Читать книгу: «Leise Wut», страница 4

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»Es sind einfach zu wenig Hinweise.« Tamae schnaubte kurz. »Solange du nicht weißt, wer der Mann ist, mit dem diese Frau Kiewitz liiert war und wohin er wollte, wirst du nicht weiterkommen. Ich habe mir mal die üblichen sozialen Plattformen angesehen. Aber im Gegensatz zu vielen anderen, die alles Mögliche posten, hat sich diese Frau offensichtlich nicht öffentlich dargestellt.«

Das hatte Lena natürlich auch schon gemacht, sicherlich auch die Polizei. Wenn Tamae nichts gefunden hatte, gab es vermutlich auch nichts.

»Kennst du niemanden, der mit dieser Frau befreundet war?«

Lena schüttelte den Kopf. Im selben Moment fiel ihr doch noch etwas ein.

»Das Grillfest letzten Sommer. Da haben sich einige Bewohner der Häuser zu einem Kennenlernen zusammengetan«, murmelte sie. »Vielleicht war auch Tobys Mutter dabei.«

Tamae beugte sich vor, ihr Gesicht füllte nun fast den ganzen Bildschirm aus. »Gibt es dazu einen Namen? Jemand, der das Ganze organisiert hat? Jemanden, von dem du weißt, dass er oder sie dabei war?« Nein. Sie hatte keine Ahnung. Lena war an dem Tag eher zufällig zu dem Grillfest gestoßen. Sie konnte sich kaum daran erinnern, wen sie dort getroffen hatte. Nun gab sie passende Begriffe in die Suchleiste ihres Browsers ein und erhielt viel zu viele Treffer.

»Die Leute geben sich ja heutzutage die merkwürdigsten Spitznamen im Internet. Vielleicht hatte diese Frau Kiewitz ja einen Account unter einem Fantasienamen?«, mutmaßte Tamae, die noch immer nicht aufgegeben hatte.

Ja, nur dass Lena keine Ahnung hatte, welcher das sein könnte. Die folgenden Stunden verbrachte sie am PC, sie ging jeder noch so kleinen Verbindung nach, begann mit Hashtags wie Dietzenbach, Spessartviertel, gab dazu eine ganze Reihe von Namen ein. Alles Menschen, mit denen sie dort bereits einmal beruflich zu tun gehabt hatte. Irgendwann kam sie nicht mehr weiter. Sie fand keine Fotos von dem Grillfest und keine von Angelika Kiewietz. Vielleicht verbarg sie sich einfach gut?

Bei Facebook hatte sich Lena aus innerer Überzeugung nie angemeldet, jetzt tat sie es doch, wobei sie ihren zweiten Vornamen und den Geburtsnamen ihrer Mutter, sowie eine alte Adresse aus Teenagerzeiten angab. Dergestalt hoffentlich unsichtbar konnte sie nun etliche Profile noch etwas genauer durchforsten. Es war ihr schon immer unbegreiflich gewesen, mit welcher Naivität sich Menschen im Netz präsentierten, manche gaben mit einem peinlichen Eifer noch die banalsten Dinge preis. Angelika Kiewitz war eindeutig anders. Als Lena sie dann doch irgendwann auf einem Foto im Account eines Mannes mit einem Fantasienamen entdeckte, hielt sie den Kopf abgewandt und schien in der Bewegung eingefangen worden zu sein. Sie trug eine auffällig bedruckte Bluse, weiß mit kleinen roten Lippen darauf. Trotz des leicht verschwommenen Eindrucks war sich Lena sicher, die richtige Person zu sehen. Der Schnappschuss war bei einer Fete aufgenommen worden, aus einem Zimmer hinaus auf den Balkon geknipst. Lena betrachtete die anderen Gesichter. Keines davon kannte sie. So blätterte sie anschließend das ganze Fotoalbum dieser Party durch. Einmal noch stieß sie auf Angelika Kiewitz, es war ihr Arm in der Küsschen-Bluse, der zu sehen war. Ihre Hand lag auf der Schulter eines Mannes. Wer war er? Ein Nachbar? Der Mann einer Freundin? Oder der Unbekannte, mit dem sie zuletzt eine Beziehung gehabt haben sollte? Dunkles, kurz geschnittenes Haar, ein Ring im linken Ohr, ein rostrotes Hemd, mehr war von ihm nicht zu erkennen.

