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Jetzt also zum Hörfunkdirektor.

»Okay! Sehr schön. Hätte ich nicht besser schreiben können. Aber beim Sprechen bitte kein Pathos!«

»Pathos ist mir fremd!«

Wolff stand auf und ging. Er schloss die Tür zum Vorzimmer behutsam.

Im Studio sprach er den Nachruf. Kein Versprecher. Für Schnitte wäre auch kaum Zeit geblieben. Er beobachtete sich von außen, als sei er in diesem Augenblick in zwei Wesen aufgespaltet. Routine. Was muss, das muss! Er unterschrieb die Aufzeichnung als sendefertig, ohne sie noch einmal zu hören. Was hätte er auch anders machen sollen?

Wolff verließ das Studio, fuhr mit dem Aufzug in das Erdgeschoß. In seine Redaktion wollte er nicht zurückgehen, deshalb betrat er die Drehtür am Haupteingang des Funkhauses, schob sie an und verließ das Gebäude. Er wischte sich mit dem Taschentuch kurz über die Augen.

Jetzt Stille.

Nur Stille.

Niemand sollte ihn jetzt ansprechen.

Er würde es nicht aushalten.

6

Fast hätte der Mann vergessen, dass er bei einem Pflanzencenter fünf Stück Hydrangea mac., blau mit jeweils vier bis sechs Dolden bestellt hat, die abends vom Lieferdienst vor seiner Haustüre abgestellt worden sind. Ein später Nachtfrost, so unerwartet wie unwillkommen, hat in seinem Garten die blauen Hortensien beschädigt, die frischen hellgrünen Blätter und Triebe waren am nächsten Morgen schwarz verfärbt. Nach zwei Tagen fielen die vertrockneten Spitzen ab. Er hat die Pflanzen zurückgeschnitten. Vielleicht treiben sie ja noch einmal aus.

Er geht zu seinem Auto und holt die fünf Pakete, sie sind nicht schwer. Er will die Hortensien gleich eingraben und wässern. Angeblich sind sie winterfest.

Die Aufregung in der Kleingartenanlage dauert an. Vor dem kleinen Wertstoffhof diskutieren die Leute, sie unterhalten sich über die Trennzäune hinweg. Wortfetzen wehen heran.

»Da muss etwas geschehen …«

»Der Vereinsvorsitzende sollte mal nachfragen …«

»Die Stadtverwaltung wird doch wissen …«

»Eine Eingabe machen …«

»Eine Resolution verfassen …«

»Vielleicht einen Anwalt einschalten …«

Der Mann beobachtet, wie die Ängste wachsen. Er sieht das Kopfschütteln, das Schulterzucken, den schleppenden Gang. Sein Pachtvertrag gibt ihm keinen Anlass zur Sorge. Er hat ja viele Jahre darauf gewartet, eine Parzelle in der Kleingartenanlage mieten zu können. Das Kleingedruckte hat er nicht gelesen. Die Anträge auf die Zulassung seiner Bewerbung waren hoch komplex. Es ist nicht leicht, einen Kleingarten zugeteilt zu bekommen, und die Wartezeiten sind überdies so lang, dass etliche Winter und Sommer vergehen, immer wieder Frühling und Herbst, sodass auch er dachte, der Stapel seiner Bewerbungsunterlagen sei in einem der vielen Verwaltungsbüros vergessen worden.

Bis eines Tages ein amtliches Schreiben im Briefkasten lag. Ihm wurde ein Kleingarten in der Anlage des Vereins Amicitia Salzburg zugeteilt, genauer: in Zeile der Teufelsgasse. Er möge sich persönlich melden, vorstellen und einen Einzahlungsbeleg mitbringen.

Wie sah der Garten aus?

Offensichtlich war er längere Zeit brach gelegen. Die Hecken waren nicht mehr geschnitten worden, die braunen Grasflecken nicht gemäht. Die Büsche verdorrten, die geteerte Dachpappe auf der Hütte schlug Wellen wie ein Teich im Fönsturm und hatte sich an einigen Stellen vom Dach gelöst, rostige Nägel standen frei. In den Herbststürmen hatte sich der Dachbelag von seiner Verankerung befreit. Die Löcher, von den Nägeln hineingehämmert, hatten sich vergrößert, sodass die Abdeckung des Daches über die Nagelköpfe gerutscht war und sich der Bewegung der Luftströmungen ohne Widerstand aussetzte.

