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04

Norbert Müller war der erste, der sie am Montagmorgen sah. Zu Lenas Erstaunen blieb der Teamleiter bei ihrem Eintreten wie versteinert an seiner Bürotür stehen.

»Morgen!«, rief sie ihm über den Gang hinweg zu. Er nickte knapp und verschwand, die Tür schlug heftig zu.

»Merkwürdige Begrüßung«, murmelte sie, als sie den kleinen Büroraum betrat, den sie mit einer Kollegin teilte. Sie hielt inne, als ihr Blick auf Andrea Geissler fiel. Die saß hinter ihrem Schreibtisch, der Lenas gegenüberstand, und sah sie mit großen Augen an.

»Was ist denn los? Habt ihr nicht mit mir gerechnet?« Lena warf ihre Tasche auf den Sessel und zog ihre Lederjacke aus. »Ich war doch nur im Urlaub.«

Andrea schnellte nach vorn. »Lena. Weißt du noch gar nichts?«

»Ob ich was weiß, weiß ich erst, wenn du mir sagst, was ich wissen sollte.« Sie würde sich die Laune nicht verderben lassen. Nicht gleich am ersten Tag.

Oder wissen alle bereits, was ich getan habe?

Der große Knall, wie sie es nannte, lag inzwischen rund zwei Monate zurück. Sechs der acht Wochen, die seither vergangen waren, war sie weg gewesen. Überstunden, Resturlaub, sie hatte kaum etwas von ihrem diesjährigen Anspruch nehmen müssen. Es war nicht nur der Wunsch nach Erholung, der sie getrieben hatte, für eine Weile das Amt und alles, was damit zusammenhing, hinter sich zu lassen. Aber das konnte Andrea unmöglich wissen.

»Eine unserer Klientinnen, die Kiewitz und ihr Sohn …« Andrea schüttelte in einer hilflosen Geste den Kopf.

»Was?« Lena war mitten in der Bewegung erstarrt.

»Der Kleine ist tot. Die Mutter hat Selbstmord begangen.« Andrea war kaum zu verstehen.

»Woher weißt du das?« Lena fühlte eine Welle von Übelkeit in sich aufsteigen.

»Die Maibaum. Sie hat uns heute in aller Herrgottsfrühe zusammengetrommelt.«

Lena blickte automatisch auf ihr Diensthandy. Sie hatte keine Nachricht erhalten. Weder von der Sozialdezernentin noch von Norbert, ihrem Teamleiter.

»Dich haben sie nicht informiert?« Andreas Blick wirkte wie eingefroren.

Lena schüttelte den Kopf. Etwas schnürte ihr die Kehle zu. Was war hier los?

»Sag nicht, dass ich mit dir gesprochen habe.« Andrea flüsterte nun. »Die Kripo war auch dabei. Ich glaube, sie wollen dich befragen …« Weiter kam sie nicht. Norbert Müller stürmte mit hochrotem Gesicht und besorgniserregenden Falten auf der Stirn in den Raum

»Lena, du sollst sofort rüber ins Haupthaus kommen. Die Maibaum will dich sprechen.«

Lena blickte von Andrea zu Norbert und wieder zurück. Ein weiterer Kollege war an der offenen Tür aufgetaucht und blickte sie an. Mitleidig, wie ihr schien.

»Meine Termine«, murmelte sie mit einer vagen Handbewegung zu ihrem Computer. Norberts Brauen hoben sich unmerklich. Andrea blinzelte nervös. Der Kollege an der Tür verschwand wortlos.

»Für deine Vertretung ist gesorgt«, antwortete Norbert. Er war überfordert als Teamleiter und versuchte häufig, das durch besonders forsches Auftreten im Team wettzumachen. Dass nun keine Häme in seiner Stimme mitschwang, keine Genugtuung, machte ihr klar, dass etwas verdammt Ungutes in Gang war.

