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Читать книгу: «Todesrunen», страница 7

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»Aber ist sie nicht deswegen dort weggezogen?«, fragte Tilla erstaunt nach.

»Nein, so war das nicht. Außerdem spielt das heute keine Rolle mehr, es ist immerhin dreißig Jahre her!«, wiegelte Astrid ab.

Tilla wunderte sich noch über Astrids brüske Worte, da stellte Gerred mit Blick auf ein Foto an der Wand fest: »Interessant. Das ist ja eine Collage.«

Tilla sah ihm über die Schulter und stellte verwundert fest, dass er recht hatte. Auf dem alten Foto von ihrer Mutter klebte ihr eigenes Gesicht. Das Bild hatte sie noch gar nicht bemerkt. Wieder erfüllte es sie mit Schmerz, dass sich im Haus kein einziges Foto von ihr mehr befand. Nur dieses. Ihr Gesicht über dem ihrer Mutter. Eine Träne löste sich, die sie unwillig wegwischte.

»Was ist?«, fragte Gerred vorsichtig.

»Die Fotos von mir, sie sind weg, alle. Nur dieses gibt es noch. Sie hat mein Gesicht von einem ähnlichen Foto ausgeschnitten und auf eines ihrer Fotos geklebt, was ich jetzt erst bemerke. Ich verstehe das alles nicht.«

»Sie hat deine Fotos weggehängt?«, fragte Astrid fassungslos.

»Nicht nur weggehängt, sie sind ganz weg«, gab Tilla unwillig zurück.

»Und wieso dann diese Collage?«, fragte Gerred.

»Wenn ich das wüsste«, murmelte Tilla.

Kapitel 14


Siegrunen schneide, wenn du den Sieg willst haben;

Grabe sie auf des Schwertes Griff;

Auf die Seiten einige, andere auf das Stichblatt,

Und nenne zweimal Thyr.

– Edda, Das Lied von Sigrdrifa 6 –

Harald Schakenbeck trat in den spärlichen Schein der Straßenlaterne. Er fröstelte. Eigentlich war es gar nicht so kalt, aber die stetige Feuchtigkeit der letzten Tage zog einem durch jedwede Form von Kleidung und ließ die Temperatur niedriger erscheinen, als sie war. Er wünschte, es würde endlich schneien. In drei Tagen war Weihnachten. Hin und wieder hatte er die Kuppe des Rammelsberges schon leicht überpudert gesehen, doch bisher waren sie über herbstliches Schmuddelwetter noch nicht hinausgekommen. Er seufzte.

Grundsätzlich mochte er seinen Job, doch heute war er so frustriert wie schon lange nicht mehr. Er hatte Hülya Gülcan, eine junge Türkin, besucht. Das Mädchen hatte ihr schönes Gesicht zwar sittsam gesenkt, als ihr Vater und ihr blutjunger Ehemann gemeinsam angefangen hatten, auf sie einzubrüllen, doch Harald Schakenbeck war die Verzweiflung in Hülyas Augen keineswegs entgangen. Sie hatte im nächsten Frühjahr ihr Abitur machen wollen, doch nun war sie schwanger. Ihre Familie verbot ihr, aus dem Haus und zur Schule zu gehen.

Harald Schakenbeck war seit vielen Jahren Sozialarbeiter. Er hatte sich einen guten Ruf geschaffen, denn er konnte gut mit jenen Jugendlichen umgehen, denen gern mal die Pferde durchgingen. Er wusste nur allzu gut, wie sich so etwas anfühlte und wie süß die Erleichterung schmeckte, wenn man seine Wut an einem anderen Menschen ausgelassen hatte. Allerdings kannte er auch den bitteren Nachgeschmack davon und wie lange es an einem zerrte. Er hatte all das selbst erlebt und hinter sich gelassen. Mit seinem Erfahrungsschatz gelang es ihm sehr oft, die richtigen Worte zu finden, um die zornigen jungen Männer und Frauen zu erreichen. Aber dieser Job hier lag ihm so gar nicht. Gerne hätte er Hülya an seine Kollegin abgetreten, doch er wusste natürlich, traditionelle türkische Familien sprachen nicht mit weiblichen Mitarbeitern.