Die Party hatte vor rund drei Monaten stattgefunden. Gut möglich, dass das Paar sich da bereits gefunden hatte.

Lena klickte vom Profil des Partygebers weiter auf andere, sah sich alles an, was zugänglich war. Dann, es war bereits nach Mitternacht, ihre Augen brannten und ihr Nacken hatte sich schmerzhaft verkrampft, landete sie über mehrere Ecken bei den Urlaubsfotos, die ein Ehepaar aus Wuppertal gepostet hatte.

»Endlich wieder Meer!«, schrieb die Frau, die sich Shaenna nannte. Ein Fakename, dachte Lena. Oder gab es vor rund dreißig Jahren Leute, die ihre Tochter so hatten taufen lassen? Heute war das ja gang und gäbe. Man sah Shaenna, wie sie mit geziertem Gehabe einen Fuß in das blaue Wasser des Hotelpools steckte. Wie sie einen bunten Ball aufblies. Wie sie vor der Kulisse eines Sonnenuntergangs einen Cocktail schlürfte. Ihr Mann und die beiden Kindern waren auf den Fotos lediglich von hinten zu sehen, oder, verwackelt, von der Seite.

Lena wollte schon weitergehen zum nächsten Profil, Shaenna hatte eine große Anzahl von Followern, als ihr ein Detail auffiel.

»… ranja Azul« war als Fragment in hellblauer Schrift auf dem Teil eines dreistöckigen Gebäudes zu erkennen, das hinter Shaenna aufragte. Dort war sie beim Aufsteigen auf ein Fahrrad fotografiert worden. Neben ihrem parkte ein Herrenrad, dahinter erkannte man Kinderräder mit bunten Wimpeln.

Lena klickte sämtliche Fotos der Frau an. Kein Hashtag erklärte, wo die Familie genau Urlaub machte. Weder der Ort noch das Land oder die Insel wurden angegeben. Auch nicht der vollständige Name des Hotels. Das war etwas seltsam. Aber hier hatte sie vielleicht eine Spur. Sie öffnete ein weiteres Browserfenster und leitete noch einmal eine Suche ein, indem sie das Wortfragment eingab. Nichts von dem, was sie fand, machte einen Sinn. Schließlich versuchte sie es mit der Verbindung zwischen Mallorca, danach Menorca, einem Hotel, denn das Gebäude, vor dem Shaenna stand, sah danach aus, und dem Wort Azul. Und dann machte es Bingo. Neben einer ganzen Reihe von Hotels, die das Wort Azul im Namen trugen, erschien der ältere Eintrag eines Touristen. Der war auf Menorca in einem Hotel Naranja Azul abgestiegen. Sie klickte den Eintrag an, doch mehr als eine halbe Textzeile war nicht mehr auffindbar. Lenas Herz schlug plötzlich schneller, als sie danach die Website des Hotels suchte. Doch im Display erschien lediglich eine Fehlermeldung. Sie versuchte es erneut, mit demselben Ergebnis.

Langsam ließ sie sich in ihren Stuhl zurücksinken. Shaenna war mit ihrer Familie im letzten Sommer dort gewesen. War das Hotel zwischenzeitlich geschlossen worden? Verkauft und umbenannt?