05

Marianne Maibaum, Sozialdezernentin des Landkreises Offenbach, residierte im obersten Stockwerk der Kreisverwaltung in der Werner-Hilpert-Straße. Vom Spessartviertel, wo sich die Büros des Querschnittsteams befanden, bis dorthin war es Lena noch nie so weit vorgekommen. Nun saß sie bereits seit einer Viertelstunde im Vorzimmer und wartete darauf, von ihrer obersten Vorgesetzten empfangen zu werden. Sieglinde Brohm rauschte irgendwann an ihr vorbei ins Büro der Politikerin. Als sie totenbleich wieder herauskam, würdigte sie Lena keines Blickes. Dabei waren beide einmal so etwas wie befreundet gewesen. Damals, als sie noch Sozialarbeiterinnen im Jugendamt waren. Nach Sieglindes Beförderung zur Abteilungsleiterin hatte sich das Verhältnis zwischen ihnen verändert. Sieglinde war seither gezwungen, anders zu handeln als vorher. Vor allem die Effizienz der Abteilung stand nun im Vordergrund ihres Wirkens, ebenso quälte sie in zunehmendem Maße die Frage, wie immer mehr Arbeit mit immer weniger Personal bewerkstelligt werden konnte. Lena war ihr dabei ein Dorn im Auge, weil sie stets auf die Unvereinbarkeit von qualitativ guter Arbeit und zusammengeschusterter Lösungen aufgrund von Überlastung verwies. Als Sieglinde die Gelegenheit bekam, Lena in ein zunächst befristetes Vorzeigeprojekt der Dezernentin abzustellen, hatte sie nicht lange gezögert. Seither saß Lena mit rund einem Dutzend anderer Sozialarbeiter*innen in Büros direkt im Brennpunkt und war für einen ausgesuchten Personenkreis erste Ansprechpartnerin in allen Fragen der Hilfegewährung sämtlicher Ämter.

Die Tür flog auf und Lena wurde aus ihren Überlegungen gerissen. Doch nicht Marianne Maibaum stand dort, sondern Konrad Leiß. Der Personalchef sah aus, als habe man ihm die Luft abgelassen. Er winkte Lena herein. Beim Betreten des Raumes war es, als würde sie sich in eine elektrisch aufgeladene Atmosphäre begeben. Die Maibaum saß am Kopfende des Besprechungstischs und blickte bei ihrem Eintreten von einem Schriftstück auf. Lena erkannte unverhohlene Abscheu in ihren Augen, bevor sich die Chefin wieder im Griff hatte. Neben der Maibaum saß Carola Bergmann, die persönliche Referentin der Politikerin. Ihre Miene war ernst und ausdruckslos. Leiß räusperte sich, bevor er Lena bat, ebenfalls am Tisch Platz zu nehmen und sich ihr gegenüber niederließ.

Die nachfolgende halbe Stunde würde sie vermutlich nie vergessen. In einer Atmosphäre eisiger Kälte informierte sie Konrad Leiß über die Situation. Angelika Kiewitz war in ihrer Wohnung aufgefunden worden. Ihr Sohn Toby lebte ebenfalls nicht mehr. Der kleine Junge war derartig schwer misshandelt worden, dass er die Tortur nicht überlebt hatte.

»Die Misshandlungen zogen sich über einen längeren Zeitraum hin. Sie als zuständige Sozialarbeiterin hätten sehen müssen, was in der Familie vorgeht«, hielt Leiß ihr vor.

»Moment«, meldete sich Lena zu Wort. »Ich war nicht mehr zuständig für die Familie.« Niemand antwortete, Leiß wich ihrem Blick aus.

»Frau Borowski, wir alle stehen hinter Ihnen. Die Kripo wird Sie womöglich befragen. Wir als Behörde sind jedoch aufgefordert, die Sache intern zu klären. Bis dahin sind Sie vom Dienst suspendiert. In Ihrem eigenen Interesse. Und selbstverständlich nach Rücksprache mit dem Betriebsrat, der der Maßnahme zugestimmt hat.«

Die Worte hallten nach wie ein viel zu lauter Gong, der in ihrem Kopf geschlagen wurde.

Sie sah von Leiß, der sichtlich bemüht war, die Sache so sachlich wie geschmeidig rüberzubringen, zu Carola Bergmann, die sie aufmerksam musterte. Was sie dachte, konnte Lena noch nicht einmal erahnen. Bei Marianne Maibaum verhielt sich das anders. Blanker Hass leuchtete aus den Augen der Dezernentin.