Der Garten und die Hütte waren verkommen. Innen roch es muffig. In den Ecken hatte sich Schimmel angesetzt. Aber die Holzsubstanz schien noch stabil, die Bretter müssten abgeschliffen und neu lackiert werden, innen und vor allem auch außen, denn die Hütte hatte inzwischen einen grauen glanzlosen Belag auf ihren Holzflächen. Nur unten, dort wo die Hütte im eingegossenen Betonfundament verankert war, wiesen die Eckbalken eine schwarze Farbe auf: beim Abschleifen würde sich zeigen, ob sie nur an der Oberfläche durchfeuchtet waren oder ob der Mann sie austauschen müsste, wenn sich das überhaupt noch lohnte. Aber alles in allem wäre dies sein künftiger Garten. Ihm würde er seine Fantasie, seine Zeit, seine handwerklichen Fähigkeiten, seine Kraft, vor allem aber seine Liebe widmen. Dieser Garten hat Zukunft. Ich habe eine Zukunft, hatte der Mann damals gedacht.

Ein Nachbar aus der Watzmannstraße spricht ihn an. »Wie schön!«, sagt er, Sie haben blaue Hortensien gepflanzt. Passen Sie auf, die überstehen späte Frostnächte nicht.«

»Ich weiß«, sagt der Mann, »meine blauen Hortensien, die bisher hier standen, sind angefroren. Ich weiß nicht, ob sie sich noch erholen.«

Ob er sie bis auf den Stock heruntergeschnitten habe, fragt der Nachbar.

»Na klar«, sagt der Mann, »passt schon. Schauen Sie!«

Der Nachbar kommt näher. »Ich habe gehört«, sagt er, »dass die Gartenanlage aufgegeben werden soll. Meine Frau arbeitet in der Stadtverwaltung. Sie hat in einem Gespräch aufgeschnappt, dass vielleicht eine Wohnanlage für städtische Bedienstete hier entstehen soll: auf unserem Gelände. Das ist aber nicht gesichert. Man will ja nicht die Plagen heraufbeschwören, bevor die Heuschrecken wirklich einfallen.« Er lacht. »Wir werden ja sehen, was geschieht. Also: Kein Grund, um sich aufzuregen. Die meisten hier sind nervös geworden. Ältere Leute haben immer Angst. Ich sage immer: Vertraue Deinem Verstand, der ratio, dann fährst Du besser.

Setzen Sie die blauen Hortensien in neue Erde ein. Dazu brauchen Sie nicht viel. Die alte Erde können Sie ja auf den Kompost werfen. Man weiß ja nie, welche Schädlinge sich im Boden verbergen. Und, aber das wissen Sie: Streuen Sie gleich beim Wässern etwas Eisensulfat in die Erde, damit die blaue Farbe nicht verblasst.«

Der Mann bedankt sich bei seinem Nachbarn. Dann geht er in die Hütte.

Alle Bretter hat er abgeschliffen und grundiert und lackiert und poliert. Die Eckpfosten sind saniert, das Holz war nicht angefault. Das blind gewordene Kunststofffenster hat er durch ein besseres Material ersetzt, das Dach mit neuer Dachpappe gedeckt. Rostfreie Beilag-Scheiben mindern die Gefahr, dass sich der Dachbelag beim ersten Sturm von den Nägeln befreit und über geweitete Ösen vom Dach trennt. Die Idee mit den Beilag-Scheiben ist dem Mann gekommen, als er in seinem Keller zu Hause ein neues Regal aufbaute. Die vom Schimmel befallenen Ecken der Hütte hatte er mit einem Entfeuchter getrocknet, der mit seinem Gebläse einige Tage und Nächte in Betrieb blieb. Ein Freund hatte ihm das Gerät geliehen, das er selbst seit dem letzten Hochwasser in seiner Garage aufbewahrt hatte. Chemikalien wollte der Mann nicht einsetzen. Man weiß ja nicht, ob die Luft in der Hütte durch sie kontaminiert wird. Es gab ja immer wieder furchtbare Sachen zu lesen. Ich mache das nur ökologisch, sagte sich der Mann.