Geduldig hatte er gewartet, bis sich die Männer etwas beruhigt hatten. Im Laufe der Jahre hatte er ein wenig Türkisch gelernt, aber das, was heute zu der jungen Frau mit den schönen Märchenaugen gesagt wurde, hätte er am liebsten nicht verstanden. Hülya war eine intelligente junge Frau, der alle Chancen offen gestanden hätten, wäre sie nicht in den Traditionen ihrer Herkunft gefangen. In höfliche Worte gekleidet, hatte man ihm zu verstehen gegeben, dass man seine Einmischung nicht weiter dulden würde. Als er ging, streifte ihn ein scheuer Blick von Hülya. Die großen dunklen Augen des Mädchens verstanden es, ihm in diesem kurzen Augenblick gleichzeitig eine Warnung und Dank zukommen zu lassen, bevor sie wieder sittsam niedergeschlagen wurden und sich an dem grauen Laminatboden vor ihren Füßen festsaugten.

Mit ungnädig stampfenden Schritten überquerte Schakenbeck die Straße und ließ sich in seinen Wagen fallen. »Heute brauche ich wirklich einen guten Schluck Wein«, murmelte er unendlich müde vor sich hin, als ihm auch noch der Autoschlüssel hinunterfiel. Das Kinn ans Steuer gequetscht, fischte er mit den Händen im Fußraum herum, bis er endlich den metallenen Haufen ertastete. In diesem Moment löste sich eine schlanke Gestalt in Mantel und dunkler Mütze von der völlig im Dunklen liegenden Hausfassade und kreuzte mit schnellen Schritten die Fahrbahn. Wie ein Geist verschwand der Mann in der nächsten Seitenstraße.

»Meine Güte, da kriegt man ja einen Herzinfarkt«, murmelte Schakenbeck, bevor er den Schlüssel ins Zündschloss friemelte. Mit gehorsamem Brummen meldete sich der Motor.

Später, mit dem Rotweinglas in der Hand beobachtete Harald Schakenbeck seine Lore, während leckerer Essensduft durch die Wohnung zog. Er ahnte, was kam. Sie hatte schon mehrfach zu ihm hingesehen, seit sie das Telefongespräch angenommen hatte. Es passierte eigentlich nicht so häufig, dass seine Schützlinge sich abends meldeten, aber es kam vor. Lore dagegen arbeitete im Katasteramt, ihr Feierabend war stets endgültig.

Mit den Worten: »Es ist ein Mann, der sagt, er riefe im Auftrag von einer Hülya an …«, übergab ihm Lore den Hörer.

»Hülya Gülcan? Hoffentlich ist nichts passiert.« Harald Schakenbeck nahm eilig den Hörer ans Ohr, meldete sich mit kurzem »Ja« und hörte dann stirnrunzelnd zu. »Beim Klusfelsen? Sie ist bis zum Klusfelsen gelaufen? Du meine Güte, die Arme. Ja, ich fahre gleich hin und suche sie. Und Sie sind …?« Harald Schakenbeck blickte den plötzlich verstummten Hörer an. »Anonym. Na gut. Hauptsache es gibt überhaupt jemanden, der sich um das arme Mädchen sorgt.«

Woher hatte der anonyme Anrufer seine Nummer? Eigentlich hätte sich Harald Schakenbeck dieser Frage sorgfältiger widmen müssen, doch die Sorge um das Mädchen mit dem werdenden Leben im Leib drängte alles beiseite.

»Ich begleite dich«, bot Lore Schakenbeck an und schickte sich an, nach ihrer Jacke zu greifen. Doch Harald strich seiner Frau liebevoll über die Wange.

»Nein, lass nur Lorchen. Ich weiß nicht, wie sie reagiert, wenn sie jemand bei mir sieht, den sie nicht kennt. Und warte nicht auf mich. Wenn möglich, bringe ich sie noch heute Nacht woanders unter. Es könnte spät werden.« Er küsste seine Frau, suchte seine Sachen zusammen und verließ die Wohnung.

