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Читать книгу: «Teufelsgasse», страница 3

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Es ist gut so, denkt der Mann. Lange genug bin ich dort drüben gesessen, und ich bin jeden Morgen dorthin gegangen, und jeden Abend von dort nach Hause. Tag für Tag. Immer wieder.

Er hat seinen Beruf geliebt. In vielen Jahren hatte er sich ein Selbstbewusstsein erarbeitet, das ihn vor den üblichen Ärgernissen am Arbeitsplatz schützte, ohne seine Freude zu mindern, jeden Morgen gern sein Amt zu betreten und es abends entspannt zu verlassen.

In seiner Jugend hat er sich eine merkwürdige Eigenschaft angewöhnt, sie ließe sich vielleicht sogar als Tick bezeichnen, der sich seit damals intensiviert hatte. Würde er danach gefragt, würde er dies wahrscheinlich sogar zugeben. Er hat sich an seine Eigenart gewöhnt und empfindet sie keineswegs als beunruhigend: Als Jugendlicher besuchte er sonntags den Gottesdienst, nicht weil er es wollte, aber der Kirchgang entsprach der Familientradition. Nicht jeden Sonntag, beileibe nicht, aber immer wieder sonntags, wenn sein Onkel Prediger in der evangelisch-lutherischen Kirche Augsburger Bekenntnisses war. Ihm zuliebe wurde dorthin gegangen, in die kleine Kirche in der Innenstadt, deren Fassade mit der rot-weiß-roten Plakette »Evang.-luth. Kirche A.B.« gekennzeichnet ist, damit jeder weiß, dass hier keine Messen zelebriert werden.

Mit den Predigten seines Onkels, der ganz sicher intellektuell wie seelsorgerlich über große und allgemein von seiner Gemeinde hoch geschätzte Talente verfügte, zudem ein sympathisch-liberaler Theologe war, hatte er als junger Mann wenig anfangen können. Sie waren zu lang. Sie betrafen ihn nicht. Gestik und Mimik des Predigers waren ihm vertraut. Er mochte ja seinen Onkel. Er fühlte sich zu ihm hingezogen, diskutierte auch gerne nach dem Gottesdienst im Pfarrhaus mit ihm, trank seinen ersten Cognac bei einem solchen Gespräch, rauchte auch einmal eine Zigarette dort, als er sechzehn Jahre alt war. Das darfst du jetzt, wenn du nicht süchtig wirst, hatte sein Onkel ihm gesagt. Aber mit den Predigten – das war eine ganz andere Sache.

So hatte der Mann angefangen, in seinem Kopf leere Flächen typografisch zu gestalten, die Umrisse der Fenster nachzuzeichnen und die Fenster zu zählen. Sah er im Fernsehen später die Buchstaben einer Bauchbinde, also die Texteinblendungen mit den Namen und Funktionen der jeweils auf dem Bildschirm gerade präsenten Personen, stichelte er die Zeichen wie bei einer Radierung nach. Leere Felder musste er mit seinen Linien bebildern. Niemand merkte dies, aber ihm wurde das Zuhören der Predigt und der Liturgie leichter, weil er in andere Linien- und Formstrukturen auswich. So war in ihm die Begabung gewachsen, die Choreografie jeder Bewegung im Raum vorzuzeichnen und darüber zu staunen, dass es so viele Menschen gab, die sich in den Räumen auf falschen Linien bewegten: uninspiriert, bar jeder Eleganz, unempfänglich für jede Harmonie beim Betreten von Plätzen, Straßen und Räumen.