Es ist gut so.

Jetzt schon, während der Schnee noch auf den Berggipfeln ringsum liegt, blüht es im Garten, ganz leise, aber unübersehbar. Der Garten verfügt in seiner Miniaturgestalt über harmonische Linien. In einem Beet hat der Mann nur rot blühende Pflanzen eingesetzt, in einem anderen violette. Er liebt das Monochrome. Ganz hinten ein kleines Feld mit gelben Blüten, jetzt aber sieht er nur ihre Knospen. Warten will gelernt sein.

Fast ein Jahr hatte er in seinem neuen Garten gearbeitet. Vom frühen Morgen bis zum Abend. Die Erde umgegraben, sie mit Holzbrettern unter den Füßen glatt und fest getreten. Gesät. In die mit einer kleinen Schaufel freigelegten Vertiefungen Büsche und Tulpenzwiebeln und zwei Fliederstauden eingesetzt: weiß und lila. In seinem Elternhaus gab es riesige Fliederbüsche im Garten der Dienstwohnung. Sie blühten im Mai in Massen, sodass zum Geburtstag seines Vaters, im Sternzeichen des Stiers geboren, ganze Eimer mit Flieder im Treppenhaus standen. Den betörenden Duft hat der Mann nie vergessen. Wenn er sich an die frühen glücklichen Jahre erinnert, dann ist es der Duft des Flieders, der sich nie verflüchtigt. Die Kindheit roch wie Flieder und wie die Maiglöckchen, die seine Mutter aus ihrer Heimat mitgebracht und eingepflanzt hatte, und die Maiglöckchen hatten mit ihrem unterirdischen Wurzelwerk unter den Nadelbäumen große Flächen erobert. Es gab im Frühjahr nie einen Mangel an Blumen und Blüten. Zu seinem Geburtstag wünschte er sich, auch noch als Erwachsener, einen Strauß Vergißmeinnicht und einen Streuselkuchen. Später, als sie davon erfahren hatte, spendierte ihm seine Kollegin zum jährlichen Geburtstag im Juli ein ganzes Backblech mit Streuselkuchen. Den Vergißmeinnicht-Strauß kaufte er sich selbst auf dem Bauernmarkt. Natürlich hatte er Vergißmeinnicht direkt an dem niedrigen Zaun zum Nachbargarten gepflanzt. Die hellblauen, manchmal dunklen oder violett-gelben Blüten erinnerten ihn an die vergangene Zeit und ihre Traditionen und Freuden und Gewohnheiten. Viele seiner Altersgenossen waren stolz darauf, sich von ihrer Herkunft und deren Zwängen zu befreien, bei ihm war es anders. Er hatte sich schon als Jugendlicher frei gefühlt, aus der häuslichen Geborgenheit war er aufgebrochen in neue Erlebniswelten, die er seinen Eltern nicht mitteilte, damit sie sich nicht um ihn sorgten. Außerdem ginge sie nichts an, was er für sich entdeckte, ausprobierte, riskierte und verwarf. So kam er als Heranwachsender ohne allzu große Konflikte mit seinen Eltern aus, während sich seine Geschwister schwere Auseinandersetzungen mit ihnen leisteten. Vielleicht, so denkt der Mann noch heute, war und bin ich ein Einzelgänger, der nicht kommunizieren muss, was andere möglicherweise belastet.