Nur eine Stunde später lag Harald Schakenbeck bäuchlings auf dem Boden im Mondschatten des Klusfelsens. Seine Wange ruhte schwer auf einer moosigen Sandsteinplatte. Es roch nach feuchtem Laub. In seinem begrenzten Blickfeld tauchten mehrere lederverhüllte Füße auf, doch es blieb still. Niemand sprach. Der Schmerz, als ihm der Stahl in den Leib gefahren war, hatte bereits nachgelassen. Es fühlte sich nur noch wie ein dumpfes Pochen an. Widerstandslos hatte er sich auf den blutenden Bauch legen lassen. Grob hatte man ihm gegen die Fußknöchel getreten, sodass diese nun dicht beieinander lagen. Als jemand nach einem seiner Arme griff, um ihn in die richtige Position zu ziehen, geriet verschwommen der untere Teil einer Tätowierung in seinen Blick. Doch der Gedanke, dass er so etwas schon einmal gesehen hatte, zerfaserte sofort wieder. Es spielte sowieso keine Rolle mehr. Harald Schakenbeck wusste, dass er keine Möglichkeit mehr bekommen würde, jemandem davon zu erzählen. Sein Leben sickerte unwiederbringlich in die sandgefüllte Feuerstelle unter ihm, die früher von Pilgern der Klus genutzt worden war. Ganz kurz kam ihm in den Sinn, ob seine Seele nun vielleicht den legendären unterirdischen Saal zu sehen bekäme, den man der Sage nach nur mit einer magischen blauen Blume öffnen konnte. Der goldene Saal sollte sich doch irgendwo unter ihm befinden. Er war zu müde, den Gedanken weiter zu verfolgen. Die Geräusche um ihn herum wurden dumpf, als entfernten sie sich von ihm. Die ganze Welt schien sich von ihm zu entfernen, oder entfernte er sich von der Welt?

Er bedauerte, dass er und seine Frau nun auf all die gemeinsamen Reisen würden verzichten müssen, für deren Verwirklichung nach der Pensionierung sie so lange gespart hatten. Er bedauerte auch, dass sein Tod ausgerechnet drei Tage vor Weihnachten geschah und seine Familie darunter besonders würde leiden müssen.

Seine Verwunderung über das, was hier passierte, hielt sich in Grenzen. Eigentlich hatte er immer geahnt, dass er für seine Jugendsünde irgendwann würde bezahlen müssen. Allerdings konnte er sich nicht erklären, wie der Mann diese Nacht vor dreißig Jahren überlebt haben konnte. Noch weniger verstand er, warum der sich dann mit seiner Rache so lange Zeit gelassen hatte. Was Harald und achtzehn weitere junge Männer damals getan hatten, war der Grund für das hier. Und es war bestimmend für sein ganzes weiteres Leben gewesen. Er hatte geglaubt, einen Menschen getötet zu haben, und hatte dreißig Jahre dafür gebüßt – auf den Tag genau dreißig Jahre.

Die Fragen, die ihm dieser Mann jetzt stellte, konnte Schakenbeck gar nicht einordnen. Gerade er musste doch die Antworten kennen. Die Antwort nach dem Warum der Jagd auf ihn vor dreißig Jahren. Harald Schakenbeck hatte seinen Henker nur völlig verständnislos angeblickt und geflüstert: »Du hast sie vergewaltigt und gebrochen. Wieso stellst du mir so eine Frage?«

Noch verwirrter war er, als den Schmerz sah, den er mit dieser Aussage bei seinem Gegenüber hinterließ. Während des bizarren Verhörs hatte Harald Schakenbeck kaum den Blick von dem Schwert wenden können. Man hatte ihn gezwungen, niederzuknien, die Marienkapelle im Rücken, eine riesige Linde vor ihm. Und vor dieser Linde wartete sein Henker mit dem Schwert, als sei der Klus in dieser Nacht wieder zum Thingplatz geworden. Harald Schakenbeck hatte in sein eigenes Gesicht geblickt, das sich in der glänzenden Scheide des Schwertes spiegelte. Die Blutrinne in der Mitte hatte sein Spiegelbild in zwei Hälften geteilt, die nicht richtig zusammenzupassen schienen. Harald war in diesem Augenblick davon überzeugt gewesen, in dem Schwert sein wahres Antlitz zu sehen. Vor dreißig Jahren war er selbst bereit gewesen, zu töten. In den folgenden dreißig Jahren hatte er versucht, dieses Unrecht an anderen Menschen wiedergutzumachen. Seine Persönlichkeit wies zwei Seiten auf. Dann verschwand das Bild. Sein Inquisitor hatte das Schwert gehoben, es einmal kreisen lassen und dann zugestoßen.

