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Wenn sie durch die Gänge des Funkhauses eilte, schwänzelte ihre Handtasche, mit den kurzen Trageriemen über die linke Schulter gestreift, wie die Flosse eines Fisches, der einem feindlichen Verfolger entkommen will. Immer in Eile, immer dicht an den Wänden der Flure, nie gelassenen Schritts in der Mitte des Weges. Wie Radarwellen sandte sie, daran hatten sich alle gewöhnt, keckernde Laute vor sich her. Wolff erinnerte diese Keckertonfolge an die Warnlaute eines Schiffs vor einer Flussbiegung.

Sie war jeden Tag apart gekleidet, nicht ganz nach dem Geschmack Wolffs, aber dennoch überlegt. Ihre Sturmfrisur war hochtoupiert, die Farbe schillernd zwischen kastanienbraun und rostrot. Begegnete sie Kolleginnen oder Kollegen in den Gängen und Treppenhäusern, nickte sie ihnen flüchtig zu, als würde sie ein kurzes Hallo in unzumutbarer Weise festlegen.

Wolff wusste, dass seine Kollegin über eine polyglotte Begabung verfügte. Sie sprach fließend Italienisch, Englisch, Spanisch, Kroatisch, Russisch und konnte sich sogar in einer skandinavischen Sprache akzentfrei verständigen. Er hatte sie früher um ihre verbale Eleganz beneidet, mit der sie vor großen Liveübertragungen der Europäischen Rundfunkunion das Publikum vieler Sender begrüßte. Es galt für sie das Privileg, bei besonders schwierigen Moderationen die im Schichtdienst tätigen und weniger versierten Stationssprecherinnen und Stationssprecher zu ersetzen. Fest stand: Vor dem Mikrofon keckerte sie nie. Vorher, wenn sie das Studio betrat: Ja. Nachher, wenn sie das Studio verließ: Ja. Sie keckerte, wenn sie nicht vor dem Mikrofon saß. Live in der Sendung aber funktionierte sie als ausgebildete multilinguale Sprecherin.

Wolff hatte in einem Humanistischen Gymnasium das große Latinum und das Graecum erworben, im Englischunterricht wurde Shakespeare übersetzt. Der Teacher trug stets ein kariertes Sakko, aus dessen Seitentasche eine Ausgabe der »Times« hervorlugte. Später hatte die Klasse entdeckt, dass es sich immer um die identische, längst nicht mehr aktuelle Ausgabe handelte, die der Teacher wohl mehr als Accessoire verstand, ein Signal seines Livestyles. Leicht ausgefranst, das Papier schon angegilbt. Als Wolff mehr als eineinhalb Jahrzehnte später in Manhattan einen Rabbi angesprochen hatte, um ihn nach der richtigen Subway Richtung Long Island zu fragen, grammatikalisch korrekt im Shakespeare-Sound, blickte der Rabbi ihn über die Ränder seiner Brille an und antwortete kurz: »Mit mir können Sie auch Deutsch reden!« Wolff hatte das kurze Gespräch als Niederlage empfunden, auch wenn die inhaltliche Auskunft des schwarzgekleideten Mannes völlig korrekt und hilfreich gewesen war. Seitdem versuchte er, wo immer es möglich war, Gespräche in einer anderen Sprache zu umgehen. In seinem Studium hatte er im ersten Semester außerdem das Hebraicum gemacht. Nun besaß er Kenntnisse in drei alten Sprachen, tat sich aber schwer, sich in den USA nach Verkehrsverbindungen zu erkundigen.

Wolff las ein paar E-Mails aus dem Haus. Jemand hatte geschrieben: »Ich gebe zu, dass ich den Chefredakteur nicht besonders mochte. Das lag weniger an mir als an ihm und seiner gelegentlich saugroben Haltung uns gegenüber, durch die er uns wissen ließ, dass er eine andere Hierarchieposition einnahm. Ihr Nachruf aber hat mir gezeigt, dass Steiger offensichtlich doch noch andere Seiten hatte. Das hat mich sehr beeindruckt, und deshalb schreibe ich Ihnen. Vielen Dank und: Chapeau!«

Eine Kollegin meinte, ihm mitteilen zu müssen, dass er, Wolff, dafür bekannt gewesen sei, Steiger nicht besonders zu schätzen. Der Nachruf aber in beiden Programmen und im Intranet sei objektiv und dem Chefredakteur zugewandt geschrieben. Wolffs Text habe sie deshalb tief berührt.