Weil er immer die gleichen Gassen und Straßen gegangen war, morgens und abends, weil ihn die Geschäfte mit ihren Schaufenstern voller Mode und Verzweiflung abstießen (einmal hatte er sich in ein Sakko eines italienischen Markenherstellers verguckt, er hatte den Laden betreten und im ersten Stock das Sakko sofort gefunden, aber im Neonlicht des Ladens war die Schönheit der Jacke verschwunden), begann er, bestimmte Autotypen auf seinem Weg zu zählen. Heute Range Rover, 4 Stück. Morgen Fiat 500. 16 Stück. Volkswagen aller Wagentypen: 35. BMW: 12. Mercedes: 8. Als ihn das zu langweilen begann, zählte er Motorroller. Rote. Violette. Schwarze. Weiße. Metallisch-blaue. Da kam er auch auf stattliche Zahlen. Als ihn diese Zählerei nervte, leitete er seine akribische Beobachtungslust aufTrachtenhüte um. Die hohe Dichte an Trachtenhüten in der Innenstadt überanstrengte ihn fast. Grüne Hutbänder, rote Borten, Abzeichen, Edelweiß, Gamsbart, Pfauenfeder (nicht nur bei den Damen), Veteranenauszeichnungen, Jagdverbandsinsignien, Hirschhornovale, Bergführer-Embleme, Silbernadeln mit den Namen von Berggipfeln, Almhütten-Souvenirs. Als merkwürdig hatte es der Mann damals empfunden, dass der Salzburg-Verächter und an Salzburg leidende Thomas Bernhard in seinem Ohlsdorfer Vierseithof auch über solche rustikalen Kopfbedeckungen verfügte. Breite Krempen, vorne oft hochgerollt, hinten den Hals bedeckend, Schlapphüte filzschwer, als stammten sie aus dem Nachlass von Luis Trenker. Der Mann sah alles. Und er versuchte, die Trachtenhutdichte in der Innenstadt pro zehn Quadratmeter zu errechnen.

Später, und das war nicht so anstrengend, zählte der Mann die Autos nach Farben. Er wusste mehr über die Vorlieben potenzieller Autokäufer als so mancher Marktforscher, aber er behielt sein Wissen für sich, andere ging das nichts an. Seit Neuestem zählte er bei den Passanten schwarze Schuhpaare, echte Lederschuhe, weil er braune Schuhe nicht ausstehen konnte. Dunkler Anzug, braune Schuhe. Dunkelblaues Kostüm. Braune Slipper. Es war schrecklich. Aber der Schrecken war zählbar und dadurch zähmbar, und so addierte der Mann, was er sah.

»Guten Morgen! Alles okay?«

Zwei Zäune weiter taucht ein Nachbar auf, der wie der Mann seinen Vormittag im Garten verbringt.

»Bestens!«, sagt der Mann.

Der Nachbar hat einen roten Kopf, ganz ungewöhnlich am Morgen. Das fällt dem Mann sofort auf. Der Nachbar ist aufgeregt.

»Haben Sie gesehen, da ist ein Vermessungstrupp unterwegs! Was wollen die?«

»Ich habe die Orangemänner auch schon gesehen«, sagt der Mann. »Die stehen da schon seit einer Stunde in der Gegend herum. Der eine hält Stangen. Der andere schaut in ein Fernglas auf seinem Stativ. Der Dritte macht sich Notizen auf einem Klemmbrett mit vielen Formularen.«

»Ein ruhiger Job. Und immer an der frischen Luft.«

»Wir sind es auch!«, sagt der Mann.

»Was die da bei uns wollen?«

»Ich glaube, dass sie die Kanalisation neu vermessen. Die ist doch marode. Da werden vielleicht im nächsten Jahr neue Rohre verlegt.«

»Oder der Ausbau des Glasfasernetzes …«, sagte der Nachbar. »Die waren schon bei uns in der Straße.«

»Wir werden sehen«, sagt der Mann.

»Es ist kein gutes Zeichen, wenn die auftauchen!«

»Es wird nicht so heiß gegessen wie gekocht«, sagt der Mann.

»Haben Sie auch so viele Schnecken?«

»Na ja!«, antwortet der Mann. »Es ist wie es ist.«

Der Mönchsberg und der Kapuzinerberg leuchten jetzt frei von Dunst und Nebel im Morgenlicht, ein schmaler goldener Streifen. Es ist wärmer geworden. Die Konturen der Silhouetten von Häusern und Bergen zeichnen sich messerscharf unter dem Himmel ab, wie mit einer Graviernadel in den Horizont geritzt. Nichts lenkt das Morgenlicht ab. Der Himmel sieht ganz frisch aus, der Dunst hat sich verzogen.


Am nächsten Morgen steht der Kleintransporter mit dem gelben Blinklicht wieder vor der Kleingartenanlage des Vereins Amicitia Salzburg. Diesmal vermessen die drei Männer die Seitenlänge des Geländes, später die Rückseite. Wie ein Schwarm von Spatzen verbreitet sich die Nachricht von der Vermessung ihrer kleinen Welten unter den Kleingärtnern. Sie stehen in Gruppen zusammen, manche gestikulieren heftig, andere fassen sich an die Stirn. Einige schweigen.

