleinbus, aus dem der Fahrer kletterte. Lena erkannte den schlecht gelaunten Vater des Kleinkindes. Da er alleine war, hatte er den Rest der Gesellschaft wohl schon direkt am Eingang abgesetzt. Lena fuhr im Schritttempo am Eingangsbereich vorbei ebenfalls auf den Parkplatz. Sie stieg aus und blickte sich um. Die landabgewandte Seite des Hotels zeigte direkt zum Meer. Die Stelle, an der sie stand, bot über die Mauer hinweg einen atemberaubenden Ausblick aufs Wasser. Genau gegenüber vom Hoteleingang führte an den Klippen eine grob in den Stein gehauene Treppe zwischen Handläufen aus dickem Seil auf eine winzige Bucht mit hellem Sandstrand hinunter. Sie drehte sich um. Drei Stockwerke hoch war der Gästetrakt, auf jedem Stockwerk schätzungsweise fünfzig Zimmer oder Appartements. Kein Wunder musste sich ein Teil der Gäste andere Badeplätze suchen. Sie rief das Foto von Shaenna mit den Fahrrädern auf ihrem Smartphone auf und dachte: »Bingo!«. Es war genau vor diesem Haus aufgenommen worden. Heller Sandstein, alles Naturtöne. Nur der Hotelname, den man auf dem Foto noch halb erkennen konnte, fehlte. Nirgendwo stand jetzt Naranja Azul angeschrieben. Die Fassade am Zugang war zudem frisch verputzt worden, sodass jeder Hinweis auf eine frühere Beschriftung fehlte.

Das konnte natürlich daran liegen, dass das Haus verkauft worden war. Neue Besitzer, neuer Name. Darum hatte sie es nicht mehr im Internet gefunden. Aber woher kannte Angelika Kiewitz den alten Namen? War sie schon einmal hier gewesen?

Lena steckte das Smartphone weg, warf die Baseballkappe in den Wagen und nahm ihre Sonnenbrille ab. Zwar rechnete sie nicht damit, dem Familienvater vom Strand zu begegnen, und falls doch, hoffte sie, nicht erkannt zu werden. Sie ging zum Eingang zurück und betrat das Hotel durch eine hohe, gläserne Schiebetür. Der Empfang befand sich auf der linken Seite, rechter Hand hatte man eine kleine Sitzecke eingerichtet.

»Buenos Dias«, wurde sie begrüßt. Die Rezeptionistin war jung und trug das lange dunkle Haar zu einem Dutt geschlungen. Sie sah Lena neugierig an und antwortete ihr auf die Frage nach einem Zimmer mit einem bedauernden Kopfschütteln. Sie sprach Englisch mit einem starken spanischen Akzent und erklärte, das Hotel sei komplett ausgebucht.

»Ist das hier das Naranja Azul?«, wollte Lena wissen. Die Miene der jungen Frau veränderte sich fast unmerklich. Sie schüttelte den Kopf.

»Aber das war doch hier, oder?« Die Rezeptionistin blickte hilfesuchend um sich, bevor sie leise erklärte, sie sei erst seit Kurzem hier beschäftigt.

»Okay«, meinte Lena gedehnt. »Dann trinke ich noch einen Kaffee, bevor ich fahre.«

»Das Café ist nur für Gäste des Hauses«, beeilte sich die Empfangsangestellte, zu erklären.

Lena hob erstaunt die Brauen. »Ach so«, brachte sie hervor. Etwas seltsam war das hier schon. Sie sah keinen Hotelprospekt, keine Visitenkarten, überhaupt keinerlei Werbematerial für das Haus auf dem Tresen herumliegen.

»Okay«, meinte sie. Die Empfangsdame lächelte verkrampft, bevor ihre Aufmerksamkeit durch das Klingeln eines Telefons in Anspruch genommen wurde. Lena trat vom Empfang weg, wandte sich aber nicht nach rechts, zur Tür, sondern nach links. Dort befand sich ein Durchgang, der direkt auf den großzügigen Innenhof führte. Von dort hörte man Stimmen, Lachen und das Kreischen von Kindern. Ein kurzer Blick zum Empfang. Die Mitarbeiterin war mit etwas beschäftigt und hielt die Augen gesenkt. Lena überlegte nicht, sie durchquerte den Durchgang, dessen Glastüren passenderweise offen standen und befand sich gleich darauf in dem Teil des Geländes, in dem der Pool lag. Ein schöner, großer Pool, hellblau gekachelt, umstanden von Liegen und Sonnenschirmen auf einem gepflegten Rasen. Rechterhand konnte man an einem Pavillon Eis und Getränke kaufen, auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein Häuschen, aus dem gerade jemand mit einem Stapel Pooltüchern in der Hand kam. Etliche Familien mit kleinen Kindern befanden sich hier, die plantschten im Kinderbecken, das sich direkt an das Becken der Erwachsenen anschloss. Lena hob den Blick. Auf den meisten Balkonen hing Badekleidung auf den sauber an den Seiten gestellten Trockengestellen. Viele Fenster und Türen waren geöffnet. Dennoch wirkte das Hotel höchstens zur Hälfte bewohnt.