Die rächt sich jetzt an dir für das, was du ihr vor Kurzem zerschossen hast.

Doch keinesfalls wollte Lena eine solche Behandlung klaglos hinnehmen.

»Als ich sie zuletzt gesehen habe, hatte Angelika Kiewitz ihr Leben wieder im Griff. Doch seit meiner Versetzung gehörten sie und ihr Sohn nicht mehr zu meinen Klienten.«

Leiß blickte stirnrunzelnd zur Maibaum, die Lenas Worte mit einer leichten Handbewegung abtat. Erst jetzt sah Lena, dass die Finger der Dezernentin auf der Fallakte lagen.

»Schauen Sie nach!«, forderte sie die Politikerin auf.

Carola Bergmann blickte nun ebenfalls auf die Akte. Nachdenklich, wie Lena schien. Sie sagte jedoch nichts.

»Das werden wir tun. Wie gesagt, wir klären das. Nicht Sie. Wir stehen momentan im Fokus, es ist die Kreisverwaltung, mein Dezernat, das Jugendamt.« Marianne Maibaum erhob sich zum Zeichen, dass sie das Gespräch als beendet betrachtete. Leiß und die Bergmann taten es ihr gleich. Lena schnappte empört nach Luft. »So geht das aber nicht! Sie können mich nicht einfach zur Seite schieben. Eine Suspendierung kommt einem Urteil gleich …«

»Frau Borowski. Wir haben uns das gut überlegt. Es ist momentan der einzig denkbare Weg.« Die Bergmann hatte sie unterbrochen. Nicht unfreundlich, aber bestimmt. »Sobald wir klarer sehen, reden wir weiter.«

Keine Chance, die Sache noch zu drehen.

»Wir melden uns, falls es Neuigkeiten gibt.« Leiß reichte ihr als einziger die Hand.

Wie betäubt verließ Lena das Büro der Politikerin. Sie rannte die Treppe hinunter. Dann stand sie vor dem grauen Gebäude, immer noch wie vor den Kopf geschlagen. Sie war total durcheinander. Wohin sollte sie sich wenden? Zurück an ihren Schreibtisch, das war ihr untersagt worden. Sie wusste, dass Norbert Müller sehr genau darauf achten würde, dass sie dieses Verbot einhielt. Und hier im Haus gab es für sie nichts mehr zu tun.

Wir heben die Suspendierung sofort wieder auf, sollte sich der Fall zu Ihren Gunsten klären, hatte der Personalchef ihr versichert, nachdem er ihre Schlüssel und das Diensthandy an sich genommen hatte. Lena fühlte sich, als habe man ihr einen Teil ihrer Identität geraubt. Sollte sie jetzt einfach nach Hause fahren? Während man hier so tat, als trüge sie die Schuld oder zumindest eine Mitschuld an dem, was geschehen war? Wut erfasste sie. Am liebsten hätte sie gegen irgendetwas getreten. Nur, dass das auch nichts geändert hätte. Genauso wenig wie an ihrem permanent schlechten Gewissen. Hatte Angelika Kiewitz noch gelebt, als sie am Vortag vor ihrer Tür stand? Sie ging noch einmal die Optionen durch, die sie gehabt hatte. Doch genau wie am Sonntag kam sie zum Ergebnis, dass es keinerlei Handhabe für sie gegeben hätte, die Polizei zu rufen. Die hätte ganz sicher keine Wohnung aufgebrochen, deren Bewohner laut Auskunft der Nachbarn in Urlaub gefahren waren.