Harald Schakenbeck starb mit dem Gesicht seiner Frau vor dem inneren Auge.

Kapitel 15


Lieber sterben als tatenlos altern.

– Maxime der Kelten nach Silius Italicus –

Hochbefriedigt zog Tilla die schützenden Plastikfolien von ihren Möbeln. Farbeimer und Pinsel hatte sie bereits in den Keller gebracht. Sie blickte sich um. Alle Wände erstrahlten in jungfräulichem Weiß, während zuvor Beige-Töne und gemusterte Tapeten das Wohnzimmer dominiert hatten. Ein Halogenstrahlersystem sorgte nun für gleißende Helligkeit. Energisch rückte sie den großen Schreibtisch an die Stelle, wo zuvor der kleinere provisorische Tisch gestanden hatte. Den hatte Tilla mit einem Anstrich und einer neuen Holzplatte aus dem Baumarkt bis zur Unkenntlichkeit verändert. Er diente nunmehr einigen Bürogeräten als Standort. Die Ostseite des Wohnzimmers war zum Arbeitszimmer geworden. Ein modernes Regal teilte den Arbeitsbereich vom Wohnzimmerbereich ab, der mit einem hellen Sofa, Großmutter Leandras Sessel, einer futuristischen Leseleuchte und einem Fernseher bestückt war. Einzige zarte Farbtupfer bildeten zwei Aquarelle, die Tilla gerade aufgehängt hatte. Sie zeigten Landschaften des fernen Wales. Tillas Großmutter Leandra hatte sie gemalt. Gerne hätte Tilla noch einige von den farbenfrohen, märchenhaften Bildern ihrer Mutter aufgehängt, doch sie hatte sie nirgends finden können. Auch sie waren verschwunden, genau wie die Fotos.

Obwohl der vorangegangene Tag nach Kerzenlicht und etwas Yulschmuck verlangt hätte, deutete in Tillas Haus nichts auf das Fest der Wintersonnenwende hin. Mit grimmiger Befriedigung stellte Tilla fest, dass nun nicht nur ihr Leben aus diesem Haus verbannt worden war, sondern auch das ihrer Mutter. Prompt fragte sie sich erneut nach dem Warum. Jetzt, wo der Schmerz darüber ein wenig nachgelassenen hatte, begann sie zu ahnen, dass diese Merkwürdigkeit einen Grund gehabt haben musste.

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und schloss ihren Computer an. Paris thronte auf dem Fensterbrett und döste. Die Katze hatte die Umstrukturierung des Wohnzimmers problemlos angenommen, denn ihr Lieblingsplatz, das Fensterbrett, war von Tillas wildem Aktionismus verschont geblieben. Tilla strich Paris über den Rücken. Das Tier antwortete mit wohligem Schnurren und dem kurzen Strecken der Pfoten. Als Tilla die Hand zurückzog, fuhren ihre Finger über den groben Stein, der auf der Ecke ihres Schreibtisches stand. Tilla drehte ihn langsam herum. Sie hatte ihn von ihrer Mutter zum zwölften Geburtstag bekommen. Er sah aus wie eine Miniausgabe von Brocken, Achtermann und Wurmberg. Ihr kleines ›Gebirge‹ war durch eine Bruchstelle an der Unterseite völlig eben. Eine Seite des Minigebirges zierte eine versteinerte Muschel, auf der anderen Seite war eine senkrechte Linie zu sehen, an die sich ein nach links offenes V anfügte. Zusammengenommen ergaben diese zufälligen Linien die Thurisaz-Rune.