Lena war inzwischen bemerkt worden, einige Gespräche verstummten, einige Köpfe wandten sich ihr zu. Ein merkwürdiges Gefühl überkam sie. Als würde sie durch die Blicke der Menschen in ein Netz eingesponnen. Sie wandte den Kopf, wollte gerade zu der Poolbar hinübergehen, um trotz des Hinweises der Rezeptionistin zu versuchen, dort einen Kaffee zu trinken. Dabei würde sie die anwesenden Männer genauer unter die Lupe nehmen. War einer davon der, den sie suchte?

Jemand trat hinter sie. Ein Kellner. Er trug ein weißes Hemd und eine schwarze Hose, dazu ein freundliches Lächeln. Doch er fragte nicht nach ihren Wünschen.

»Dieser Bereich ist für Hotelgäste reserviert«, stellte er klar und wies mit einer leichten, aber unmissverständlichen Geste auf den Durchgang zurück in die Empfangshalle. Lena nickte knapp. Es machte keinen Sinn, einen Aufstand zu machen. Sie wusste, sie würde zurückkommen müssen, aber jetzt hatte sie noch keinen Plan, wie sie das anstellen sollte.

Als sie zu ihrem Wagen zurückging, bemerkte sie auf dem Parkplatz eine andere Frau. Kleiner als sie, vermutlich ein paar Jahre älter. Glattes dunkles Haar, das mit einem breiten Reifen aus dem Gesicht gehalten war. Ein helles Leinenkleid, die typischen Menorca-Sandalen. Die Frau hatte einen Fotoapparat in der Hand, als habe sie gerade ein paar Bilder geknipst. Nun stand sie gegen die Kühlerhaube ihres weißen Wagens gelehnt und musterte Lena interessiert.

Die ging vorbei zu ihrem Auto. Wenig später befand sie sich wieder auf dem Weg zurück nach Cala Morell. Jetzt hatte sie das Hotel gefunden, aber es nützte ihr nichts. Sie würde einen Plan brauchen, um herauszufinden, ob Angelika Kiewitz` Freund sich dort aufhielt.

19

Das Mädchen stand am Fenster und blickte in die Dunkelheit hinaus. Ein paar Solarleuchten warfen kleine Lichtkreise auf den akkurat gemähten Rasen, links von ihr spuckte ein steinerner Fisch einen Strahl Wasser in die Luft, der von dem Becken unter ihm aufgefangen wurde. Sie drehte den Kopf. Der Junge schlief auf der gegenüberliegenden Seite, zusammengerollt wie ein Embryo. Er war so erschöpft gewesen, dass er nicht einmal etwas gegessen hatte. Nur die Milch hatte er getrunken. Sie griff in die runde Keksdose, die sie in dem Schränkchen neben Prospekten, Klarsichthüllen und Kugelschreibern gefunden hatte. Die mit Schokolade gefüllte Waffel knirschte beim Hineinbeißen. Sie behielt das Stück lange im Mund, schmeckte Zucker und Kakao und versuchte, sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal Süßigkeiten gegessen hatte. Sie wusste es nicht mehr, es war schon zu lange her. Sie biss erneut ab und verfuhr genauso wie zuvor. Ob man nach ihnen suchte? Ganz sicher. Der Mann, der GOTT war, würde sie nicht davonkommen lassen. Da sie kreuz und quer gelaufen waren, sie selbst keine Ahnung davon hatte, wo sie sich befanden, wäre es vermutlich unmöglich, dass jemand anderes sie aufstöberte. Sie lächelte grimmig. Er hatte sie für dumm gehalten, weil sie ungebildet war. Aber jetzt hielt sie sich für schlauer als ihn. GOTT. Was sollte das überhaupt heißen? Niemand war GOTT. Nur, dass der Mann sich so nannte.

Das letzte Stück der kleinen Waffel war dran. Sie warf einen Blick in die Dose. Wenn sie es sich gut einteilte, würde sie mit den Keksen ein paar Tage hinkommen. Noch immer hatte sie keinen blassen Schimmer, wie es weitergehen sollte. Polizei war undenkbar. Nicht nach allem, was sie mitbekommen hatte.

Die sperren euch ein. Ihr kommt in ein Heim.

Nach Hause konnte sie nicht, sie hatte kein Zuhause mehr. Nur noch einen Vater, an den sie nicht denken wollte. Jetzt nicht. Nie mehr.

Ich wünschte, er wäre tot.