Lena stand auf, kochte sich trotz der späten Stunde noch einen Kaffee und überlegte. Sie war nun hellwach. Wenn es stimmte, was die Buckpeschs sagten, könnte Menorca das Reiseziel gewesen sein. Das Wort Azul war gefallen, als Angelika Kiewitz mit dem Mann vor ihrer Badezimmertür gesprochen hatte. Eine Familie war über mehrere Ecken mit jemandem in den sozialen Medien vernetzt, bei dem sie eine Party besucht hatte. Diese Familie wiederum hatte in einem Hotel namens Naranja Azul Urlaub gemacht. Lenas Suche hatte ein mögliches Hotel zutage gefördert. War das die Spur, die sie gesucht hatte?

Irgendwo im Haus rumpelte es und Lena ertappte sich dabei, wie sie zusammenfuhr. Sie war kein ängstlicher Typ, aber die hartnäckige Verfolgung durch die Klatschpresse der letzten Tage hatte sie dünnhäutig gemacht.

Sie öffnete am Laptop die aktuelle Ausgabe von Brandheiß, dem größten Schmierblatt, und erschauderte erneut, als sie ihr eigenes Konterfei erblickte. Jemand hatte sie beim Verlassen des Kreishauses geknipst. Nur, wer hatte denn überhaupt wissen können, wann sie dort gewesen war? Schließlich stand ihr Schreibtisch inzwischen woanders. Wütend warf sie die Zeitung zurück auf den niedrigen Couchtisch. Ihr Handy war abgeschaltet, den Telefonstecker des Festnetzanschlusses hatte sie gezogen. Niemand würde sie anrufen und am Telefon bedrängen können. Wieder hörte sie ein Rumpeln. Sie stellte ihre Tasse ab und lief zur Tür. Durch den Spion sah sie, dass im Treppenhaus Licht brannte. Ein Kopf tauchte am Rande ihres Sichtfeldes auf. Lena zuckte im ersten Moment erschrocken zurück. Dann erkannte sie die Mieterin, die über ihr wohnte. Die Frau kicherte. Sie hing am Arm eines Mannes, die beiden schienen komplett betrunken zu sein. Die Frau knickte um, fast wäre sie gefallen, der Mann hielt sie fest. Prustend und stolpernd erklomm das Paar die Treppe nach oben. Lena hörte noch, wie ein Schlüsselbund zu Boden fiel, dann klappte die Tür. Sie ging zurück ins Wohnzimmer, starrte auf den flimmernden Bildschirm ihres Laptops. Gegen einen inneren Widerstand rief sie die online Ausgabe der restlichen regionalen Presse auf. Dort war dem »Fall Toby«, wie er nun hieß, ein allgemein gehaltener Artikel gewidmet. Man sei bei der entsprechenden Behörde bemüht zu klären, ob möglicherweise eine Mitschuld vorlag. Doch die Kommentare im Internet sprachen für sich. Für einige der sich außer Rand und Band gebärdenden Lesern gab es ein klares Feindbild, es hieß Lena B.

Das Krawallblatt hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Sache differenziert zu betrachten. »Noch mehr Kinder in Gefahr? Wann zieht das Jugendamt die Konsequenz?«, lautete der fett gedruckte Aufschrei.

Ein Zittern durchlief sie. Ihr Job war noch nie einfach gewesen. Renitente Klienten, manche sogar bereit, ihr vermeintliches Recht mit körperlicher Gewalt durchzusetzen, kannte sie zuhauf. Es war nie schön, Kinder von ihren Eltern trennen zu müssen, auch wenn noch so viele Gründe dafür sprachen. Es war selten einfach, Frauen aus gewalttätigen Beziehungen herauszuhelfen. Aber bisher hatten immer ihre Klienten im Mittelpunkt gestanden. Nun war sie es, auf die sich die Aufmerksamkeit ihrer Dienststelle richtete. Damit nicht genug. Sie fühlte sich brutal hineingezerrt in eine Sache, der sie schutzlos ausgeliefert zu sein schien. Ihre Hilflosigkeit machte sie fertig. War sie für die anderen ein Punchingball, auf den aus dem Hinterhalt eingedroschen werden konnte? Auch wenn offiziell die Spitze der Kreisverwaltung hinter ihr stand, auch wenn objektiv für sie gar kein Grund bestand, sich Sorgen zu machen, sie fühlte sich entsetzlich.