Wolff löschte beide Nachrichten und noch zwölf andere, die sich auf seinen Nachruf bezogen. Er überlegte, ob er einer Kollegin, einem Kollegen geschrieben hätte, wenn der Nachruf von ihnen verfasst worden wäre. Er nickte kurz und wusste: Wahrscheinlich hätte er auch ein Feedback gegeben, so wie er das immer wieder tat, wenn er herausragende Produktionen gehört hatte. Der Tote hatte zwar nichts davon, aber Wolff tat die Anerkennung gut.

Jetzt war es an der Zeit, sich einen frischen Kaffee aus dem Vorzimmer zu holen. Als für die Redaktionen von der Inventarverwaltung Thermoskannen angeboten worden waren, hatte Wolff seinem Team unmissverständlich gesagt, dass Kaffee aus der Thermoskanne in seinem Umfeld niemals erlaubt sei. Mit Schaudern erinnerte er sich, als ihm der Hörfunkdirektor einmal eine Tasse Kaffee angeboten hatte, die Wolff kaum ablehnen konnte. Ihm lag daran, mit Vorgesetzten auf Augenhöhe zu reden; er stand nicht vor dem Schreibtisch, hinter dem sich der Chef verschanzt hatte, sondern setzte sich auf die Sitzgruppe. Der andere würde sich dann schon dazusetzen. So war es immer. Der Kaffee, aufgehellt mit fetter Sahne aus der Dose, war ungenießbar. Wolff schmeckte das Blech, die Rückstände eines Reinigungsmittels und die gelbe Sahne. Als sein Gesprächspartner kurz sein Büro verließ, um im Vorzimmer einen Auslandskorrespondenten zu begrüßen, der auf Verdacht kurz in der Direktion hereingeschaut hatte, kippte Wolff den Inhalt seiner Tasse in einen Blumentopf. Auch deshalb legte er Wert auf stets frisch gefilterten Kaffee, der nicht länger als eine halbe Stunde auf der Wärmeplatte stehen durfte. Statt Kaffeesahne wurde in seinem Büro frische Milch angeboten. Hin und wieder brachte Wolff von einer Kaffeerösterei auf dem Land ein Pfund Kaffeebohnen mit, viel länger als in den Kaffee-Großfabriken bei niedrigeren Temperaturen geröstet, sodass sich anders als bei den großen Markenproduzenten niemals ein bitterer Geschmack einstellte.

Es klopfte an der Tür des Sekretariats, als Wolff gerade seine Tasse gefüllt hatte. Die keckernde Tonfolge warnte ihn vor. Unter der Tür stand sie: die Kollegin mit der Handtasche, dieser Schwanzflosse am kurzen Trageriemen. Die Frisur wie immer hoch toupiert. Das Gesicht dick mit Makeup belegt.

»Haben Sie einen Augenblick Zeit?«

»Für Sie immer!«

Wolff bot ihr eine Tasse Kaffee und einen Platz in seiner Sitzecke an. Hellrote Ledersessel und ein Glastisch auf einem Chromgestell, Modell Mies van der Rohe. Diesen Tisch hatte Wolff vor Jahren im Lager der Inventarverwaltung entdeckt und darauf bestanden, ihn für sein Büro zu bekommen, anstatt sich neue Möbel aus dem Katalog auszusuchen. In seiner Position stand es ihm zu, sein Büro komplett neu auszustatten. Er hatte das Angebot abgelehnt. Man könne nicht am Programm sparen und dann eine neue Büroausstattung bestellen. Die vier alten Sessel hatte er mit rotem Leder beziehen lassen. Ihre Aufarbeitung war nicht teuer gewesen, es war sogar die billigste aller denkbaren Lösungen.

»Schrecklich, das mit Steiger!« sagte sie.

»Ja, das sehe ich auch so«, erwiderte Wolff und blickte aus dem Fenster.