Lena wusste, dass ein Blick in die Akte die Sache klären würde. Nur, dass die Maibaum genau das verhindert hatte. Mit Argumenten, die Lena nur bedingt akzeptieren konnte. Während sie ziellos durch die Straßen lief, lächelte ihr die Maibaum mehrfach von Plakatwänden entgegen. Genauso wie der amtierende Landrat Hans-Joachim Söder. Die beiden würden sich in den kommenden Wochen bis zur Landratswahl ein heißes Gefecht liefern. Die Maibaum wollte unbedingt Söders Stuhl. Da war es für die ehrgeizige Politikerin fast ein Super-Gau gewesen, als zwei Monate zuvor eines ihrer geplanten Vorzeigeprojekte im Sozialbereich den Bach runterging, nachdem brisante Details zu Betrügereien durch den von ihr ausgesuchten Geschäftspartner ans Licht gekommen waren. Sie verdächtigte Lena, etwas damit zu tun zu haben. Das kam nicht von ungefähr. Doch sie konnte ihr nichts nachweisen. Jetzt würde sie versuchen, es ihr auf andere Weise heimzuzahlen.

Die Fäuste tief in den Taschen ihrer Lederjacke vergraben, lief Lena eine Weile ziellos umher. Dann wusste sie, was zu tun war. Sie drehte auf dem Absatz um, und schlug den Weg zu den Hochhäusern des Spessartviertels ein.

06

»Sie schon wieder!« Herr Buckpesch klang nicht erfreut.

»Ach, Frau Borowski«, piepste seine Frau und drängelte sich an ihm vorbei zur Tür. »Kommen Sie rein. Ich habe gerade frischen Kaffee aufgesetzt.«

Lena ignorierte den unwilligen Blick des Mannes und folgte seiner Frau in die Wohnung. Klein war sie und vollgestopft mit Möbeln, die mehr Raum benötigt hätten. Aber alles war picobello, sauber und wesentlich aufgeräumter als Lenas eigene Wohnung.

»Sie kommen sicher wegen Angelika«, begann die ältere Frau das Gespräch, kaum dass sie das Wohnzimmer betreten hatten.

Lena ließ sich auf ein geblümtes Sofa sinken. »Es lässt mir einfach keine Ruhe.«

Frau Buckpesch nickte, sie sah traurig aus. »Wir machen uns ebenfalls Vorwürfe. Aber wir haben die Nachbarn doch gehört. Sie haben am Samstagabend das Haus verlassen. Angelika hatte den Urlaub angekündigt. Gefreut hat sie sich. Ein bisschen im Meer baden, das täte Toby ganz gut. Und sie wollte mal was anderes sehen als immer nur das hier.« Sie unterstrich ihre Worte mit einer vielsagenden Geste. »Ihr Freund hat ihr die Reise spendiert, erzählte sie mir. Sie selbst hatte ja kein Geld. Die Streitereien …«, sie zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen, »die waren doch an der Tagesordnung.«

»Kennen Sie den Mann, mit dem Ihre Nachbarin zusammen war?« Lena hatte nachgerechnet. Sie war fast ein dreiviertel Jahr nicht mehr zuständig für Frau Kiewitz. Damals war die Frau Single gewesen.

»Hm«, machte ihr Gegenüber und warf einen unsicheren Blick zu ihrem Mann hinüber.

»Wir wollen in nichts hineingezogen werden«, brummte der. Eine betretene Stille trat ein, die durch die Türklingel durchbrochen wurde. Herr Buckpesch verschwand und zog die Tür bis auf einen Spalt hinter sich zu.

»Frau Buckpesch, ich brauche Ihre Hilfe«, sagte Lena leise. »Wie Sie wissen, war ich einige Jahre die zuständige Sozialarbeiterin im Jugendamt. Jetzt ist ein kleiner Junge tot, dessen Mutter mich kurz zuvor noch angerufen hat und ich habe keine Ahnung, was genau geschehen ist.« Sie blickte kurz zur Tür, von draußen war lebhaftes Gemurmel zu hören.

»Man hat mich vom Dienst suspendiert.«

»Ach herrje!« Frau Buckpesch hob die Pergamenthände an den Mund und sah Lena mitfühlend an. »Aber Sie können doch nichts dafür.«

»Leider ist die Situation im Moment etwas unübersichtlich.«

Herrn Buckpeschs Stimme hob sich, offensichtlich war er verärgert.