»Ich muss die Sache klären«, schoss es ihr durch den Kopf. »Sonst werde ich nie wieder unbelastet in meinem Beruf arbeiten können.«

13

»Frau Kasulke ist nicht da.« Die Frau mit dem mausbraunen Haar war aus der Tür der Erdgeschosswohnung im Offenbacher Buchrainweg getreten, als Lena gerade klingeln wollte. Sie war deutlich jünger als Lena und wirkte unendlich erschöpft. Sie sei, so erklärte sie, die Enkelin einer Cousine der Hausmeisterin und hatte ein paar Dinge aus der Wohnung ihrer Verwandten geholt.

»Ich bin Krankenschwester, sie lag bei uns in der Klinik, hatte eine OP. Bandscheibenvorfall. Jetzt kommt sie in die Reha.« Die Mausbraune prüfte noch einmal, ob der Reißverschluss der kleinen Reisetasche ordentlich zugezogen war.

»Ich muss. Bin spät dran«, murmelte sie und ließ Lena stehen.

»Bitte grüßen Sie sie herzlich von mir«, rief sie ihr noch hinterher.

Deswegen also war die Kasulke am Samstag so merkwürdig gewesen. Aber sie hatte nicht einen Ton von der bevorstehenden Operation gesagt.

Wenn ich es gewusst hätte, hätte ich sie besuchen können.

Im selben Moment, in dem der Gedanke durch ihren Kopf schoss, wusste sie, dass ihr das unendlich schwergefallen wäre. Nicht wegen der Kasulke, sondern wegen der Abneigung, die Lena seit einiger Zeit gegen Krankenhäuser hegte. Das letzte Mal, als sie eines betreten hatte, lag dort ihre beste Freundin und rang mit dem Tod. Lena hatte sich damals so elend gefühlt wie nie zuvor in ihrem Leben.

Jetzt schulterte sie ihre Tasche. Sie hatte die Kasulke bitten wollen, noch einmal nach der Post zu sehen. Musste es halt so gehen. Im Gegensatz zu ihrer Reise durch Neuseeland würde sie dieses Mal nicht so lange weg sein. Sie nahm sich vor, der Hausmeisterin aus Menorca eine Postkarte zu schicken, die sie hoffentlich über die Verwandte erreichen würde.


Am Nachmittag desselben Tages holte Lena am Schalter einer Mietwagengesellschaft am Flughafen von Menorca einen roten Hyundai ab. Sie warf einen Handgepäcktrolley, ihr einziges Gepäckstück, in den Kofferraum, breitete eine Karte der Insel auf dem Beifahrersitz aus und stellte das Navi ein. Sie hatte keine Ahnung, wo genau sich das Hotel befand. Ihr einziger Anhaltspunkt war der ältere Eintrag im Internet. Dort war in einem uralten Post einmal die Rede von einem Hotel Naranja Azul, das in der Nähe von Cala Morell lag. Sie würde also quer über die ganze Insel fahren müssen, um dort ihre Suche zu starten. Eine Suche, die völlig umsonst sein konnte. Selbst wenn sie ihn fand, würde sie den Mann erkennen? Sie wusste nicht, wie er aussah, hatte keinen Namen. Sie zog das neue Handy hervor, das sie am frühen Morgen gekauft hatte. Ein Prepaid-Modell, das den Vorteil besaß, dass niemand die Nummer hatte. Ganz besonders nicht die Presse. Sie hatte sie wichtigsten ihrer eigenen Kontakte eingespeichert, ebenso Kopien einiger Fotos. Darunter die Aufnahme, die lediglich den Arm von Angelika Kiewitz zeigte und den Hinterkopf des Mannes, auf dessen Schulter er lag.