Dann musterte er seine Besucherin, deren Redaktion in einem anderen Teil des Gebäudes untergebracht war. Wolff war dafür dankbar. Er hatte Vorbehalte ihr gegenüber. Er hätte ihr niemals ihre Professionalität abgesprochen, aber er mochte sie einfach nicht. In den Redaktionskonferenzen war sie unter den Redaktionsleitern immer die erste, die sich zu Wort meldete, um der Runde mitzuteilen, welchen Publikumserfolg ihr Redaktionsteam gestern mit seinen Sendungen gehabt habe. Dann ließ sie ihre Keckertonkaskade los, obwohl es keinen Grund zur Heiterkeit gab. Wenn für Sonderprogrammwochen Themenschwerpunkte erwogen und diskutiert wurden, war sie immer sofort bereit, das Thema mit ihrer Redaktion umzusetzen. Wolff kam das so vor, als bewerbe sie sich um ein Fleißbildchen, wie es in seiner Volksschule immer wieder ausgeteilt worden war: ein Hauchbildchen, rot oder blau oder grün, das sich einrollte, sobald es von warmem Atem gestreift wurde. Die dünnen Bildchen wurden gesammelt, geglättet und in den Pausen getauscht.

Von einer Sekunde auf die andere verstand Wolff zum ersten Mal, weshalb seine Besucherin so viel Makeup aufgelegt hatte. In ihrem Gesicht entdeckte er unter der Schicht Spuren von Neurodermitis. Ihre Hände waren feuerrot. Ständig in Bewegung wie Wasserpflanzen in der Dünung, als würden sie gleich das beinahe sichtbare Jucken der Haut wegzukratzen versuchen. Aber die Hände stoppten, bevor es dazu kam, und das Spiel begann von vorne. Es war seltsam und eigentlich traurig, dachte Wolff, dass es in diesem Sender so viele Menschen mit physischen und psychischen Problemen gab. Von seiner Gesprächspartnerin wusste er, dass sie jeden Morgen ein eigenes Kaffeegeschirr in ihre Redaktion mitbrachte, weil sie Angst hatte, von ihrem Team vergiftet zu werden. Übrigens keckerte sie in ihrer Redaktion, wie ihm berichtet wurde, grundsätzlich niemals.

Immerhin ließ sie jetzt die von Wolff servierte Tasse nicht unberührt stehen. »Sehr gut, der Kaffee«, sagte sie.

Ein anderer Kollege aus der Wissenschaftsredaktion hatte nächtelang seinen Vorgesetzten telefonisch aus dem Schlaf gerissen, weil vor seinem Haus andauernd schwarze Fahrzeuge mit Überwachungskameras stünden. In der Bildungsredaktion kollabierte ein Redakteur regelmäßig kurz vor Beginn öffentlicher Livesendungen, sodass sein geradezu väterlich besorgter Chef sich jedes Mal darauf vorbereitete, als Moderator einzuspringen.

Macht unser Sender die Menschen krank? Das fragte sich Wolff seit vielen Jahren. Oder zieht das Medium psychisch labile Menschen an? Suchen sie vielleicht in der Öffentlichkeit der Sendungen ein Selbstbewusstsein, das sie ohne Funktion in ihrer privaten Welt nicht haben? In den frühen Jahren konnten in der Kantine, die damals »Casino« genannt wurde, noch Schnäpse bestellt werden, Einzelgläser oder auch Flaschen, man konnte gleich trinken oder eine Flasche in die Redaktion mitnehmen. Später wurden harte Alkoholika nicht mehr angeboten. Dafür wurden Beauftragte für Alkoholkrankheiten benannt. Die Geschäftsleitung, der Personalchef, der Gesamtpersonalrat und die örtlichen Personalräte ließen sich regelmäßig Bericht erstatten.

Ist es doch das System, das uns hier alle krank macht? Wolff fand keine schlüssige Antwort auf seine Frage. Es gab mehr Krankenstände als in anderen Unternehmen. Das könnte am Termindruck, dem Stress der Livesendungen mit ihren täglichen Unwägbarkeiten und Überraschungen, der überall zunehmenden Bürokratie und den vielen Hindernissen liegen. Wolff beobachtete seit Jahren an sich selbst keine Krankheits- oder Stress-Symptome. Die Arbeit für das Medium Radio war seine Leidenschaft.

Da sitzt sie nun, dachte Wolff, und hier drinnen keckert sie nicht mehr. Welch ein Glück!

Von seiner Kollegin wusste er, dass sie, die fast täglich die Nähe zur »Obrigkeit« suchte, meist glänzend und vor allen anderen über Entwicklungen im Haus informiert war. Gelegentlich verbreitete sie Verschwörungstheorien, die sich aber bis auf einen einzigen Fall nicht erhärteten, wie sich Wolff erinnerte. Immer aber wusste sie vorab, wenn sich auf den obersten Etagen eine Lage zusammenbraute, die erst sehr viel später die Basis der Redaktionen erreichte. Eine Seherin! Das war sie wohl.