Der Mann sucht keinen Blickkontakt. Er hält wenig vom Geschnatter der Nachbarn, die ihn an die Gänse auf dem Kapitol in Rom erinnern: Alarm! Alarm! Es ist doch gut möglich, dass der Grundstückseigentümer, die Stadt Salzburg, ihr an den Kleingartenverein verpachtetes Gelände in seinem Umfang neu berechnen lässt. Es gibt ja für Grund und Boden neue Berechnungsmodelle, das trifft jeden Eigentümer, das ist nichts Besonderes.

Zwei Kleingärtner prosten sich mit ihren Flaschen Stiegl-Bier zu. Ihm fällt auf, dass sie so früh am Morgen schon trinken. Bisher hat er das noch nicht beobachtet. Der eine wird laut. Er ballt seine Faust. Der andere klopft ihm auf die Schulter. Abwarten!, kann das bedeuten. Oder: Beruhige Dich! Der Mann versteht die Worte nicht. Draußen blinkt das Gelblicht auf dem Kleintransporter. Der Mann wird jetzt erst einmal die Schnecken einsammeln.

Früher hat es für die Bepflanzung der Gärten strenge Regeln gegeben. Es ist festgelegt gewesen, wie viele Quadratmeter für Blumen und Ziersträucher zu reservieren waren, wie viele für Gemüse und Gewürze und für die Rasenfläche, auf der Kinder spielen konnten, Vogeltränken standen oder Gartenzwerge, hin und wieder auch ein Bambi, eine Gämse oder ein Steinadler, aus einem Kunststoffmaterial gegossen und mit dunklen Farben bemalt. Über allem flatterten die rot-weiß-rote Fahne oder die Flagge Salzburgs. Der Mann bedarf solcher Identitätszeichen nicht. Er weiß doch, wo er lebt und was er liebt. Er braucht keine Fahnen, um Halt zu finden, ein Bekenntnis abzulegen oder einem Feind zu signalisieren, dass hier ein fremdes Territorium beginnt.

Seine Nachbarn weiteten die Rasenflächen aus. Jahr für Jahr vergrößerten sich die kurz geschnittenen grünen Areale, die Nutzflächen wurden immer kleiner. Aber auf dem blütenfreien Rasen stehen jetzt neue Hochbeete, günstig im Baumarkt erhältlich. Schneckensicher. Igelsicher. Schädlingssicher. Von wegen. Der Mann pflückt die ersten Schnecken von den Außenwänden des Hochbeets ab, das er sich schließlich auch, später als die anderen, angeschafft hat. Sie sind nicht zu überlisten. Nach zwei, drei Jahren haben sie oder ihre Nachkommen entdeckt, wie sie die lackierten Holzflächen erklimmen können, ganz langsam, beharrlich. Die getrockneten Schleimspuren glänzen im Morgenlicht. Der Salat ist nicht befallen. Die Kräuter lassen sie in Ruhe. 17 Schnecken zählt der Mann.

Unter den Efeublättern kleben sehr kleine Schnecken mit gelben Häusern. Auch sie können hier nicht bleiben. »Tut mir leid!«, sagt der Mann. Schneckenhaus nach Schneckenhaus löst er aus seiner Verklebung unter dem Efeu. Es sind 43 Stück. Auch heute trägt er die Schnecken in den Frischhalteboxen aus der Kleingartenanlage hinaus. Diese winzigen, knallgelben Schnecken kannte er früher nur als Fundstücke am Strand von Saint Simon im Finistére der Bretagne, am Ende der alten Welt. Stunde um Stunde hatten sie damals die kleinen leeren Schneckenhäuser gesammelt, sie in Glasbehälter eingefüllt, die heute noch in seinem Badezimmer stehen. Souvenirs? Vielleicht. Eher die Materialisierung von glücklichen Augenblicken an den Stränden, das Wasser war kalt, es war Ebbe, und die Zeit verlor sich im Suchen zwischen den Wasserlachen in der steifen Brise vom Atlantik her. Die kleinen und mittleren Steine lassen sich gut umdrehen, und unter ihnen sind Wunderwelten zu entdecken.

Draußen flackert das gelbe Blinklicht. Vielleicht ist für die Fernwärme eine neue Rohrverlegung geplant. So könnte es sein. Das wäre möglich.

5

Wolff schrieb.