Irgendwas wird mir schon einfallen.

Sie musste sich sowieso irgendwo einmieten, warum also nicht in genau diesem Hotel?

Sie gab sich einen Ruck und startete den Wagen. Wenn sie sich heute noch in der Gegend bei Cala Morell umschauen wollte, musste sie sich sputen.

14

»Naranja Azul?« Die Frau schüttelte bedauernd den Kopf. Es war bereits die vierte Person, die Lena nach dem Hotel fragte. Ihr Spanisch bestand aus ein paar Wörtern, die Frage »Dóndé está« gehörte dazu. Doch niemand in Cala Morell schien das Hotel zu kennen. Lena zeigte der Frau auf dem Display ihres Handys den Eintrag, den sie gefunden hatte. Kein Straßenname, keine Kontaktdaten, kein Foto, lediglich »Nähe Cala Morell«.

Die Frau zuckte die Schultern. Jetzt wies sie mit einer weitläufigen Handbewegung auf die vielen weiß getünchten Häuser, die die vom Meer her sanft ansteigende Bucht säumten und sagte etwas in schnellem Spanisch. Lena verstand sie nicht, dankte ihr aber mit einem Lächeln. Die Frau ging davon und Lena betrachtete die Umgebung. Der ganze Ort war eine Feriensiedlung, auf dem Wasser lagen Motorboote und kleine Jachten. Vermutlich kannte kaum jemand die Namen sämtlicher Hotels und Appartementhäuser, wenn man nicht gerade dort arbeitete. Lena war müde und hatte Kopfschmerzen. Die Luft auf der Insel war wesentlich wärmer als im Rhein-Main-Gebiet, eine angenehme Brise strich durch die Büsche und Bäume und der Wind vom Meer trug den Geruch nach Salz und Wasser mit sich. Sie reckte sich, um die nervöse Anspannung in ihrem Körper zu vertreiben, die sie bei ihrer Ankunft befallen hatte. Die Fahrt war angenehm gewesen. Sie war den größten Teil über der Hauptverkehrsader gefolgt, die die neue Hauptstadt Mahón mit der alten, Ciutadella, verband, kaum vierzig Kilometer waren es. Die Straße war gut ausgebaut und vor allen Dingen nicht übermäßig stark befahren. Bei Ciutadella war sie abgebogen, weiter nach Norden gefahren und auch dort gut vorangekommen. Jetzt, wo sie ganz in der Nähe ihres eigentlichen Zieles war, schien sich alles in Luft aufzulösen. War es naiv gewesen, einfach hierher zu kommen? Sie beschloss, sich hier ein Zimmer zu suchen. Danach konnte sie immer noch die Umgebung abfahren und, falls sie das Hotel heute nicht mehr fand, am nächsten Tag ausgeruht weitersuchen. In der Nähe waren einige Badebuchten, vielleicht stand das Hotel dort.

15

Der gut gekleidete Mann an der Bar des Hotels Frankfurter Hof blickte versonnen in sein Glas. Der Whisky, ein 25 Jahre alter Talisker Single Malt, verströmte ein dunkles, torfiges Aroma. Er trank ihn immer pur, ließ nun den schweren Tumbler kreisen und betrachtete die öligen Schlieren, in denen die Flüssigkeit sich innen am Glas entlang bewegte. Die in dunklen Tönen gehaltene Bar war zu dieser frühen Abendstunde kaum besucht. Leise Musik untermalte halblaut geführte Gespräche und das Klirren der Eiswürfel, wenn der Barkeeper einen Drink mixte.

»Herr Rohloff. Guten Abend.« Er blickte hoch. Vor ihm stand Bertram von Hagen. Der Frankfurter Polizeipräsident war hochgewachsen, asketisch schlank und trug das ergraute Haar kurz und dicht an den schmalen Kopf gekämmt.