»Der Freund, er hatte ebenfalls ein Kind«, flüsterte die ältere Frau nun hastig. »Auch ein kleiner Junge, ungefähr in Tobys Alter. Das hat mir Angelika erzählt. Der Mann selbst war eher unauffällig. Aber er fuhr ein großes Auto. Einen Chevrolet, sagt mein Mann.«

Der schlug nun gerade draußen jemandem lautstark die Tür vor der Nase zu.

»Reporterpack!«, schimpfte er verärgert, als er zurück ins Zimmer kam. »Wollten mich doch tatsächlich über unsere Nachbarin ausquetschen.«

Er ließ sich in den Sessel neben dem seiner Frau fallen und musterte Lena auf einmal neugierig. »Die Kerle wollten wissen, ob das Jugendamt sich um die Familie gekümmert hat.«

Lena schloss kurz die Augen. »Woher wissen die denn schon Bescheid?« Sie selbst hatte erst vor einer knappen Stunde von den Geschehnissen erfahren.

»Schmeißfliegen. Die haben ihre Quellen und Methoden«, ließ Herr Buckpesch sie wissen. Augenscheinlich gehörten Reporter für ihn in eine ähnliche Kategorie wie Beamte und Polizisten.

»Wer hat die beiden gefunden?«, fragte Lena.

»Ramona. Ein Mädchen aus der Nachbarschaft. Die hatte einen Schlüssel. Wegen der Post. Und Tobys Hamster.«

Wie sich herausstellte, kannten die Buckpeschs den Teenager nicht. Doch als das Mädchen am Vortag die Wohnung betreten hatte, um den Hamster zu füttern, war sie angesichts dessen, was sie dort vorfand, schreiend auf den Gang gerannt.

»Die war so durch den Wind, die konnte nicht mal mehr den Notruf wählen. Das mussten wir dann tun«, brummte Herr Buckpesch.

»Die Polizisten haben auch uns vernommen«, fuhr seine Frau fort.

»Befragt. Lediglich befragt.«

Lena brummte der Kopf. Das ältere Ehepaar hatte also einen heftigen Streit gehört, danach aber angenommen, dass sowohl Angelika und Toby Kiewitz als auch ihr neuer Freund mit seinem Sohn gemeinsam zu einer Urlaubsreise aufgebrochen waren.

»Wohin sollte es denn gehen? Wissen Sie das?«

Die beiden schüttelten zunächst den Kopf, bevor ihnen doch noch etwas einfiel.

»Mallorca? Ich glaube, es war Mallorca«, meinte er.

»Nein, etwas, das so ähnlich klang«, meinte sie.

»Ist auch egal. Sie ist ja nicht gefahren. Womöglich wollte sie nach dem Streit nicht mehr.«

»Vielleicht hat er sie verlassen und ist alleine weggefahren. Und deshalb hat die Angelika sich umgebracht.«

Die beiden fingen nun an, alle möglichen Szenarien durchzuspielen. Lena ahnte, dass das Gespräch sie nicht mehr weiterbringen würde, und verabschiedete sich. Es gab noch jemanden, mit dem sie dringend sprechen musste.

07

Sieglinde Brohm bugsierte ihren schwarzen Mini in eine Parklücke vor dem gepflegten Mehrfamilienhaus in der Anton-Hermann-Straße in Heusenstamm. Sie stieg aus, griff nach einigen Tüten auf der Rückbank, schloss die Tür und wandte sich um. Als sie Lena auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen sah, erstarrte sie.

»Ich darf nicht mit dir reden. Und du nicht mit mir«, stieß sie nach ein paar Schocksekunden hervor.

»Wer sagt das?« Lena schlenderte gemächlich auf ihre ehemalige Abteilungsleiterin zu. Es war ihr nicht anzumerken, dass sie seit über zwei Stunden auf Sieglinde wartete. Sie wirkte, und das war kalkuliert, lässig.

»Die Maibaum. Und der Leiß.« Sieglinde versuchte, an Lena vorbeizukommen, doch die stellte sich ihr in den Weg. »Du musst aber mit mir reden. Denn du bist die Einzige, die mir helfen kann.«

»Lass mich vorbei, oder ich schreie!«

»Schrei doch.« Lena bewegte sich keinen Millimeter und sah Sieglinde unverwandt an.