Er hatte sich aus der Abteilung Archiv und Dokumentation biografische Daten über den Chefredakteur kommen lassen. Die Programmassistentin stellte ihm eine Tasse mit frischem Kaffee hin, sagte kein Wort und verließ sein Büro. Wolff neigte nicht zur Übertreibung. Aber die Nachricht vom Tod des Chefredakteurs ließ den Flurfunk, wie der Klatsch intern genannt wurde, abrupt verstummen, dieses Netzwerk für schnelle Informationen quer durch das Haus mit seinen offenen Redaktionstüren und dem schneckenförmigen Treppenhaus im Hauptgebäude. Es war ruhiger als sonst. Die Telefone läuteten nicht im gewohnten Rhythmus eines Arbeitstags. Wolff hatte knapp 30 Minuten, um den Nachruf zu verfassen. Dann würde er ihn vom Hörfunkdirektor gegenlesen lassen und in das Aufnahmestudio eilen. Im Haus der 1000 Uhren wurden Zeiträume exakt vermessen, und sie waren knapp kalkuliert. Wer zu spät in die Tonträgerbearbeitungsräume kam, Selbstfahrerstudio hin oder her, verlor den Termin, der nach 10 Minuten an andere vergeben wurde. Die Dispo machte da keine Ausnahmen. Der Nachruf sollte im Anschluss an die Mittagsnachrichten in zwei Programmen gesendet werden, die aktuellen Programme würden sich auf eine knapp formulierte Meldung beschränken, im Übrigen auf die Würdigung in den beiden anderen Wellen hinweisen.

Wolff, der seit seinem 16. Lebensjahr journalistisch arbeitete, noch als Schüler, später als Student, der seitdem auch gewusst hatte, dass er Journalist werden wollte, und der erst für eine Sonntagszeitung, dann für eine aktuelle Agentur und schließlich für die Lokal- und Feuilletonredaktion seiner Heimatzeitung geschrieben hatte, hatte von seinem späteren Chefredakteur einer Heidelberger liberalen Tageszeitung gelernt, dass gute Journalisten nicht über die ersten Zeilen ihres Beitrags nachdenken dürfen. »Sie sollen einfach anfangen!«, hatte damals der Chefredakteur zu ihm gesagt und er strich den ersten Absatz seiner Kritik über einen Vortragsabend des Professors Joseph Ratzinger. Dabei hatte Wolff sehr lange über dem Einstieg in seine Kritik gebrütet. Eine ganze Kanne Tee hatte er getrunken, bis er die ersten Zeilen niederschreiben konnte. »Und«, hatte der Chefredakteur gesagt, »Überschriften formulieren wir selbst«, und er strich die Headline, die Wolff nicht weniger beschäftigt hatte. Ja, es war so, und es stimmte auch: Beginne einfach zu schreiben, auch wenn du noch nicht weißt, wie du anfangen sollst. Nach 10 Zeilen weißt du es. Ist dein Text gut, dann schreib weiter. Ist er nicht gut, dann weißt du, wie du ihn jetzt schreiben musst. Wolff hatte diesen Rat beherzigt, sich an ihm in vielen Jahren abgearbeitet, jetzt aber war ihm das schnelle Schreiben zur Routine geworden.

»Fang an!«, flüsterte er vor sich hin. Und er fing an. Zwei Voraussetzungen aber mussten erfüllt sein: die Tür zum Vorzimmer schließen und eine Zigarette anzünden. Noch war das Rauchen im Funkhausareal erlaubt, aber Wolff hatte sich schon auf den drohenden Verzicht eingestellt, den ein hausinternes Rundschreiben angekündigt hatte. Vielleicht auch würde er mit dem Rauchen aufhören. Jetzt aber konnten die Rauchringe über dem Keyboard seines Computers noch sanft aufsteigen. Alles stimmte jetzt, und der Nachruf würde bald geschrieben sein.

Wolff würde sein Arbeitsverhältnis zu Steiger als ein Nicht-Verhältnis beschreiben. Sie beide waren sich mit Misstrauen, lauernd, einander taxierend begegnend, in den Konferenzen immer wieder im verbalen Clinch ineinander verhakt, und dafür gab es viele Gründe.


Ich – Steiger.

Es ist doch nicht in Ordnung, wie die Alt-68er sich in ihren Redaktionen aufführen. Sie sind vielleicht hochintelligent, das mag ja sein, aber sie betreiben völlig einseitig ihren Betroffenheitsjournalismus. Einseitig, verstehen Sie? Da kommen im Programm nur ihre ideologisch gleichgeschalteten sogenannten Experten zu Wort, sogenannte Schriftsteller, sogenannte Multiplikatoren, die nicht in der Lage sind, andere Meinungen zu akzeptieren.