In der Gartenanlage redet er gern mit Nachbarn, wenn sie ihn ansprechen. Er selbst sucht den Kontakt nicht. Er muss ihnen auch nicht sagen, wie hässlich er ihre aus schwerem Eichenholz geschnitzten Gartenmöbel findet, wie stillos ihre schmiedeeisernen Laternen oder die weiß lackierten Gartenleuchten sind, ihre Hollywoodschaukel aus dem Katalog des Versandhauses und ihre unausrottbaren karierten Tischdecken auf den Blechtischen. Wie beleidigend ihre Holzkohlen- oder Gas-Grillapparaturen für seine Augen und wie lächerlich die aus der String-Regal-Zeit übrig gebliebenen Silhouetten von Bambis, Berggipfeln und Tannenbäumen an der Außenwand ihrer Holzhütten sind, die sich mit ihren ausgefahrenen, meist gestreiften Markisen und den lose verlegten Steinplatten darunter sichtbar anstrengen, sich zu richtigen Gartenvillen zu entwickeln. Aber sie bleiben, was sie waren: kleine Holzhütten mit Gaskocher, oft einem Herrgottswinkel und Vorhängen an den Fenstern. Selbst halbhohe Stores hat der Mann schon entdeckt. Wenn es ihnen gefällt, dann ist es gut, denkt der Mann. Ich will es anders haben.

Wieder ein Abend. Wieder eine Nacht.

Der Mann steht auf seinem Balkon. Seit vielen Jahren steht dort auf einem Holzgestell, das ihm sein Nachbar zum Geburtstag gebaut und unter das Geländer eingepasst hat, mit Fächern für Blumentöpfe, Blumendünger, Müllsäcke, Gartenerde und die kleinen und größeren Gießkannen, ein großer Blumenkasten, in dem mindestens zehn verschiedene Farnarten wachsen, die sich ständig erneuern, in die Luft ausrollen und sich über die Ränder des Kastens ausbreiten wie ein künstlich eingefriedetes und in die Stadtlandschaft verpflanztes Stück Wald, das seine Begrenzung überwinden will. Der Mann achtet darauf, jeden Morgen die Erde nach den winzigen Farnrollen abzusuchen, aus denen später fächerartig und schattenwerfend große Pflanzen entstehen, er besprüht sie mit gesammeltem Regenwasser. Jeden Spätherbst holt er den Kasten mit den Farnen vom Balkon, er stellt ihn vor seine Wohnungstür in das Treppenhaus. Dort stört sich niemand im Vorbeigehen daran. Die Blätter werden während des Winters etwas blasser, die Erde trocknet schneller aus als in der frischen Luft, auch ist das Licht, das durch die Fenster hereinfällt, matt und schwach, aber die Farne kommen im Frühjahr wieder, schöner als je zuvor, dichter als im Vorjahr und in ihrem dunklen Grün unverzichtbar für einen, der auf seinem Balkon in der Dämmerung und bis in die späte Nacht hinein sitzt und steht und sich bewegt und sich freut, dass alles so lebendig ist, so frisch, so zukunftsoffen.

Aber in diesem Jahr sind die Pflanzen in einer einzigen Woche abgestorben. Er hat zunächst die braunen Farnblätter entfernt, das war ein paar Tage so, bis es nichts mehr zu entfernen gab. Die Erde war feucht, es gab keinen Grund, zu vertrocknen, aber die Farne starben ab. Jetzt hat der Mann den nackten Blumenkasten wieder auf den Balkon gestellt; die Erde wollte er nicht austauschen, weil er darauf hofft, dass im Boden noch Sporen der toten Farne enthalten sind. Und gestern hat er entdeckt, dass tatsächlich winzige neue Farne aus der Erde sprießen.

Es ist ganz still.

Selbst vom Hauptbahnhof und vom nahen Freilassing dringt kein Geräusch herüber. Die Züge fahren, wenn sie heute Nacht unterwegs sind, ohne jedes wahrnehmbare akustische Lebenszeichen. Ein Käuzchen ruft. Das ist selten in der Stadt. Der Mond steht über der Festung. Wenige Laternen dort oben glimmen im Mondschatten. Wie viele Menschen, unter ihnen auch Fürsterzbischöfe, saßen in den Verließen in Haft, isoliert von jedem Mondlicht, dem Flackern der Fixsterne und Planeten und abgeschirmt von den milden Geräuschen der Nacht? Oder der Klangkulisse des Tages mit Menschen und Hunden? Der Mann hatte sich intensiv mit der Geschichte seiner Heimat befasst. Er ist sich ziemlich sicher, dass die Massen an Touristen, die mit der Bergbahn hinauffahren oder die den Festungsberg zwischen dem Mönchsberg und dem Nonnberg zu Fuß erklimmen, wenig über die Nachtseite dieser Anhäufung von Kuppeln und Glockentürmen, barocken Hausfassaden und hochwassergefährdeten Kolonnaden wissen und wissen wollen. Aber es kümmert ihn nicht. Er weiß und er horcht in die Nacht.

