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Yang:

 Schützen: Der erste Schritt in Richtung Selbstmitgefühl ist das Gefühl, sicher und geschützt zu sein. Schützen bedeutet, Nein zu Menschen zu sagen, die uns verletzen, oder zu den Verletzungen, die wir uns selbst auf unterschiedlichste Arten zufügen.

 Versorgen: Versorgen bedeutet, dass wir uns selbst geben, was wir wirklich brauchen. Zuerst müssen wir wissen, was wir brauchen, dann Ja dazu sagen; und dann können wir versuchen, unsere Bedürfnisse zu erfüllen.

 Motivieren: Wir alle haben Verhaltensmuster, die uns nicht mehr dienen und die wir loslassen müssen; und wir haben Träume und Ziele, die wir verwirklichen wollen. Selbstmitgefühl motiviert wie ein guter Coach durch Ermutigung, Unterstützung und Verständnis – nicht durch harsche Kritik.

Das Yin des Selbstmitgefühls hilft uns, das Kämpfen aufzugeben und einfach mit offenem Herzen für uns selbst da zu sein. Eine gute Metapher für Yin-Selbstmitgefühl ist eine Mutter oder ein Vater, die oder der ein weinendes Kind in den Armen wiegt. Wenn wir uns verletzt oder unzulänglich fühlen, können wir auf liebevolle Weise mit uns selbst Kontakt aufnehmen, unseren Schmerz anerkennen und uns als die annehmen, die wir sind. Das Yang des Selbstmitgefühls bringt seine Handlungsenergie ein. Eine gute Metapher ist »Mama-Bär«, die ihre Jungen bei Bedrohungen schützt oder Fische fängt, um sie zu füttern, oder ihnen darüber hinaus noch mehr zu geben bereit ist. Yang-Selbstmitgefühl kann beherzt und kraftvoll sein – wir ziehen Grenzen, sagen Nein, stehen für uns selbst ein. Wir setzen uns für die Erfüllung unserer eigenen emotionalen, physischen und spirituellen Bedürfnisse ein, wohl wissend, dass sie wichtig sind. Wir üben konstruktive Kritik, um Veränderungen anzustoßen, weil wir uns selbst »am Herzen liegen« und nicht leiden wollen, und nicht, weil wir fürchten, nichts wert zu sein.

Die Frage ist: »Was brauche ich jetzt?« Manchmal müssen wir aufstehen und entschlossen in der Welt handeln, und manchmal müssen wir uns auf sanfte, liebevolle Weise uns selbst zuwenden. Oft brauchen wir beides. Als Selbstmitgefühl Praktizierende können wir die verschiedenen Qualitäten des Mitgefühls im Sinn behalten und weise entscheiden, was wann gebraucht wird. Es ist sehr wichtig, dass wir sowohl die beherzten und kraftvollen als auch die sanften Seiten des Selbstmitgefühls würdigen. Wenn die Yin- und Yang-Aspekte des Selbstmitgefühls ausgewogen und integriert sind, manifestieren sie sich als fürsorgliche Kraft. Stärke erreicht mehr, wenn sie fürsorglich ist, weil sie sich auf die Linderung des Leidens konzentriert. Das ist die Botschaft großer Vorbilder wie Gandhi, Mutter Teresa oder Martin Luther King jr., die auf mitfühlendes Handeln setzten, um gesellschaftlichen Wandel zu bewirken. Wir können diese Kraft auch nach innen richten, indem wir Yin- und Yang-Selbstmitgefühl einsetzen, um mit Schwierigkeiten fertigzuwerden, innere Stärke zu entwickeln und wahren Frieden und Glück zu finden.