Wie immer war er tipptopp gekleidet. Grauer Anzug mit Weste, ein bisschen zu dick der Stoff für die bereits milden Temperaturen, burgunderrote Krawatte, Manschettenknöpfe aus Weißgold.

Er erklomm den Barhocker neben Gerd Rohloff.

»Den Talisker kann ich empfehlen.«

»Danke, ich trinke selten Alkohol.« Von Hagen wandte sich dem Barkeeper zu und bestellte ein stilles, ungekühltes Wasser.

Die beiden Männer musterten sich gegenseitig. Sie kannten sich, wenngleich sie sich viele Jahre so gut wie nie begegnet waren.

»Es ist lange her«, brach von Hagen das Schweigen.

»Fünf Jahre. Das letzte Mal sahen wir uns bei einer Vernissage in der Kunstgalerie meiner verstorbenen Frau.« Ein leichter Schmerz durchzog ihn. Wie immer, wenn er von Marie sprach, auch jetzt noch, fast vier Jahre nach ihrem Tod.

»Sie ziehen sich zurück?« Von Hagen war gut informiert.

»Ja. Es ist Zeit, etwas Neues zu beginnen.« Er meinte es nicht nur geschäftlich, aber das ging sein Gegenüber nichts an. »Trotzdem habe ich noch einen Finger am Puls einer gewissen Szene.«

Von Hagen antwortete nicht. Er blickte in sein Wasser. Wartete. Schließlich hatte Rohloff um dieses Treffen gebeten.

»Ich will Ihnen ein Geschäft vorschlagen«, fuhr dieser nun fort. »Es wird gerade etwas eingefädelt in einem der Milieus, in das Sie mit Ihren Leuten nicht vordringen.«

Von Hagen hob den Kopf und wollte etwas sagen. Rohloff bedeutete ihm mit einer Handbewegung, noch kurz zu warten.

»Ich habe Verbindungen zu jemandem, der aussteigen will. Eine Frau, die die Machenschaften ihres Clans nicht mehr erträgt. Besonders die im Rotlicht. Sie traut den deutschen Behörden nicht. Würde nie mit einem ihrer Beamten sprechen. Sie sucht einen Mittelsmann, dem sie vertraut.«

Die Miene des Polizeipräsidenten zeigte höchste Konzentration. »Der wären Sie?«

»Ja. Sie hat Verbindung über einen meiner langjährigen Mitarbeiter aufgenommen. Also, jetzt Ex-Mitarbeiter.«

Von Hagen trank langsam das ganze Glas leer und schenkte sich den Rest aus der kleinen Flasche nach. »Was ist der Deal?«

Rohloff beugte sich nach vorne und senkte die Stimme. »Es wird ein Treffen geben. Alles hochrangige Clanmitglieder. In einem Haus am Stadtrand von Frankfurt. Man fühlt sich unbeobachtet. Unantastbar. Über dem Gesetz stehend. Aber das brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Dort herrscht daher ein gewisser Übermut. In dem Haus findet sich belastendes Material gegen die Köpfe des Clans.«

»Haben Sie etwas für mich dabei?«

Rohloff war auf diese Frage gefasst. Er griff in die Innentasche seines Jacketts, nahm ein Blatt Papier heraus und legte es auf den Tresen.

Von Hagen beugte sich über das Schriftstück. »Immobilien«, murmelte er.

Rohloff nickte. »Die Familie wäscht einen Teil der Einnahmen aus illegalem Glücksspiel im sogenannten Speckgürtel von Frankfurt.«

»Nun ja, das ist noch kein Beweis, dass die Häuser und Grundstücke mit Schwarzgeld erworben wurden.«

»Die finden Sie in dem besagten Haus. Schwarze Buchhaltung, Kanäle, Auslandskonten. Dazu Bargeld, der ganze Keller ist voll davon, gefälschte Papiere, Waffen und vermutlich auch ein Arsenal an Drogen. Da war sich meine Informantin nicht ganz sicher.«

Von Hagen schwieg, in seinem Gesicht arbeitete es.