Was hilft es denn, dass – der Parteienlandschaft im Freistaat entsprechend – die Führungsjobs mit Männern und Frauen besetzt sind, die der richtigen Partei angehören oder ihr sehr nahestehen? Die Programme werden in der Praxis von den Leuten an der Basis gemacht, nicht von denen, die in der Hierarchie aufgestiegen sind. Schon wie sie sich anziehen, diese Hascher: schwarzes Anarchisten-Outfit, Turnschuhe, keine Krawatten, keine Trachtenjanker, die Frauen in wallenden bodenlangen Kleidern oder in Jeans. Grauenvoll. Sie machen – das muss ich objektiv feststellen – spannende und glänzend gebaute Sendungen, aber sie sind einem Missionsjournalismus verpflichtet, den sie ganz raffiniert tarnen. Ich kenne ihre Absichten.

Letzte Woche gab es wieder ein Palaver mit den Salonlinken. Ich hätte in einem Kommentar die neue Partei der CSU-Rechtsabspaltung »Die Republikaner« ohne das Attribut »rechtsradikal« erwähnt, den Parteichef, übrigens einen früheren Fernsehkollegen, gar hoffähig gemacht. Völliger Unsinn. Der Mann kam aus der Partei des Ministerpräsidenten. Bei regelmäßigen Zusammentreffen mit dem Ministerpräsidenten und wenigen anderen Vertrauten, wo dann viel getrunken und Deutschland neu geordnet wurde, von Grund auf, weil es endlich Ordnung geben musste im Land, wurde entschieden, dass – so betrüblich der Fakt der Abspaltung war – einer neuen Partei auch eine Chance gegeben werden musste. Es ist ja nicht alles unvernünftig, was sie fordert. Ich habe in der Redaktionskonferenz eine dringende Empfehlung ausgesprochen, diese Partei und ihren Vorsitzenden nicht mit dem Begriff »rechtsradikal« zu diffamieren und im Klartext hinzugefügt, dass ich dringend rate, sich an diese Empfehlung zu halten. Da haben sie alle ganz dumm geschaut.

Diese Neolinken, die so wenig Geschichtsbewusstsein haben, dass sie nicht einmal das Kapital von Karl Marx gelesen haben, rannten dann gleich zu ihren Gesinnungsfreunden in den Zeitungsredaktionen, die mir sofort einen Skandal anhängen wollten, weil meine Empfehlung als Anweisung für die Nachrichtenredaktion verstanden wurde. Mein Gott, diese dünnheutigen Gutmenschen!

Dumm war die Angelegenheit nur, weil sich der Innenminister als Mitglied des Rundfunkrats einschaltete, zudem auch noch sein Generalsekretär. Beide erklärten, sie verstünden nicht, weshalb auf eine das Publikum über die Republikaner informierende Sprache verzichtet werden solle. Der Verfassungsschutz war bereits tätig, aber als die sogenannte Affäre durch die Printmedien ging, fanden Innenminister wie Generalsekretär die Empfehlung des Chefredakteurs »deplatziert und fatal«. Und der Chefredakteur war ich, schon damals. Da verstehe einer noch einmal die Politik.

Wie aufgescheuchte Hühner rannten die Neo-Linken durch das Haus. Ein freier Mitarbeiter protestierte gegen die Anweisung seiner Redaktion, den Begriff »rechtsradikal« in seiner Berichterstattung zu unterlassen, wenn er weiter beschäftigt werden wolle.

Ich habe dann öffentlich erklärt, dass wir die Empfehlung nur ausgesprochen hätten, weil wir die übrigen Parteien ja auch nicht kommentieren. Die Hörerinnen und Hörer wüssten ohnehin, was hinter den Republikanern steckt.

Das ist jetzt lange her. Aber die Sache ärgert mich bis heute. Nach links sind sie blind, diese ideologisch Verblendeten, und nach rechts schauen sie mit einem schärferen Blick als ein Steinadler.

Nur der Wolff hat damals in der Konferenz zu mir gesagt: Sie haben mir keine Anweisungen zu geben. Ganz ruhig, ohne jeden frechen Unterton.


Das Nichtverhältnis zu Gerald Steiger bedeutete für Al Wolff nicht, dass er nicht immer wieder die Nähe zum Chefredakteur gesucht hatte. Gerieten sie sich in den Konferenzen heftig in die Wolle, dann suchte Wolff am Nachmittag den Kontakt. In der Kantine setzte er sich zu ihm und sie redeten miteinander, als habe es den Vormittag nicht gegeben. Wolff war es wichtig, dass keine Verletzungen entstanden.