Die Wurzeln des Selbstmitgefühls

Paul Gilbert (2009), der die Entwicklung des Selbstmitgefühls aus der Perspektive der evolutionären Psychologie betrachtet, vertritt die These, dass unsere Art und Weise, mit uns selbst in Beziehung zu treten, in unsere physiologischen Prozesse eingreift. So aktiviert Selbstkritik beispielsweise unser inneres Bedrohungssystem (das mit Bedrohungsgefühlen und der Erregung des sympathischen Nervensystems assoziiert wird). Die Amygdala ist eine der ältesten Strukturen unseres Gehirns und dient dazu, Gefahren in unserer Umgebung rasch zu erkennen. Wenn wir uns bedroht fühlen, sendet die Amygdala Signale aus, die den Blutdruck und die Adrenalinausschüttung sowie die Ausschüttung des Hormons Cortisol in den Blutstrom erhöhen, und mobilisiert dadurch Kräfte, die wir benötigen, um uns der Bedrohung zu stellen oder ihr auszuweichen. Obwohl dieses System evolutionär darauf ausgelegt war, mit äußeren, physischen Gefahren fertigzuwerden, wird es ebenso leicht aktiviert, wenn unser Selbstbild bedroht wird. Selbstkritik ist eine kontraproduktive Art, gegen innere Herausforderungen anzukämpfen, die unsere Selbstachtung bedrohen. Und da wir, wenn wir Selbstkritik üben, gleichzeitig der Angreifer und der Angegriffene sind, kann das sympathische Nervensystem besonders stark aktiviert werden.

Im Gegensatz dazu wird, wie Gilbert (2009) argumentiert, Selbstmitgefühl oft mit der Fürsorge von Säugetieren assoziiert (­Selbstberuhigung, Gefühle der Zugehörigkeit und Sicherheit und Aktivierung des parasympathischen Nervensystems). Im Vergleich mit Reptilien besteht der evolutionäre Fortschritt der Säugetiere darin, dass deren Junge sehr unreif geboren werden und dadurch eine längere Entwicklungsphase durchmachen müssen, um sich an ihre Umwelt anzupassen. Säugetiere haben die Fähigkeit, Unterstützung, Schutz und Fürsorge zu gewähren und zu empfangen, was bedeutet, dass Eltern ihre Kinder nicht sofort nach der Geburt zurücklassen würden und Kinder sich nicht allein in die gefährliche Wildnis begeben würden (Wang, 2005). Die Fähigkeit, Zuneigung und Verbundenheit zu spüren, ist Teil unserer biologischen Natur. Wir sind darauf ausgelegt, fürsorglich zu sein.

Wir können die verschiedenen Elemente des Selbstmitgefühls im Rahmen eines Gleichgewichtszustandes zwischen dem sympathischen und dem parasympathischen Nervensystem sehen (siehe Kapitel 3), die, wie wir wissen, als Gegenspieler ständig interagieren (Porges, 2007). Selbstverurteilung, Isolation und Überidentifikation können als Stressreaktion betrachtet werden, die nach innen gerichtet wird, wenn unser Selbstbild bedroht ist. Selbstverurteilung ist die Kampfreaktion in Form von Selbstkritik und Angriffen gegen das Selbst. Isolation entspricht der Fluchtreaktion – dem Wunsch, vor anderen zu fliehen und sich schamvoll zu verstecken. Überidentifikation kann als die Erstarrungsreaktion betrachtet werden, bei der wir um uns selbst kreisen und in endlosem Grübeln über unsere eigene Unwürdigkeit stecken bleiben. Andererseits können Selbstfreundlichkeit, das Anerkennen der Erfahrung gemeinsamen Menschseins und Achtsamkeit als Faktoren gesehen werden, die angesichts von Bedrohungen ein Gefühl der Sicherheit erzeugen. Freundlichkeit gegenüber uns selbst bedeutet, uns selbst zu schützen, fürsorglich zu behandeln und zu unterstützen, wodurch der selbstkritischen Kampfreaktion entgegengewirkt wird. Das Empfinden einer Erfahrung gemeinsamen Menschseins erzeugt Gefühle der Verbundenheit und Zugehörigkeit und wirkt der trennenden Fluchtreaktion entgegen. Selbstmitgefühl bringt auch Achtsamkeit mit sich, die es uns ermöglicht, die Dinge mit neuen Augen zu sehen und flexibler darauf zu antworten, was wiederum der Erstarrungsreaktion (Überidentifikation) entgegenwirkt (Creswell, 2015; Tirch, Schoendorff und Silberstein, 2014). Natürlich findet eine umfassende Interaktion zwischen allen Elementen des Systems statt, und sicher ist dies ein vereinfachtes Modell. Tatsächlich zeigt die Forschung, dass es keinen wesentlichen Unterschied zwischen den verschiedenen Aspekten des Selbstmitgefühls gibt hinsichtlich der Assoziierung mit Markern einer verringerten Reaktion des Sympathikus (zum Beispiel Alphaamylase, Interleukin-6) nach einer stressigen Situation (Neff, Long et al., 2018) oder mit vagusvermittelter Herzfrequenzvariabilität, einem Marker für eine gesteigerte parasympathische Reaktion (Svendsen et al., 2016). Wie Porges (2003) deutlich macht, interagieren die beiden Elemente des autonomen Nervensystems in ihrem Zusammenspiel als Ganzes.