»Es wird ein Notruf über die 110 eingehen. Eine Frau wird um Hilfe bitten. Es wird von mehreren bewaffneten Männern die Rede sein. Damit hätten Ihre Leuten guten Grund, in das Gebäude einzudringen, die Räume und alle Anwesenden zu filzen.«

»Wie belastbar ist das Ganze?«

»Die Zeugin weiß, dass sie unter Druck geraten könnte. Sie wird aussagen, aber sie will einen Deal. Kronzeugenregelung. Eine neue Identität für sich und ihre Tochter, mit der sie zukünftig im Ausland leben wird. Das müssen Sie mit den zuständigen Stellen klären, das ist mir klar. Aber die Frau will raus da. Zwangsverheiratet, unglücklich, hat Angst um ihre Tochter, die wohl nach Meinung des Clanältesten mit 14 Jahren bereits im heiratsfähigen Alter ist.«

Keiner der beiden verzog eine Miene, sie wussten beide schon zu lange Bescheid.

Von Hagen hatte sein Wasser ausgetrunken. »Was ist Ihr Preis für diese Art von Überzeugungsarbeit?«

Rohloff richtete sich auf und atmete tief durch. Dann griff er erneut in sein Jackett und entfaltete einen Zeitungsartikel.

»Der tote Junge aus Dietzenbach?«, murmelte der Polizeipräsident, während er las. Sein Blick verriet, dass er sich darauf keinen Reim machen konnte.

»Ich will wissen, was ihm geschehen ist. Alles. Welcher Art die Misshandlungen waren, denen er ausgesetzt war, wie er gestorben ist. Jedes Detail.«

Von Hagen blickte sein Gegenüber irritiert an. »Das fällt nicht in meine Zuständigkeit. Diese …«

Rohloff schnitt ihm das Wort ab. »Der Junge wurde in der Rechtsmedizin Frankfurt obduziert. Als Polizeipräsident haben Sie kein Problem, an den Bericht zu kommen. Geben Sie ihn mir, dann bekommen Sie die Aussage der Zeugin, den Termin, den Ort, die Sicherheitsvorkehrungen und einen Keller voller Beweismaterial. Alles, was Sie benötigen, um einen Coup für die Frankfurter Polizei zu landen, bevor das BKA übernimmt. Ein Deal, von dem Sie mehr profitieren als ich. Wesentlich mehr.«

Von Hagen schaute einen Moment ins Leere.

»Gut. Ich sehe, dass Ihnen die Sache wichtig ist. Auf welchem Weg möchten Sie die Unterlagen übermittelt haben?«

»Auf dem guten alten Papier.«

Van Hagen lächelte leicht, das erste Mal, seit er da war.

»Geben Sie es in einem verschlossenen Umschlag mit dem Vermerk persönlich bei Marek in der Kinky-Bar ab, er wird mich informieren.«

»Haben Sie den Club denn noch?«

Rohloff schüttelte den Kopf. »Gerade verkauft. In ein paar Tagen wird der neue Besitzer dort einziehen. Aber dem Personal kann ich vertrauen.«

Sie erhoben sich gleichzeitig. Nach kurzem Zögern reichte von Hagen Rohloff die Hand. »Eigentlich schade. Mit Ihnen verlässt einer der letzten Geschäftsmänner vom alten Schlag das Bahnhofsviertel. Sicherlich werden meine Leute Ihre ehemaligen Clubs in Zukunft wesentlich häufiger filzen müssen.«

Er ging, aufrecht und mit langen Schritten. Rohloff blickte ihm hinterher und trank seinen Whisky. Er wusste, dass er sich auf von Hagen verlassen konnte. So, wie der sich auf ihn.

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