Bei einem Gangfest, einer jener legendären Geburtstags- oder Abschiedsfeiern im Flur und in den Räumen der jeweils einladenden Redaktion, als die ersten beiden Kollegen in den Stapel der Bierkästen gefallen waren, nicht mehr tritt- und sprachsicher, war Steiger auf Wolff zugekommen. Er hatte sich mit seinem Bierglas in der Hand dicht vor ihm aufgebaut. Er schwankte etwas, nahm einen langen und tiefen Zug aus seiner Zigarre und blies ihm den Rauch ins Gesicht: »Ich verstehe euer Programm zwar nicht, aber ihr seid schneidig!« Wolff hatte den Begriff »schneidig« seit Jahrzehnten nicht mehr gehört. Er begriff, dass ihm Steiger ein Kompliment machen wollte. »Vielen Dank«, gab Wolff zurück. Steiger legte seinen Arm um Wolffs Schulter und sagte: »Ich bin der Gerald«. Wolff zögerte. Dann stieß er mit seinem Bierseidel an und sagte: »Ich bin der Al!« Der Chefredakteur trank auf Bruderschaft, Wolff auf Kollegialität, ohne darüber zu reden. Am nächsten Vormittag diskutierten sie wieder kontrovers und leidenschaftlich, wobei erwähnt werden muss, dass Steiger immer dann, wenn die argumentative Schärfe kaum noch zu steigern war, die Waffen streckte und der Debatte mit einem »Unglaublich!« auswich.

Es dauerte Wochen, bis sich Wolff und Steiger auch öffentlich duzten. Wolff, der sich jetzt besonders darum bemühte, sympathische Eigenschaften bei seinem Chefredakteur zu entdecken, war es anfangs etwas peinlich. Denn jeder und jede in den Redaktionen wussten, dass sich die beiden Kontrahenten grundsätzlich unterschieden: in ihrem Verhalten, in ihrer Bildung, in ihrem Denken, in ihrer Kleidung, in ihrer Wortwahl und in ihren fachlichen Interessen. Aber Wolff spürte, dass der Chefredakteur, hinter seiner Grobheit versteckt, durchaus ein Faible für ihn hatte, und er empfand, wenn er sich anstrengte, ebenfalls ganz kleine Anfänge einer Sympathie. Das konnten manche nicht verstehen.

Wolff aber wusste, dass in einem Funkhaus nicht eine Versammlung grundsympathischer Menschen anzutreffen war, Freundschaften waren selten, Kollegialität war ausgeprägt, Flügelbildung logisch. Er wollte Menschen nicht verändern, das konnte er nicht und das stünde ihm auch nicht zu, aber er wollte kollegial gerade mit jenen Journalistinnen und Journalisten im Haus zusammenarbeiten, die sich wie er für das Medium Rundfunk begeisterten. Einige sagten von Wolff, er sei diplomatisch begabt. Fair und in seiner Haltung stark.

Dabei war Wolff immer schon ein Zweifler gewesen, ein Skeptiker, auch sich selbst gegenüber. Kam er aus einer Livesendung, die er moderierte, in den Regieraum, hätte er am liebsten die Sendung völlig neugestaltet. Er wusste in den ersten Jahren nicht, ob es gut war, was in den letzten beiden Stunden gesendet worden war. Aber wenn ihm andere gratulierten, nahm er die Komplimente gerne an. Am wichtigsten waren ihm die Rückmeldungen von den Studiotechnikern der Sendung. Dann empfand er eine Befreiung vom Druck. Mehr nicht.

Er verabschiedete sich, ging durch die langen Funkhausflure bis hinüber zum Hochhaus, nahm den Aufzug, fuhr in den 13. Stock, stieg aus, schloss die Tür zu seiner Redaktion auf und atmete erst einmal tief durch. Erst später würde sein Team noch einmal mit den Sendeunterlagen bei ihm vorbeischauen, und er würde ein Glas Wein anbieten. »Ja, die Sendung war okay«, sagte er, um nicht eine längere Manöverkritik zu ermöglichen. »Morgen«, sagte er, »morgen setzen wir uns zusammen.«

Wolff hatte immer anerkannt, dass Gerald Steiger seine Kommentare brilliant formulierte. Seine Beiträge, die ihm Steiger in einem Sammelband, herausgegeben im Selbstverlag, an einem späten Abend mit einer freundlichen Widmung überreicht hatte, folgten den Gesetzmäßigkeiten für Meinungsbeiträge: Reduktion komplexer Themen auf knappe Bilder, Vermeidung jeglicher Sowohl-als-auch-Beschreibungen der Fakten, Verzicht auf jede schwammige Position, deshalb klare Haltung. Kommentare bedürfen an deren Ende eines an das Publikum weitergegebenen Fragezeichens oder eines Ausrufezeichens. Nur dann stimmte die Struktur eines guten Kommentars.