In welchem Verhältnis stehen Selbstmitgefühl und Selbstwertgefühl?

Es ist wichtig, zwischen Selbstmitgefühl und Selbstwertgefühl zu unterscheiden, weil beides oft miteinander verwechselt wird (Neff, 2011b). Selbstwertgefühl bezieht sich auf das Ausmaß unserer positiven Selbstbewertung und beruht oft auf dem Vergleich mit anderen (Harter, 1999). Es besteht ein allgemeiner Konsens darüber, dass ein hohes Selbstwertgefühl eine wesentliche Voraussetzung für psychische Gesundheit ist, während ein Mangel an Selbstachtung das Wohlbefinden untergräbt und die Entstehung von Depressionen, Angstzuständen und anderen pathologischen Zuständen fördert (Leary, 1999). Es gibt jedoch potenzielle Probleme mit einem hohen Selbstwertgefühl – nicht, es zu haben, sondern es zu bekommen und aufrechtzuerhalten (Crocker und Park, 2004).

In der amerikanischen Kultur ist die Voraussetzung für ein hohes Selbstwertgefühl, dass man sich von der Masse abhebt – dass man ­besonders und überdurchschnittlich ist (Heine, Lehman, Markus und ­Kitayama, 1999). Wie fühlen Sie sich, wenn jemand Ihre Arbeitsleistung, Ihre Erziehungsfähigkeiten oder Ihre Intelligenz nur als durchschnittlich bewertet? Autsch! Das Problem dabei ist allerdings, dass unmöglich alle gleichzeitig überdurchschnittlich sein können. Während wir vielleicht in einigen Bereichen glänzen, gibt es immer jemanden, der attraktiver, erfolgreicher und beliebter ist als wir; und das bedeutet, dass wir uns immer als Versager fühlen können, wenn wir uns mit denen vergleichen, die »besser« sind als wir.

Der Wunsch, sich selbst als überdurchschnittlich oder »besser« als andere wahrzunehmen, kann jedoch zu einem geradezu bösartigen Verhalten führen. Warum fangen Jugendliche an, andere zu schikanieren? Wenn ich als der coole, taffe Jugendliche im Gegensatz zu der Memme gesehen werde, auf der ich gerade herumgehackt habe, bekomme ich einen Selbstwertschub (Salmivalli, Kaukiainen, Kaistaniemi und ­Lagerspetz, 1999). Warum sind wir so voreingenommen? Wenn ich glaube, dass meine ethnische, geschlechtliche, nationale oder politische Gruppe besser ist als deine, bekommt mein Selbstwertgefühl weiteren Auftrieb (Fein und Spencer, 1997). Tatsächlich hat die Überbewertung des Selbstwertgefühls in der amerikanischen Gesellschaft zu einem beunruhigenden Trend geführt: Die Forscher Jean Twenge von der San Diego State University und Keith Campbell von der University of Georgia, die die Narzissmuswerte von Collegestudenten seit 1987 verfolgen, stellen fest, dass der Narzissmus heutiger Studenten auf dem höchsten Niveau ist, das jemals gemessen wurde (siehe Twenge, Konrath, Foster, Campbell und ­Bushman, 2008). Obwohl Narzissten über ein extrem hohes Selbstwertgefühl verfügen, haben sie auch ein überhöhtes Anspruchsdenken und ein aufgeblasenes, unrealistisches Selbstbild, das andere mit der Zeit abschreckt (Twenge und Campbell, 2009). Die Wissenschaftler führen die Zunahme des Narzissmus auf wohlmeinende, aber fehlgeleitete Eltern und Lehrer zurück, die den Kindern erzählen, wie besonders und großartig sie sind, um deren Selbstachtung zu stärken.