»Wie denken Sie über Steigers Tod?«, fragte sie unvermittelt.

Ihre Hände wanderten die Arme entlang bis zur Schulter, dann wieder zurück.

»Ich weiß nicht«, sagte Wolff. »Steiger hat in seinem Leben wohl mehr getrunken als er sollte, aber er wirkte immer vital, kerngesund, eher ein Kraftbursch als ein Pykniker.«

»Er ist ermordet worden!«, sagte seine Gesprächspartnerin sehr leise, aber mit Nachdruck.

»Wie bitte?«

Wolff war wie elektrisiert.

»Was sagen Sie da?«

»Ich sagte: Steiger ist ermordet worden. Aber fragen Sie mich nicht, woher ich das weiß!« Sie fügte an: »Lassen Sie mich aus dem Spiel. Aber ich dachte, Sie sollten das wissen!«

Sie stand auf. »Schauen Sie doch mal auf einen Kaffee bei mir vorbei«, sagte sie in der offenen Tür. »Am besten nachmittags. Da sind meine Freelancer alle unterwegs.«

Wolff bedankte sich mit versteinerter Miene.

Plötzlich sah er, wie der Wasserspiegel seines Aquariums schwankte. Er hatte das Abschiedsgeschenk seiner alten Redaktion nie geliebt, aber gepflegt. Er hasste es, an den freien Wochenenden das Aquarium zu reinigen, aber die Fische waren nun einmal da, und es widerte ihn an, immer wieder mit einem Netz tote Fische von der Wasseroberfläche abzuschöpfen und sie in die Toilette zu kippen.

Jetzt aber schwankte der Wasserspiegel deutlich sichtbar.

Im 13. Stock des Hochhauses.

Wolff sah genau hin.

Von Westen her zog eine Wetterfront auf. Ihre Kontur war scharf gezeichnet. Es würde stürmisch werden.

8

Man wird.

Man wird einen offenen Brief an die Stadtverwaltung schreiben.

Man wird Unterschriften sammeln.

Man wird eine außerordentliche Mitgliederversammlung einberufen.

Man wird sich an das Gartenbauamt wenden.

Man wird sich an die Salzburger Nachrichten wenden.

Man wird das ORF-Studio Salzburg und die Privatradios in der Region verständigen.

Man wird.

Man muss auf jeden Fall Widerstand leisten.

Geradezu unangenehm sind dem Mann jetzt die heiser in die Luft ausgestoßenen Alarmrufe über die Gartenzäune hinweg, dieses Hineinsteigern in eine Bedrohung, von der nicht feststeht, ob sie wirklich über sie hereinbrechen wird. Es gab doch vor zwei Wochen nur die wenigen Tage, in der die Gärten vermessen wurden. Es weiß doch niemand ganz genau, welchem Zweck die Vermessung des Geländes dient.

Der Mann ist deshalb nicht nervös.

Am Nachmittag hält er es in seinem Garten nicht mehr aus. Der Aktionismus der Nachbarn verstört ihn, zudem hat er seine Arbeit abgeschlossen. Mehr als siebzig Knospen tragen seine Rosenbüsche, sie wachsen dem Licht entgegen, nur die Fuchsien werden sich sehr bald von der Sonne abkehren, ihre Blüten senken und dem Schatten unter den Blättern zuwachsen. Die vor dem Winter aufgetragenen Mulch- und Torfschichten hat er gelockert, geharkt und wieder festgetreten, sie entzogen dem Boden jetzt die Feuchtigkeit der letzten beiden Regenwochen. Er hat die Geräte in die Holzhütte geräumt, die letzten Blätterreste auf dem Komposthaufen verteilt. Jetzt wird er nach Hause fahren.

So groß, so übertrieben wie selten liegt der Mond über den Dächern. Seine Bahn folgt einer vorgegebenen Ellipse, und heute ist der Mond der Erde besonders nah. In der Dämmerung taucht er über den Häusern auf, strahlt durch die Baumkronen, blendet mit seiner aufdringlichen Präsenz. Jetzt zeichnet er Schatten auf den Balkon des Mannes. Die Nachtluft ist klar.