Es ist seltsam. Nachts fahren Radler auf dem Gehweg.

Nachts sind viele Fahrräder unbeleuchtet.

Der Mann versteht nicht, weshalb sich diese Menschen der Gefahr aussetzen, von einem Autofahrer übersehen zu werden.

Nachts gilt die Vorrangregel »Rechts vor links« nicht. Wer spät nach Hause fährt, hat es eilig. Käme jemand von rechts, würde das Fahrzeug auf der Kreuzung durch die Scheinwerfer des Vorfahrtsberechtigten zu erkennen sein. Das ist meist so, aber manchmal auch nicht.

Dann flackert ganz plötzlich ein Blaulicht auf der Kreuzung.

In den letzten Tagen, so beobachtet es der Mann, sind mehr als zwölf Kleintransporter eines deutschen Unternehmens am späten Abend, oft auch nachts, in das ruhige Wohnviertel eingeschwärmt. Er hat von seinem Balkon aus eine Schriftfolie erkannt: Wir fahren für Amazon. Die Fahrer, die sich gegenseitig in die knappen Parkplätze einweisen, sprechen nicht Deutsch. Er nimmt an, dass sie im Auftrag von Großspediteuren tagsüber Sondertransporte übernehmen. Die Fahrer sind vielleicht im Hotel am Ende einer der Nebenstraßen untergebracht. Die weißen Kleintransporter sind die einzigen mobilen Fahrzeuge in diesen Tagen. Alle anderen Autos werden selten bewegt. Hier wohnen viele ältere Leute, sie fahren nicht mehr so oft und so viel wie die Jüngeren. Noch immer blockiert ein Kleinwagen zwei Stellplätze am Straßenrand. Vögel haben die Frontscheibe und die Seitenfenster verschmutzt. Am Scheibenwischer vergilbt ein Werbezettel.

Der Mann steht auf dem Balkon und überlegt, was morgen in seinem Garten zu tun ist. Er trinkt einen Rotwein. Viele Jahre hatte sie ihn gebeten: »Trinke nicht jeden Tag! Lege mal eine Pause ein! Du gewöhnst dich sonst noch daran!« Aber sie hatte ihm auch gesagt: »Kaufe nicht den billigen Rotwein. Wir haben genug Geld, dass du dir einen guten Rotwein leisten kannst.«

Nun ist dies alles vorbei. Er trinkt seinen Rotwein, denkt an sie, streift das Gewicht der Erinnerung bewusst ab. Das ist anstrengend. Und er hat ein bisschen ein schlechtes Gewissen. Er ist allein, nicht einsam. Er hat sich daran gewöhnt, sich und seiner Trauer standzuhalten. Das ist möglich, natürlich nicht in jedem Augenblick. Es gibt schon einsame Stunden, aber er hat gelernt, sie anzunehmen.

Um diese späte Zeit sind nur noch Hundebesitzer unterwegs. Ihm war nicht bewusst, dass es so viele Hunde im Viertel gibt. An der Hauptstraße wachsen Supermärkte und Tankstellen, Outlet-Center und Discounter von Jahr zu Jahr in das Wohnviertel hinein, aber wenige Fußminuten hinter der Hauptstraße ruht sich seine Wohngegend in der Beschaulichkeit ihrer Gärten aus. Es ist interessant, dass inzwischen viele Hunde blinkende Dioden-Halsbänder tragen. So können sich Dackel und Golden-Retriever nicht mehr unter den Büschen verbergen, während ihre Halter rufen und rufen und rufen. Die Ära der Bobtails ist längst vorbei. Schäferhunde sind im Viertel ausgestorben. Die Wohnungen sind kleiner geworden, die Hundebesitzer haben sich den Verhältnissen angepasst.