Kommentare sind Anstiftung zum selbstständigen Denken des Publikums. Immer gelingt das natürlich nicht.

Als Steiger seinen 60. Geburtstag feierte, gratulierte ihm Al Wolff handschriftlich und schenkte ihm ein Exemplar der schmalen Autobiografie von Hanns Joachim Friedrichs, die der Autor, schon sterbenskrank, noch geschrieben hatte. »Überall dabei sein, nirgendwo dazugehören!« Das war eine der Leitlinien des moderierenden Chefredakteurs der ARD-Tagesthemen gewesen. »Sich nie mit einer Sache gemein machen, und sei es eine gute Sache!«. Darüber könnte gestritten werden. Auf seine Glückwunschkarte schrieb Wolff dem Chefredakteur: »Ich bewundere Ihre Kommentare, auch wenn sie immer die falsche Meinung vertreten.« Steiger hatte dieser Glückwunsch besonders amüsiert.

Wolff hatte nicht mehr viel Zeit.

Er schrieb seinen Nachruf weiter. Über den im ganzen Land bekannten Publizisten, der als junger Mann dem Team um den späteren Bundeskanzler und früheren Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard angehört hatte, ein Radiojournalist, der sich schon früh für eine soziale Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland engagierte, sich für die Zurückhaltung des Staats gegenüber der Wirtschaft im eigenen Land und in Europa aussprach und danach viele Jahre in der alten Bundeshauptstadt Bonn als akkreditierter Journalist am Deutschen Bundestag für unterschiedliche Printmedien tätig war. Das war vor Wolffs Zeit in seinem Sender gewesen.

Er schrieb.

»Gerald Steigers Stimme, der sich als Journalist immer als Vermittler zwischen Wirtschaft und Gesellschaft, Parteien und Wählern, Europa und dem deutschen Föderalismus, Afrika und seiner bayerischen Heimat sah, ist verstummt. Wir sind entsetzt über seinen Tod. Seine unverwechselbare Stimme polarisierte oft. Er stand einer Partei ganz sicher näher als anderen, aber auch die anderen prüften seine Analysen und seinen scharfen Blick auf die politischen Entwicklungen bei uns und auf dem afrikanischen Kontinent, für den er sich seit seinen jungen Jahren immer leidenschaftlich engagiert hatte. Mag sein, dass er als Chefredakteur in seinen Reportagen und Kommentaren viele Menschen provozierte, die bei ihm die gebotene Distanz gegenüber Parteien und Regierung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk vermissten. Zugleich beklagten sich Regierungspartei wie Staatsregierung immer wieder über die Unabhängigkeit dieses konservativen Journalisten, der sie nicht selten das Fürchten lehrte. Er hat es seinem Publikum nicht leicht gemacht, aber sein Publikum machte es ihm auch niemals leicht.«

Wolff hatte in Nachrufen nie gelogen. Es galt, Wahrheiten in eleganter Form auszusprechen, ohne verletzend zu sein. De mortuis nil nisi bene: Das kam für Wolff nicht infrage. Er schrieb nicht seinen ersten Nachruf. Er würde Wahrheiten niemals ausklammern, es kam nur darauf an, wie sie ausgesprochen wurden.

Weshalb auch sollte er seine distanzierte Nähe zu Steiger verraten: die Kollegialität, auch die wenigen fast freundschaftlichen Situationen, wenn die Weingläser zwischen ihnen standen und die blaue Stunde über München herabsank: Zwischen einem stramm Konservativen mit uneingestandener Sehnsucht nach Akzeptanz, gerade auch bei seinen Kolleginnen und Kollegen, und Wolff, dessen Skeptizismus von Tag zu Tag wuchs. Das System wurde ihm fremd und fremder. Er hatte viele Jahre lang nicht verstanden, weshalb Führungskräfte im Haus so oft klare Stellungnahmen vermieden, sich um Entscheidungen drückten und erst abwarteten, was sich ereignen würde, bevor sie sich eine eigene Meinung bildeten oder die der Vorgesetzten übernahmen. Er glaubte zunehmend die Prozesse einer déformation professionelle zu verstehen, die ihre Ursache im System hatten. Das System hatte eine Führungsstruktur nach dem Bild einer Pyramide. Je weiter man nach oben kam, desto schmaler wurde die Plattform. Und oben saß nur einer.