Selbstmitgefühl unterscheidet sich klar von Selbstwertgefühl. Obwohl beides stark mit psychischem Wohlbefinden verbunden ist, basiert hohes Selbstwertgefühl auf einer positiven Bewertung des eigenen Wertes, während Selbstmitgefühl weder ein Urteil noch eine Bewertung enthält. Stattdessen ist Selbstmitgefühl eine Art, der sich ständig verändernden Landschaft unseres Selbst mit Freundlichkeit und Akzeptanz zu begegnen – besonders wenn wir scheitern oder uns unzulänglich fühlen.

Das Selbstwertgefühl ist von Natur aus fragil, es steigt und fällt mit unserem jüngsten Erfolg oder Misserfolg (Crocker, Luhtanen, Cooper und Bouvrette, 2003). Selbstwertgefühl ist ein Gutwetterfreund, der in guten Zeiten für uns da ist, uns aber im Stich lässt, wenn sich das Blatt wendet. Selbstmitgefühl ist dagegen immer für uns da, es ist eine zuverlässige Quelle der Unterstützung, wenn unsere weltlichen Aktien abgestürzt sind.

Es schmerzt zwar trotzdem, wenn unser Stolz verletzt wird, aber wir können, gerade weil es schmerzt, freundlich zu uns sein: »Puh, das war ziemlich demütigend. Ich bin wirklich sehr traurig darüber. Aber es ist okay, solche Dinge passieren einfach.«

Selbstwertgefühl setzt voraus, dass wir uns besser als andere fühlen, während Selbstmitgefühl einfach nur die Anerkennung der Tatsache voraussetzt, dass wir den menschlichen Zustand der Unvollkommenheit miteinander teilen. Das bedeutet, dass wir uns nicht besser fühlen müssen als andere, um uns mit uns selbst gut zu fühlen. Selbstmitgefühl bietet auch mehr emotionale Stabilität als Selbstwertgefühl, weil es immer für uns da ist – wenn wir ganz oben sind und auch wenn wir auf die Nase fallen. Selbstmitgefühl ist ein Freund »zum Mitnehmen«, auf den wir uns immer verlassen können, in guten wie in schlechten Zeiten.

Die üblichen Vorbehalte gegenüber Selbstmitgefühl

In unserer westlichen Kultur gibt es viele Widerstände gegenüber dem Selbstmitgefühl, die oft aus falschen Vorstellungen über seine Bedeutung und seine Konsequenzen resultieren (Robinson et al., 2016). In Kapitel 3 werden Forschungsergebnisse vorgestellt, die mit diesen falschen Vorstellungen aufräumen, aber es lohnt sich, an dieser Stelle einmal über die häufigsten Einwände gegen Selbstmitgefühl nachzudenken.

Ein weitverbreitetes Missverständnis ist, Selbstmitgefühl sei egoistisch. Viele Menschen sind der Meinung, wir würden, wenn wir Zeit und Energie aufwenden, um freundlich und fürsorglich mit uns selbst umzugehen, automatisch alle anderen für unsere selbstsüchtigen Ziele vernachlässigen. Aber ist Mitgefühl wirklich ein Nullsummenspiel? Denken Sie an die Zeiten, in denen Sie sich in den Wirren der Selbstkritik verloren haben. Sind Sie in solchen Momenten auf sich selbst fokussiert oder auf andere? Haben Sie in solchen Zeiten mehr oder weniger Ressourcen zur Verfügung, um anderen etwas zu geben? Die meisten Menschen finden, dass sie, wenn sie damit beschäftigt sind, über sich selbst zu urteilen, tatsächlich kaum noch Kapazitäten frei haben, um an irgendetwas anderes zu denken als an ihr vermeintlich unzulängliches, wertloses Selbst.