Versonnen drehte Tilla den Stein hin und her. Unter all den Geburtstagsgeschenken – an die anderen erinnerte sich Tilla nicht einmal mehr – war dieser Stein für sie das wertvollste gewesen. Ihre Mutter und sie hatten damals einen Ausflug zur Burg Lichtenberg in Salzgitter gemacht. Viel mehr als für die Ruinen der Burg hatte sich Tilla für einen Steinbruch in der Nähe interessiert, wo in einer längst vergangenen Warmzeit tausende von Jahren zuvor das Wasser der Nordsee gegen die Kalkfelsen geschwappt war. Muscheln, Pflanzen und kleineres Ufergetier waren in Sand und Schlick zurückgeblieben. Die mittlerweile versteinerten Schätze hatten die Zeit von schützendem Kalkstein umschlossen bis zur Gegenwart überdauert und Tilla hatte an diesem Tag nach Herzenslust Archäologin spielen dürfen.

Ihr Zeigefinger zeichnete versonnen die Thurisaz-Rune nach. Ihre Mutter und sie hatten an diesem wirklich schönen Tag ihr Runenspiel betrieben. Immer wenn sie Ästchen auf dem Weg sahen, die Ähnlichkeit mit Runen hatten, orakelten sie das Zukünftige und Hedera hatte immer hübsche Geschichten zu den Runen parat gehabt. In der Nacht zu Tillas Geburtstag hatte Hedera ihr den Stein auf ihren Nachttisch gestellt. Zwar war Tillas Mädchenzimmer im Obergeschoss inzwischen ein unpersönliches Gästezimmer, doch hatte der Stein noch immer auf dem Nachtschränkchen gestanden. Es war, als versuche dieses urige Objekt mehr Wohlwollen in Tillas Erinnerung zu bringen, mit gewissem Erfolg.

Sie riss sich von seinem Anblick los und wandte sich endlich dem Manuskript zu, das sie zu übersetzen hatte. Mittlerweile saß Tilla täglich vor ihrem Computer und widmete sich mit großem Elan der Übersetzung von Borderfelds Texten, die mit schöner Regelmäßigkeit in dicken Versandtaschen eintrafen. Die Bezahlung war für Tillas Verhältnisse geradezu fürstlich. Nur Borderfelds unangemeldete Besuche waren Tilla unangenehm. Sie vermittelten ihr stets das Gefühl, kontrolliert zu werden. Doch Tilla schob den Gedanken beiseite, ihr Leben erhielt durch Borderfeld wohltuend Struktur. Mittlerweile tüftelte sie sogar an einer Homepage herum, in der sie ihre Dienste als Übersetzerin anbieten wollte.

Nach den Tagen körperlicher Arbeit hatte sie nun Schwierigkeiten, zu konzentriertem Arbeiten zurückzufinden. Vielleicht lag es auch an dem Farbgeruch, der noch immer in der Luft lag. Tilla drehte sich auf ihrem Schreibtischstuhl hin und her. Die Linde, auf deren ausladende Silhouette sie durch das große Wohnzimmerfenster aus blicken konnte, zeigte schlafende, dunkle Äste. Gedankenverloren zupfte sie an den neuen Texten von Borderfeld herum, die neben dem Runenstein lagen. Zwischen den Bögen entdeckte sie angegraute Kopien alter Handschriften, zum Teil in altdeutscher Schrift. Sie ahnte, dass diese Übersetzungen nicht einfach werden würden.

Sie zog eines der Blätter heraus und erkannte, dass es sich um einen Briefwechsel handelte, dessen Verfassernamen sie allerdings nirgends finden konnte. Es ging um eine sagenhafte Insel im hohen Norden, auf der Menschen mit besonderen Fähigkeiten gelebt haben sollten. Es fielen Begriffe wie: Thule, außergewöhnliche technische Errungenschaften, Verbindung mit dem Kosmos, Magie und psychische Energien – alles mit nach Tillas Geschmack reichlich überspannten Adjektiven. »Was ist das denn für ein Unsinn«, murmelte sie ungnädig.

Das Schriftstück stammte eindeutig aus der Vergangenheit. Offensichtlich tauschten sich hier zwei einander sehr vertraute Menschen recht überschwänglich aus. Tillas Blick huschte über die Zeilen und stieß sich an Ausdrücken wie ›arischer Stamm‹ und ›Wurzelrasse‹. Ihr Selbst schloss sich augenblicklich zu einem unsichtbaren Panzer der Abscheu, dennoch las sie weiter.