Vielen Führungskräften, so empfand es Wolff, fehlte der Mut, auf die Kreativität und Professionalität von Redaktionen zu setzen, ihnen zu vertrauen, sie arbeiten zu lassen. Stattdessen teilten sie jede auch nur im Ansatz entstehende Macht. Je stärker sie das Konkurrenzdenken zwischen den Abteilungen förderten, für umso ungefährdeter hielten sie ihre eigene Position. Es wurde zwar viel von lean management geschwätzt, aber Wolff empfand dies nur als Show, denn die Wirklichkeit war ganz anders. Es sei denn, man widersetzte sich ihr, was zwar möglich, aber keineswegs überall üblich war.

Wolff hielt diese Entwicklungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk für gefährlich und kontraproduktiv. Seit Jahrzehnten hatte er immer wieder bei Organisationsstrukturreformen beobachtet, dass journalistische Kompetenz und inhaltliche Kongruenz nicht zu starken Redaktionseinheiten führten. Im Gegenteil: Es galt das Prinzip der Zellteilung. So gab es etliche Redaktionen, die Programme für junge Leute anboten, mehr nebeneinander als miteinander, statt eine starke Redaktionsgruppe zu bilden, die zielgruppen- und wellengerecht attraktive Sendeformate entwickeln und realisieren konnten. Divide et impera! Wolff kannte die Sprüche, ihre Weisheit war ihm nicht unbekannt geblieben. In den Redaktionen saßen die kreativen Kolleginnen und Kollegen, in den Programmbereichen und Hauptabteilungen gab es zu viele Bedenkenträger. Wolff hatte nie erlebt, dass ihn ein Vorgesetzter je ermutigt hätte. Es gab immer etwas zu bedenken. Und Wolff sagte dann lakonisch: Wir haben bedacht. Und dann war es meist gut. Wenn das Echo auf die Sendung positiv war, gab es auch Lob. Aber meist hatten die Vorgesetzten das Programm gar nicht gehört. Manche hatten es auch hören lassen. Der Chefredakteur zum Beispiel von seinem Hund.

Noch 15 Minuten.

Das Manuskript ausdrucken, durchlesen, korrigieren. Einmal laut lesen. Dann in die Hörfunkdirektion. Der Schlusssatz fehlte noch.

Ein metallisches Geräusch auf der Fensterbank im 13. Stock des Hochhauses.

Ein Schatten. Der Fensterputzer. Mit zwei Eimern in den Händen geht er auf dem schmalen Sims vor den Eckfenstern, taucht plötzlich am Fenster von Wolffs Büro auf. Wolff wusste: Er wird sich gleich bei den Ösen zwischen den Fenstern einhaken. Ein Sicherheitssystem. Zwischen den Ösen, ausgeklinkt, läuft der Fensterputzer frei um die Ecke des 13. Stocks, in jeder Hand trägt er einen Eimer. Wolff ist nicht schwindelfrei. In einem Vortrag der Bayerischen Akademie für Wissenschaften, er war ganz bewusst dorthin gegangen, als er gelesen hatte, ein Professor der Schwindelambulanz des Großklinikums würde dort referieren, erfuhr Wolff: Wenn sich Schwindel einstellt, ist es gut, auswendig ein Gedicht aufzusagen, zu zählen oder den Blick auf den fernen Horizont zu richten. Es sei übrigens besser, auf dem Dach eines Hochhauses zu liegen als zu stehen.

Aber wer steht oder liegt schon gerne da oben?

Wolff musste jetzt sofort aufstehen. Er konnte nicht länger zum Fensterputzer schauen. Er verließ sein Büro und schlenderte den Gang entlang. Gerade noch hatte ihm seine Programmassistentin zugerufen:

»Sie müssen gleich ins Studio.«

»Ich weiß«, hatte Wolff ihr entgegnet.

Als die Fenster geputzt waren, der Schatten auf dem Außensims verschwunden war, kam Wolff zurück und schrieb seinen letzten Satz. Er sah nicht, dass inzwischen ein Pulk von Mauerseglern über den diesigen Himmel kreuzte. Er hörte nicht den Verkehr, dessen Geräusche, den Fallwinden des Hochhauses trotzend, normalerweise bis zu ihm heraufdrangen. Er dachte an Steiger und setzte den Punkt unter seinen letzten Satz.

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9783702580803
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