Der Mann steht am Geländer, er hört der Nacht in dieser Stadt zu, es muss schon sehr spät sein. Auf dem Gehweg fahrend nähert sich ein Auto, es hält an jedem zweiten Haus. Ein Mann steigt aus und wirft längere weiße Papierpakete in die Briefkästen. Die Zeitung von morgen ist da.

Seine Nachbarn im Haus haben ein Digitalabonnement gebucht. Kein Zeitungspapier in der Papiertonne, dabei hatte er schon angenommen, dass die Nachbarn keine Zeitung lesen. Der Mann liebt die gedruckte Zeitung. Er will nicht schon morgens auf einen Bildschirm oder sein Mobiltelefon starren. Mit digitalen News lassen sich auch keine Papiertüten für die Bioabfälle falten und mit ihnen ist es auch nicht möglich, feuchte Schuhe auszustopfen. Manchmal schneidet er Pressefotos und ausgesuchte Artikel aus, klebt sie in sein Arbeitsheft. Das hat er Bertolt Brecht abgeschaut, der sein Arbeitsjournal sorgfältig mit Fotos und Ausschnitten anreicherte, zwischen die handschriftlichen Einträge hineingeklebt, ein Berichtsheft über ein Leben in schweren Zeiten. Der Mann führt sein Arbeitsheft nur für sich. Niemandem hat er noch etwas mitzuteilen, wenn sich sein Leben einmal vollendet. Ach ja, denkt der Mann, das kann schlichter formuliert werden: Wenn ich tot bin.

Daran zu denken hat er keine Lust. Sein Garten feiert gerade, sehr langsam, sehr vorsichtig, seine jährliche Auferstehung. Dem Mann tut es weh, dass sie nicht mehr erlebt, was ihm inzwischen in diesem Garten geglückt ist – ihm, dem früher jeder grüne Daumen fehlte, der Pflanzen kaum voneinander unterscheiden konnte. Das war immer ihre Sache gewesen. Vielleicht wäre sie stolz darauf, was er inzwischen gelernt hat. Aber sie ist ja nicht da.

Der Mond rollt langsam Richtung Westen vor. Vorgestern und gestern ist ihm ein Gedicht durch den Kopf gegangen, ein Bild, ein Fragment, obwohl er keine poetische Begabung besitzt.

Ich will nicht,

dass du ein Stern unter Sternen bist,

die für mich so uralt sind wie ihr Licht an Jahren,

unerreichbar in den Myriaden, die ich kaum erkenne

und die ich nie erfassen werde.

Ich will nicht,

dass du ein Atom bist,

neben anderen, die ich nicht fühlen kann,

oder ein Bläuling, der sich von meinem Handrücken nicht in der Sonne löst.

Ich will nicht,

dass du ein Geist bist oder ein Kobold, der die Schranktüren öffnet

und das Geschirr aus den Regalen fallen lässt.

Ich will nicht,

dass du als sanfter Windhauch mein Gesicht berührst

oder als ein Farbenspiel am Fenster erscheinst, wie ich es vorher niemals sah.

Ich will doch nur, dass du geblieben wärst

und nicht so weit

von mir getrennt.

Aber ich fürchte,

dass du mich nicht hören kannst.

Weil du nicht mehr bist.

Nicht hier.

Der Mann hat während der Arbeit in seinem kleinen Garten und auch auf dem Hin- und Rückweg Zeile für Zeile in sich entdeckt, sie leise gesprochen und sich eingeprägt. Bevor er seinen Nachtplatz auf dem Balkon eingenommen hat, schrieb er die Verse in sein Arbeitsheft, las sie durch, wischte kurz mit einem Taschentuch seine Augen und schämte sich ein wenig für das Pathos seiner Verse, die ihn den ganzen Tag begleitet hatten. Nun hat er sie aufgeschrieben. Er wird das Gedicht niemandem zeigen. Es ist nur für ihn da und es ist gut so. Endlich hat er keine Zahlenkolonnen notiert. Das Arbeitsheft ist zugeklappt. Die Stadt ist nie so still wie kurz vor dem Morgen. Der Lärm in ihm selbst, spürt der Mann, ist verstummt.

Das Gedicht wird er so schnell nicht mehr lesen.