Die senkte schließlich die Augen. »Niemand wird mit dir reden. Die haben uns allen heute einen Maulkorb verpasst.«

Lenas Arm sank herab. »Sag mir einfach, wer die Familie Kiewitz nach meiner Versetzung betreut hat.«

Ein Flackern trat in Sieglindes Augen. Sie schüttelte den Kopf. »Das geht nicht.«

»Warum nicht? Du hast doch meine damaligen Fälle nach meiner Versetzung neu verteilt, oder?«

Sieglindes Mund verzerrte sich, als leide sie Schmerzen. »Habe ich«, quetschte sie schließlich hervor. »Aber ich weiß das nicht aus dem Gedächtnis.«

»Du hast die Akte.«

»Hatte. Ich hatte die Akte. Bis sie heute Morgen von jemandem abgeholt wurde. Direkt zur Maibaum. Glaub mir, ich hatte noch nicht einmal Gelegenheit, einen Blick hineinzuwerfen.«

»Es gibt eine digitale Version.«

»Die ist gesperrt.«

Lena runzelte die Stirn. »Sieglinde, das ist doch Mist. In deinem Team wird diejenige Person ja wissen, dass sie zuständig ist! Das lässt doch niemanden kalt! Ein kleiner Junge ist tot. Offenbar wurde er seit längerer Zeit misshandelt. Als ich die Familie abgegeben habe, ging es ihm gut. Jetzt will man mir einen Strick daraus drehen. Abgesehen davon fühle ich mich total beschissen bei der Vorstellung, dass der kleine Toby gewaltsam zu Tode kam. Kannst du das nicht verstehen?«

»Hör auf!« Sieglinde stellte ihre Tüten ab und trat einen Schritt auf Lena zu. »Niemand will dir an den Karren fahren. Im Gegenteil. Die Spitze der Kreisverwaltung steht hinter dir. Mal wieder. Wie auch immer du das angestellt hast. Aber ich habe die Sache nun an der Backe und muss sehen, wie ich Schaden von meiner Abteilung abwenden kann.«

Lena zog irritiert die Brauen nach oben. »Schaden von deiner Abteilung abwenden? Was redest du da? Wenn Mist gebaut wurde, muss das auf den Tisch. Ihr könnt die Sache doch nicht köcheln lassen, mit mir im Schmortopf! Und das noch zu deiner Information: Das Gespräch, das ich heute früh in Frau Maibaums Büro geführt habe, war nicht freundlich.«

»Möglich. Aber du bist erst einmal raus aus der Nummer. In deinem eigenen Interesse suspendiert, bis zur Aufklärung der Sache. Nicht im öffentlichen Fokus, wie unsere Dezernentin so schön sagt. Ganz im Gegensatz zu uns anderen. Also spiel dich nicht auf, genieße deine Freizeit und reiße niemanden mit rein, nur weil du es einfach nicht lassen kannst, deine Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken.«

Sie nahm ihre Tüten wieder auf und dieses Mal trat Lena beiseite.

»Du bist wütend, Sieglinde. Weil ich einen eigenen Kopf habe und nicht alles abnicke, was in der Hierarchie von oben kommt. Aber denk bitte bei allem daran, dass wir früher eine Art kollegialer Freundschaft hatten. Unsere fachlichen Auseinandersetzungen einmal beiseitegelassen, war ich dir gegenüber stets loyal. Vergiss das nicht.«

Sieglindes Blick war abweisend, aber sie widersprach nicht.

»Glaub ja nicht, dass mich das kaltlässt. Ein Kind zu misshandeln, das ist so ekelhaft. Du kennst meine Meinung dazu. Aber ich kann, will und werde mich nicht gegen meine Vorgesetzte stellen.« Damit wandte sie sich ab und ging an Lena vorbei ins Haus.

Die stand noch eine Weile da und starrte auf den Bürgersteig. Hatte man sie wirklich aus der Schusslinie genommen? Wenn ja, warum? Wenn sie doch gar nichts damit zu tun haben konnte? Sie wurde aus der Nummer nicht schlau.

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