Sie presste die Stirn gegen das kühle Fensterglas. Sie würden sich irgendwie durchschlagen müssen, bis ihr etwas einfiel. Der Junge regte sich im Schlaf, er brabbelte etwas Unverständliches, seine Füße zuckten.

Im selben Moment hörte sie von draußen ein Motorengeräusch. Sie trat einen Schritt zurück. Von ihrer Position aus konnte sie ein Stück der Straße sehen. Ein dunkler Wagen fuhr dort draußen im Schritttempo heran. Ihr Herz begann heftig zu klopfen, als er vor dem hohen Metalltor stoppte. Niemand stieg aus, der Motor lief weiter. Ihr Mund wurde trocken. Hatte man sie gefunden? Jetzt öffnete sich die Tür der Beifahrerseite. Ein schwarz gekleideter Mann stieg aus. Der Lichtstrahl einer Taschenlampe fiel auf den gekiesten Weg, der direkt zu ihnen herüber führte.

Das Mädchen ließ sich blitzschnell fallen, robbte ganz nah an die Wand und presste sich mit dem Rücken dagegen. Wer war da draußen? Ein leichtes Metallgeräusch, als rüttele jemand prüfend am Tor. Gleich darauf quietschten die Rollen. Sie hatten das Tor geöffnet! Panisch sah sie sich um. Sie kam hier nicht raus, ohne gesehen zu werden. Ihr Blick glitt schräg nach oben. Erfasste einen Holzriegel an der Tür. Wenn sie es schaffte, den vorzulegen, bevor der Mann die Tür erreicht hatte, konnte er nicht herein. Vorsichtig schob sie sich weiter nach rechts, bis sie direkt unter der Tür saß, drehte sich um und griff, kniend, nach oben. Ihre Fingerspitzen berührten den Riegel, so konnte sie ihn aber nicht umlegen. Ein Glasfenster war in Kopfhöhe in der Tür eingelassen. Sie erhob sich gerade so weit, dass sie den Riegel erreichen konnte und nicht durch das Fenster zu sehen war. Mit einem leisen Geräusch schnappte die Verriegelung ein. Mit heftigem Herzklopfen blieb sie einen Moment in dieser Position. Dann sank sie zu Boden und robbte zurück unter das Fenster. Ein Lichtstrahl huschte darüber hinweg, streifte die hellbraunen Dachbalken. Sie presste die Augen kurz zusammen. Riss sie wieder auf. Wenn der Mann herkam und mit der Taschenlampe durchs Fenster leuchtete, würde er den Jungen sehen.

Die Anspannung in ihr war auf einmal so groß, dass sich ihre Finger wie von selbst zu Fäusten schlossen. So fest, dass ihre Fingernägel ins Fleisch ihrer Ballen schnitten. Was sollte sie tun? Den Jungen wecken, um ihn auf ihre Seite zu holen? Was, wenn er aufschreckte, weinte oder schrie?

Sie hörte vorsichtige Schritte draußen auf dem Kies. Eine Männerstimme, die leise etwas sagte. Sie wusste nicht, ob sie die Stimme kannte.

Sie dürfen mich nicht finden, dachte sie. Was ihr blühen würde, wollte sie sich nicht einmal ansatzweise vorstellen. Und der Junge? Würde es ihn noch härter treffen als sie, wehrlos, wie er war? Das Licht war nicht näher gekommen, aber der Mann war noch da, so nah, dass sie seine Schritte hören konnte. Ein piepsendes Geräusch ertönte, wie von einem elektronischen Gerät. Die Männerstimme sagte etwas. Dabei entfernte sie sich.

Das Mädchen lauschte angestrengt. Erst, als das Tor zugezogen wurde und das Klappen der Wagentür ertönte, erhob sie sich und spähte aus dem Fenster. Der Wagen fuhr an. Jetzt konnte sie im Schein der Straßenlaternen die Aufschrift an der Seite erkennen. »Security«, mehr verstand sie nicht. Es reichte, um sie aufatmen zu lassen. Der Wachdienst war hier gewesen. Nur der Wachdienst. Auch der hätte sie finden können und das wäre nicht gut gewesen. Aber nichts war so schlimm wie GOTT.

Gut, dass der Junge all das verschlafen hatte. Jetzt legte auch sie sich hin, richtete sich auf dem harten Holzboden des Ausstellungspavillons ein, in den sie sich geflüchtet hatten. Morgen früh mussten sie hier raus sein, bevor die ersten Mitarbeiter kamen. Sie trug keine Uhr, aber ihr Empfinden sagte ihr, dass sie bis dahin noch ein paar Stunden Schlaf tanken konnte. Und sobald draußen die Sonne aufging, würde sie wach werden. Sie legte den Arm unter den Kopf und versuchte, an etwas Schönes zu denken. Es fiel ihr nichts ein.

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