Leider geht das Ideal, bescheiden und zurückhaltend zu sein und sich um das Wohlergehen anderer zu kümmern, oft mit einer Tendenz einher, sich selbst schlecht zu behandeln. Das gilt ganz besonders für Frauen. Man hat festgestellt, dass sie ein etwas geringeres Maß an Selbstmitgefühl haben als Männer, während sie tendenziell fürsorglicher, empathischer und großzügiger gegenüber anderen sind (Yarnell et al., 2015). Vielleicht ist das nicht so überraschend, wenn man bedenkt, dass die herkömmliche Sozialisation von Frauen darauf ausgerichtet war und ist, sich selbstlos um ihren Partner, ihre Kinder, ihre Freunde und ihre alten Eltern zu kümmern, man ihnen aber weniger oder nicht beigebracht hat, gut für sich selbst zu sorgen. Während die feministische Revolution den Frauen mehr Freiräume eröffnet hat und wir heute durchaus mehr weibliche Führungspersönlichkeiten in Wirtschaft und Politik sehen als je zuvor, ist die Vorstellung, dass Frauen selbstlose Betreuerinnen sein sollten, nicht wirklich verschwunden. Es ist nur so, dass von Frauen heutzutage erwartet wird, zusätzlich zu ihrer Aufgabe als häusliche Versorgerin im Beruf erfolgreich zu sein.

Die Ironie dabei ist, dass uns gerade dann, wenn wir gut zu uns selbst sind, die emotionalen Ressourcen zur Verfügung stehen, um gut zu anderen sein zu können, während ein unfreundlicher Umgang mit uns selbst dem eher im Wege steht. So zeigt beispielsweise die Forschung, dass Menschen, die Mitgefühl mit sich selbst haben, von ihren Partnern als fürsorglicher und liebevoller in der Beziehung wahrgenommen werden (Neff und Beretvas, 2013). Das ist plausibel. Wenn ich mich selbst schlecht behandle und von meiner Partnerin oder meinem Partner erwarte, dass er all meine emotionalen Bedürfnisse erfüllt, werde ich mich schlecht verhalten, sofern sie nicht erfüllt werden. Bin ich aber in der Lage, mir selbst Unterstützung und Fürsorge zu geben und somit viele meiner Bedürfnisse direkt zu erfüllen, habe ich mehr emotionale Ressourcen zur Verfügung und kann meinem Partner oder meiner Partnerin mehr geben.

Ein anderer weitverbreiteter Irrtum über Selbstmitgefühl ist die Vorstellung, es bedeute, dass wir uns selbst leidtun – dass es nur eine andere Form von Selbstmitleid sei. Tatsächlich ist Selbstmitgefühl aber ein Mittel gegen Selbstmitleid und gegen die Angewohnheit, sich über Unglück zu beklagen. Aber nicht, weil Selbstmitgefühl bedeuten würde, alles Schlimme auszublenden, sondern weil es unsere Bereitschaft erhöht, schwierige Gefühle mit liebevoller Güte anzunehmen, zu durchleben und anzuerkennen – was uns paradoxerweise hilft, das, was uns widerfuhr, zu verarbeiten und weiterzumachen. Menschen, die Mitgefühl mit sich selbst haben, verlieren sich seltener in selbstmitleidigen Gedanken darüber, wie schlimm alles ist (Raes, 2010). Das scheint einer der Gründe zu sein, warum selbstmitfühlende Menschen sich einer besseren psychischen Gesundheit erfreuen. Während beim Selbstmitleid egozentrische Gefühle des Getrenntseins im Vordergrund stehen und das Ausmaß der persönlichen Not übertrieben wird, können wir durch Selbstmitgefühl unser eigenes Leiden mit dem anderer verbinden. Es weicht die inneren Grenzen zwischen uns und anderen auf, statt sie zu verstärken. Darüber hinaus trägt die Anerkennung der Erfahrung gemeinsamen Menschseins dazu bei, unsere eigene Situation zu relativieren. Das bedeutet nicht, dass wir die Realität unseres eigenen Leidens verleugnen; aber wenn wir das große Ganze betrachten, sind unsere Probleme vielleicht nicht so groß, wie wir denken.