… nach der großen Katastrophe kehren die Auswanderer aus der Wüste Gobi zurück und bilden den arischen Stamm, die Grundrasse der Menschheit. Ihre Mitglieder werden die Weltherrschaft erringen. Sie alle müssen sich der Gesellschaft beweisen und ihre Fähigkeit zu herrschen zeigen, entscheiden, wer lebt und wer stirbt …

Tilla schüttelte sich und blätterte weiter.

… Lieber Freund, sei versichert, die Rituale des inneren Ringes eröffnen dir Welten des eigenen Bewusstseins, welches gegen alle Gefahr gefeit. Die Rituale ermöglichen eine höhere Stufe der Wahrnehmung. Sie sichern dem die Macht, der diese Stufe erreicht hat. Der großartige Niccolò Macciavelli sah den größten Feind natürlicher Macht im Unbeherrschbaren, c’est la Fortune. Doch wir, lieber Freund, sind in Begriff, das fünfte Element zu erforschen! Feuer, Erde, Wasser, Luft – jene vier Elemente, welche trefflichst von Aristoteles beschrieben, aber das fünfte Element ist der sie verbindende Geist, die Magie, das Wyrdh, beherrscht von einer kleinen Anzahl ganz besonderer Menschen. Frauen, weise Frauen, welche die wahren Träger der germanischen Kultur sind! Viele von ihnen sind bereits dem meuchelnden Anschlag durch die katholische und auch die jüdische Religion erlegen. Doch wir stehen kurz davor, die losen Enden, welche sinnentleert im Lauf der Geschichte baumeln, wiederzufinden. Und nun, lieber Freund, verstehst du, warum der Führer so danach strebt, das Elend der Vernichtung unseres wahren Glaubens zu erforschen. Unvorstellbare Quellen des Wissens hat er bereits zusammentragen lassen …

Das Klingeln ihres Telefons ließ sie zusammenzucken. Etwas fahrig griff sie nach dem Hörer und meldete sich mit Namen.

»Wie gefallen Ihnen die Texte?«, hörte sie Borderfeld sagen. Zwischen ihren Augen bildete sich eine steile Falte.

»Ich habe gerade erst einen flüchtigen Blick darauf geworfen«, antwortete sie ausweichend. Warum wurde ihr immer so unwohl, wenn sie mit diesem Mann Kontakt hatte? »Wie schnell erwarten Sie die Texte denn?«

»Oh, ich bin mir sicher, Sie interessieren sich genauso sehr dafür wie ich und werden sie wie immer alsbald fertig haben. Ich bewundere die Disziplin und die Geschwindigkeit, mit der Sie arbeiten.«

Sein Lob mehrte ihr Unbehagen. Woher wusste er, dass sie diszipliniert arbeitete? Er war nicht der Typ, der leere Worte absonderte, um der Höflichkeit genüge zu tun. Beobachtete er sie? Tilla versuchte mit Macht die Paranoia zurückzudrängen, die sie immer öfter befiel, wenn sie mit Borderfeld Kontakt hatte. In geschäftsmäßigem Ton antwortete sie: »Vielen Dank. Ich werde mich auch weiterhin bemühen, zu Ihrer Zufriedenheit zu arbeiten. Welchem Zweck dienen diese Texte?«

Er ignorierte ihre Frage. »Sie werden demnächst weitere interessante Aufträge von mir erhalten. Ich melde mich wieder. Einen schönen Tag noch, Tilla.«

Alles in ihr wehrte sich dagegen, dass er dazu übergegangen war, ihren Vornamen zu benutzen. Doch sie mahnte sich immer wieder, dies nicht überzubewerten. Im englischen Sprachraum und auch in der globalisierten Geschäftswelt war dies schließlich durchaus üblich. Aber das war nicht das Einzige, was sie irritierte. Den Hörer in der sinkenden Hand starrte Tilla aus dem seitlichen Wohnzimmerfenster. Dann spurtete sie los, stürmte durch die Haustür den unbefestigten Schotterweg hinab, bis sie die Straße sehen konnte. Borderfeld hatte eindeutig von einem Handy aus telefoniert. Sie war sich sicher, hinter seiner Stimme und seinen Schritten das Geräusch eines anfahrenden Busses gehört zu haben. Die Straße machte einen Bogen. Tilla unterdrückte ihren keuchenden Atem für einen Moment und horchte. Sie war sich sicher, den Bus noch zu hören, der nun nach Stapelburg fuhr. Unsicher blickte sie sich um. Borderfeld sah sie nicht.