Morgen werde ich recherchieren, denkt der Mann, was es mit dem Vermessungsteam rund um unser Kleingartengelände auf sich hat. Ich bin gut vernetzt, ich werde herausfinden, ob es Planungen gibt, die uns bedrohen. Ich glaube nicht daran, aber zu glauben ist wenig sinnvoll. Ich will es wissen. Denn die Hysterie der Gärtner ist schwer erträglich. Ein Gelblicht genügt, und sie geraten schon in Panik. Ein Blitz in Gelb, ein Angsteinbruch in Schwarz. Schwarz wie die Albträume der Kindheit.

Der Mond hat sich um die Ecke verzogen, über der Altstadt sind die Kassiopeia und der Orion flackernd im Dunst der Nacht zu erkennen; Beteigeuze, links oben im Orion, soll bald in sich zusammenfallen, explodieren und selbst am helllichten Tag wie eine kleine Sonne aufstrahlen, bevor er stirbt. Die Astronomen haben beobachtet, dass Beteigeuze immer dunkler wird. Ich werde das nicht mehr erleben, denkt der Mann. Morgen setze ich im Garten neue Ranunkel-Pflanzen und einige wenige Tulpenzwiebeln ein. Die Frischhaltebox ist mit einem Wurst- und einem Käsebrot gefüllt, den Kaffee wird er morgen Früh in die Thermoskanne gießen und die geschäumte Milch einfüllen, bis er den Verschluss kaum noch bis zum Anschlag drehen kann. Er achtet darauf, dass die Milch nicht überfließt, denn dann wird die Kanne verschmutzt. Er geht sorgfältig vor. Ordentlich war er bisher in seinem ganzen Leben. Jetzt noch einen Schluck vom Chianti Classico Reserva mit dem schwarzen Gallo auf dem Flaschenhals. Das ist kein schlechter Wein. Die österreichischen Weine mit den rot-weiß-roten Metallkappen trinkt er auch gern. Aber nach der Arbeit im Garten liebt er die etwas schwereren Weine, deren Anbaugebiete er gut kennt. Ist es nur Erinnerung? Er spürt manchmal die Sehnsucht, wieder dort zu sein. Aber er fürchtet sich davor, jetzt allein in der vertrauten und geliebten Region anzukommen, zwischen Siena und Vicenza, in der Toskana, in jener Landschaft, in die er jedes Mal ein Stück seiner Sehnsucht hineingepflanzt und zurückgelassen hat. Und er glaubt, dass er die Orte nicht mehr finden würde, in denen er seine Spuren hinterlassen hat.

Seit zwei Wochen hat der Mann seinen Fernseher nicht mehr eingeschaltet. Es ist sehr kühl geworden. Die Erde der Balkonpflanzen ist feucht. Alles stimmt, denkt der Mann. Jetzt ist es Zeit! Ich habe keine Angst vor der Nacht, ich habe Angst, mich in einem dunklen Zimmer abzugeben, nur um zu schlafen. Schlaf: Ich sehne mich nicht nach ihm.

Mitternacht ist längst vorbei. Es spielt keine Rolle für den Mann. Zeit ist für andere eine Rechnungseinheit ihrer Lebensperspektiven. Ihn fragt niemand, wann er zu Bett geht und wann er morgens aufsteht. Die Zeit bedrückt ihn nicht. Sie beschäftigt ihn überhaupt nicht. Dass sie sich bewegt, entdeckt er nur in seinem Garten – und in den Falten morgens in seinem Gesicht. Ihn interessiert es nicht mehr, ob die Zeit davongaloppiert oder ob sie träge wie Lava auf flachen Ebenen fließt. Das war früher anders, aber jetzt ist es so. Er hat gelernt, zu warten, zu beobachten, über seine Zeit selbst zu bestimmen. Im Garten nimmt er nur den Wechsel zwischen den Jahreszeiten wahr: Darauf kommt es an. Nicht auf den Kalender und nicht auf die Uhr.

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342 стр. 4 иллюстрации
ISBN:
9783702580803
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