Manche Menschen fürchten, Selbstmitgefühl sei ein Zeichen von Schwäche oder Feigheit oder zumindest von Passivität. In diesem Fall wird das Empfinden von Mitgefühl mit »immer nett sein« verwechselt. Doch wie bereits erwähnt wurde, kann Selbstmitgefühl in seinem Yang-Aspekt sehr beherzt und kraftvoll sein und eine starke und resolute Haltung gegenüber allem einnehmen, was Schaden anrichtet. Anstatt eine Schwäche zu sein, ist Selbstmitgefühl eine wichtige Ressource der Bewältigung und Resilienz. Wenn wir große Lebenskrisen wie eine Scheidung, eine schwere Krankheit oder ein Trauma durchleben, macht Selbstmitgefühl den entscheidenden Unterschied im Hinblick auf unsere Fähigkeit, zu überleben und sogar angesichts widriger Umstände zu erstarken (Brion, Leary und Drabkin, 2014; Hiraoka et al., 2015; Sbarra, Smith und Mehl, 2012). Nicht nur das, womit wir im Leben konfrontiert werden, sondern wie wir mit uns selbst in Beziehung treten, wenn es hart auf hart kommt – als innere Verbündete oder Feinde –, bestimmt unsere Fähigkeit, Schwierigkeiten erfolgreich zu meistern.

Eine weitere falsche Vorstellung über Selbstmitgefühl ist die, dass es zu übertriebener Nachsichtigkeit führen könnte. Bedeutet Freundlichkeit gegenüber uns selbst denn nicht, dass wir uns geben, was wir wollen, und uns alles durchgehen lassen? (»Ich fühle mich traurig. Hm. Diese Packung Eiscreme sieht gerade ziemlich verlockend aus.«) Wir müssen uns daran erinnern, dass beim Selbstmitgefühl der Blick auf das Ziel gerichtet ist – die Linderung von Leiden. Übergroße Nachsicht führt hingegen dazu, dass wir uns kurzzeitiges Vergnügen gönnen, das uns langfristig schadet. Eine mitfühlende Mutter würde ihrer Tochter nicht einen Becher Eis nach dem anderen geben und ihr Kind nicht die Schule schwänzen lassen, wann immer es wollte, nicht wahr? Das wäre unangemessene Nachsichtigkeit. Stattdessen fordert eine mitfühlende Mutter ihr Kind auf, seine Hausaufgaben zu machen und sein Gemüse zu essen. Selbstmitgefühl vermeidet Genusssucht, weil diese uns schadet, während langfristiges Wohlergehen oft ein Aufschieben der Belohnung erfordert.

Viele Menschen zweifeln am Wert des Selbstmitgefühls, weil sie sich fragen: »Aber müssen wir denn nicht manchmal selbstkritisch sein?« In diesem Fall wird harte Selbstverurteilung mit konstruktiver Kritik verwechselt. Selbstmitgefühl verzichtet auf herabsetzende, demütigende Selbstverurteilung wie »Ich bin ein fauler, nichtsnutziger Loser«. Wenn wir uns selbst am Herzen liegen, werden wir konstruktive Wege finden, die Dinge besser zu machen. Solche Kritik bezieht sich jedoch immer auf konkrete Verhaltensweisen und geht nicht mit pauschaler Selbstverurteilung einher. Beispielsweise könnte eine mitfühlende innere Stimme sagen: »Die Tatsache, dass du seit sechs Monaten nicht im Fitnessstudio warst, hat dazu geführt, dass du dich müde und abgeschlagen fühlst. Vielleicht solltest du etwas daran ändern.« Das ist eine nutzbringendere Form der Rückmeldung als »Du bist ein fauler Hund!« (Und sicherlich weniger verletzend.) Oft bestimmt auch der Ton der Botschaft, ob eine Kritik konstruktiv oder destruktiv ist.