Nachdenklich kehrte sie zurück ins Haus und an ihren Schreibtisch. Sie war sicher, er war in der Nähe und beobachtete sie. Sie blickte unwohl aus dem Fenster hinaus zum Wald. Er war winterlich kahl, Borderfeld könnte sie vom Weg aus sehen.

Das Päckchen mit den neuen Texten hatte bereits am vorangegangenen Abend unter dem Postschlitz in ihrem Flur gelegen. Tilla zog sich den Abfallkorb heran und fischte die braune Packtasche heraus. Stirnrunzelnd registrierte sie, dass auch dieses Mal Briefmarke oder Stempel fehlten. Abgesehen von ihrer eigenen Adresse erstrahlte die Versandtasche in leerem, jungfräulichem Lehmbraun. Von einer Postzustellung schien er nichts zu halten. Er musste es persönlich durch ihren Briefschlitz geschoben haben. Wieder einmal wurde ihr unangenehm bewusst, dass sie absolut gar nichts von ihm wusste. Auf der Suche nach einem Hinweis glitt Tillas Blick über die akkuraten, handgeschriebenen Druckbuchstaben auf der Versandtasche. Alle waren exakt gleich groß und in gleichem Winkel. Selbst die Schrift dieses Mannes war so undurchsichtig und individualitätslos wie er selbst. Ungehalten knüllte sie den Umschlag zusammen und warf ihn zurück in den Papierkorb.

Ohne sein Geld hätte Tilla nicht einmal dieses Haus unterhalten können, dessen Bausubstanz völlig frei von Extravaganzen wie Wärmedämmung und dergleichen war. Von den Führungen allein konnte sie nicht leben. Tilla starrte leer auf ihr Skript. Sie war es ihrer Mutter schuldig, wenigstens das Haus zu erhalten. Ein weiteres Scheitern konnte sie sich nicht erlauben. Es war niemand mehr da, der sie auffing.

»Er zahlt gut. Das sollte reichen! Dafür kann er auch gern vor meiner Tür campieren!«, beschimpfte sie sich selbst und beschwor einem Mantra gleich ihre neue, distinguierte Persönlichkeit einer erfolgreichen Freiberuflerin herauf. Gehörte nicht dazu, dass sie sich einfach endlich mal daran gewöhnen musste, zu tun, was man ihr sagte? War das nicht immer so in der Arbeitswelt? Unwillig schob sie den Stapel von Texten zur Seite und zog sich stattdessen den aktuell zu übersetzenden Text heran. Sie hatte heute die erste Führung im Rammelsbergmuseum und musste gleich los. Bis dahin wollte sie mit einem ersten groben Durchgang fertig sein, bevor der Text am Abend den Feinschliff erhielt.

Als sie eine Stunde später in ihren Wagen stieg und das Autoradio anstellte, folgte ihr Geist zunächst zögernd, dann jedoch immer entsetzter den Worten des Radiomoderators, der von einem übel zugerichteten Toten berichtete, den man am Klusfelsen in Goslar gefunden hatte.

»Heilige Göttin! Auch noch am Klusfelsen«, murmelte sie. »Man könnte meinen, dass Odin und seine wüsten Gesellen die Raunächte eröffnet haben.«

Nachdenklich bog Tilla vor dem breiten Tor ab. Nur langsam kehrten ihre Gedanken zu dem zurück, was vor ihr lag. Das Bergwerk hatte einige weihnachtliche Events auf dem Programm, bei denen Tilla eingeplant war. Eigentlich war sie recht zufrieden mit ihrem Leben. Eigentlich …

379,79 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
594 стр. 8 иллюстраций
ISBN:
9783947167081
Издатель:
Правообладатель:
Автор
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