Wenige Tage später soll eine außerordentliche Mitgliederversammlung des Kleingartenvereins Amicitia Salzburg stattfinden. Handzettel werden verteilt. Der Vereinsvorsitzende lässt ein Schreiben an alle Kleingärtner ausgeben:

Liebe Gartenfreunde,

ich darf Ihnen auf diesem Weg den augenblicklichen Stand unserer Gespräche mit den für unsere Kleingartenanlage Amicitia verantwortlichen Behörden mitteilen:

1. Unsere Anlage ist von der Stadt Salzburg an uns verpachtet. Das Grundstück ist eine Liegenschaft der Kommune.

2. Die gegenwärtige Wohnungsnot in Salzburg veranlasst den Magistrat unserer Stadt, alle Grundstücke im Gemeinschaftseigentum auf eine Verdichtung hin zu überprüfen, um gegebenenfalls eine Mischbebauung mit sozial geförderten Wohnungen über die gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften, mit Eigentumswohnungen und Gemeinschaftseinrichtungen wie Kleingewerbe und Supermärkten, Kindergärten und Senioreneinrichtungen zu realisieren.

3. Das Gelände des Kleingartenvereins Amicitia Salzburg kommt ebenso wie andere im Stadtbesitz befindliche Grundstücke in Betracht, auf eine mögliche Bebauung hin überprüft zu werden. Wir bitten dafür um Verständnis.

4. Bisher liegen keine Entscheidungen des Magistrats Salzburg vor. Wir bitten deshalb darum, in Ruhe die Vermessungen, Auswertungen, Beratungen und Beschlüsse abzuwarten und sich gegen jegliche Störung der öffentlichen Ordnung zu verwahren. Mit Nachdruck weist der Magistrat im Umlauf befindliche Gerüchte zurück, wonach in Salzburg in großem Umfang Grünflächen der Stadt grundsätzlich überbaut werden sollen.

Unterschrift, Mitglied der Stadtverwaltung

Abteilung Raumplanung und Baubehörde

Die Reaktion der Kleingärtner auf dieses Schreiben folgt jetzt natürlich einem Eskalationsgesetz, wie es der Mann erwartet hatte. Alle Mechanismen des ersten Schocks setzen in diesen Tagen ein: Trauer. Wut. Reaktion. Aktion. Für alle vier Verhaltensweisen kann er unter seinen Nachbarn Protagonisten ausmachen.

Ich weiß nicht, ob ich überhaupt in diesem Frühling noch pflanzen kann.

Ich weiß nicht, ob es sich lohnt, überhaupt noch einen einzigen Euro zu investieren.

Ich weiß nicht, warum wir uns das gefallen lassen müssen.

Ich weiß nicht, was wir gegen Vertragsbruch machen können.

Ich weiß überhaupt nicht, was jetzt noch Sinn hat.

Ich weiß, dass wir uns wehren müssen.

Ich weiß, dass wir die Pläne verhindern können.

Ich weiß, wie wir dem Magistrat einheizen können.

Ich weiß, dass wir alle zusammenstehen.

Ich weiß, dass wir Widerstand leisten müssen.

Ach ja, denkt der Mann. Die Angst fördert Fantasien. Sie weckt Ur-Instinkte. Wer allein ist, der schreit jetzt umso lauter. Aber wer hört dann schon zu? Wenn wir wirklich zusammenstehen, wächst trotzdem das Schweigen. Wer will schon ein Held, eine Heldin sein? Einige Nachbarn halten schon Ausschau nach Alternativen.

Der Mann wird morgen rote und schwarze Johannisbeeren-Stauden einpflanzen. Es ist höchste Zeit dafür. Der Flieder muss zurückgeschnitten werden. Seine Wurzelstöcke sind verholzt. Da kommt viel Arbeit auf ihn zu, die Stöcke von den verdorrten Wurzelsträngen zu befreien. Der Flieder muss atmen können. Er liebt diese Arbeit nicht, aber sie muss sein. Dabei hat er Angst, den Wurzelstock zu verletzen.

Die beiden Magnolienbäume zeigen in ihren Knospen schon eine rote Schattierung. Im letzten Jahr haben sie um diese Zeit geblüht. Heuer haben sie es nicht eilig. Nur langsam wird es wärmer. Jeden Tag sammelt der Mann angeschimmelte und feucht-schwarze Blätter von den Beeten und Rabatten seines Gartens, und er streut frische Erde auf die Wiese, in die sich die Feuchtigkeit des Winters hineingefressen hat.

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342 стр. 4 иллюстрации
ISBN:
9783702580803
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