Da viele Menschen annehmen, Selbstmitgefühl sei nichts anderes als Selbstakzeptanz (Yin), ohne zu verstehen, dass es auch bedeutet, aktiv zu werden (Yang), fürchten sie, dass Selbstmitgefühl ihre Motivation, sich weiterzuentwickeln, untergraben würde. Sie denken, dass sie automatisch einem trägen Defätismus erlägen, wenn sie sich nicht dafür kritisierten, dass sie den Ansprüchen, die sie an sich selbst stellen, nicht gerecht geworden sind. Leider ist dies ein wichtiger Hinderungsgrund für Selbstmitgefühl. Aber denken wir einmal kurz darüber nach, wie mitfühlende Eltern ihre Kinder erfolgreich motivieren. Wenn Ihr jugendlicher Sohn eines Tages mit einer schlechten Englischnote nach Hause kommt, ­könnten Sie angewidert schauen und zischen: »Dummer Kerl. Aus dir wird nie etwas werden. Ich schäme mich für dich.« (Das lässt Sie zusammenzucken, nicht wahr? Aber es ist genau das, was wir zu uns selbst sagen, wenn wir die hohen Erwartungen, die wir an uns selbst haben, nicht erfüllen.) Anstatt Ihren Sohn zu motivieren, würde dieser kalte Guss der Beschämung höchstwahrscheinlich dazu führen, dass er das Vertrauen in sich selbst verliert, äußere Umstände verantwortlich macht (»Der Test war nicht fair«) und schließlich aufgibt.

Alternativ könnten Sie einen mitfühlenden Ansatz wählen, indem Sie sagen: »Oh, schade, bestimmt ärgerst du dich jetzt. Komm, lass dich umarmen. So was passiert uns allen mal. Aber wir müssen versuchen, deine Englischnoten zu verbessern; denn ich weiß ja, dass du studieren möchtest. Was kann ich tun, um dich zu unterstützen und dir zu helfen, damit du es beim nächsten Mal besser machst? Du schaffst das schon.«

Beachten Sie, dass hier das Scheitern ehrlich benannt wird, Mitgefühl für den Schmerz des Sohnes ausgedrückt wird und die Ermutigung folgt, über dieses momentane Schlagloch auf dem Weg hinaus oder darum herumzugehen. Im Idealfall wird ihm diese Art der mitfühlenden Reaktion helfen, sein Selbstvertrauen zu bewahren und sich emotional unterstützt zu fühlen. Sie vermittelt auch das Gefühl der Sicherheit, das er braucht, um genau anschauen zu können, wo der Hase im Pfeffer liegt (vielleicht hätte er mehr lernen und weniger Videospiele spielen sollen), sodass er aus seinen Fehlern lernen kann.

Das ist sicher leicht einzusehen, wenn wir an einen gesunden Umgang von Eltern mit ihren Kindern denken, aber es ist nicht so einfach, diese Logik auf uns selbst anzuwenden. Wir sind fast süchtig nach unserer Selbstkritik, und auf einer bestimmten Ebene denken wir, dass der Schmerz hilfreich ist.

Selbstkritik wirkt in dem Maße als Motivator, in dem wir von dem Wunsch getrieben werden, im Falle unseres Scheiterns eine Selbstverurteilung zu vermeiden. Wenn wir aber wissen, dass das Scheitern eine Flut von Selbstkritik nach sich ziehen wird, kann das manchmal zu ­beängstigend sein, um überhaupt einen Versuch zu wagen. Deshalb gibt es einen Zusammenhang zwischen Selbstkritik und schwachen Leistungen oder Strategien der Selbstsabotage (Powers, Koestner und Zuroff, 2007). Wir benutzen Selbstkritik auch als Mittel, um uns durch Beschämung zum Handeln zu bewegen, wenn wir mit persönlichen Schwächen konfrontiert werden. Dieser Ansatz geht jedoch nach hinten los, wenn Schwächen nicht anerkannt werden, um Selbstzensur zu vermeiden (Horney, 1950). Mit Selbstmitgefühl wollen wir jedoch aus einem ganz anderen Grund etwas erreichen: einfach, weil es uns am Herzen liegt. Man könnte sagen, dass die Motivation hinter dem Selbstmitgefühl Liebe ist, während die Motivation hinter der Selbstkritik Angst ist. Wenn wir uns wirklich wichtig sind, werden wir Dinge tun, um uns glücklich zu machen, wie beispielsweise herausfordernde neue Projekte anzugehen oder neue Fertigkeiten zu lernen. Und weil Selbstmitgefühl uns die Sicherheit gibt, die wir brauchen, um unsere Schwächen anzuerkennen, werden wir in einer besseren Ausgangsposition sein, um sie zum Besseren ändern zu können.

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9783867813242
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