Читать книгу: «Die Kunst, auf dem Wasser zu gehen», страница 4

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Zwei Tage später stand das literarische Urgestein höchstpersönlich vor unserer Wohnungstür. Ein drahtiger, grauhaariger Mann in Turnschuhen, zu jung, wie ich fand, um Janis’ Vater zu sein. Aber zu alt, um enge Jeans und ausgewaschene T-Shirts zu tragen.

Janis war nicht zu Hause. Er hatte etwas von einem Vorstellungstermin gefaselt, was höchstwahrscheinlich bedeutete, dass er in irgendeinem Café vor sich hindümpelte. Natürlich tat ich dem Professor gegenüber so, als erwartete ich ihn jeden Moment zurück.

Und während Adrian in der Küche bei einem Kaffee saß, erzählte er mir, wie sehr er sich um seinen Sohn sorgte, da er gehört habe, dass er seinen Job verloren habe. Dass er jedes Verständnis dafür habe, wenn man sich in jungen Jahren erst finden müsse, alles mögliche ausprobieren, um herauszufinden, in welche Richtung man sich orientieren wolle. Dies aber bedeute wiederum nicht, dass es ihm als Vater egal sei, welche Richtung sich dann letztendlich durchsetzen würde. Für Eltern sei der Balanceakt zwischen helfen wollen und keine Kontrolle ausüben wollen oft schwer zu vollbringen, diese Erfahrung würde ich sicher später auch noch machen. Adrian Quint erkundigte sich ausführlich nach meinen Plänen und zeigte sich sehr interessiert, überdies hocherfreut, dass ich die mir selbst gesteckten Ziele mit einer so ‚bewundernswerten’ Konsequenz in Angriff nehme.

Ich verstand immer weniger, was Janis gegen seinen Vater hatte. Dieser Mann verstand zu plaudern, ohne auf die Nerven zu fallen, er war intelligent und witzig. Seine Weltsicht war ein vielseitiges Farbenspektrum, nicht jenes grelle Schwarz-Weiß, das Janis bevorzugte.

Als der Professor die dritte Tasse Kaffee getrunken hatte, kreuzte Janis endlich auf. Er schien nicht begeistert zu sein, seinen Vater zu sehen, und verwundert war er schon gar nicht.

„Ich hatte mir schon gedacht, dass du aufläufst“, brummte er unfreundlich.

Adrian hob eine Augenbraue, um deutlich zu machen, dass er sich nicht provozieren lassen wollte. Dann nahm er noch einen Kaffee und übte sich in väterlicher Geduld.

Janis blieb einsilbig, erwies sich als ein schlechter Gastgeber, der seinem Überraschungsbesuch das Gefühl gab, unwillkommen zu sein. Mit der Zeit kam mir der Verdacht, dass Janis meinetwegen diese Register zog, um seinen Vater hinauszuekeln. Ihr beider Verhältnis mochte sein, wie es wollte, aber das, was sich hier abspielte, war ein Stück, das für mich inszeniert war. Irgendetwas ließ Janis wohl glauben, dass es ihn in meinen Augen aufwertete, wenn er das Enfant Terrible spielte.

Adrian Quint sah schließlich auf eine Uhr. „Tja, ich habe in einer Stunde ein Seminar zu halten“, sagte er und erhob sich. Bevor er ging, legte er einen Briefumschlag auf den Tisch. „Das ist für’s Erste“, sagte er. „Wenn du mehr brauchst, mein Sohn, ist das kein Problem. Komm zu mir und rede mit mir. Wenn du dir darüber im Klaren bist, was du willst, werde ich dich gern auch regelmäßig unterstützen.“ Er nickte mir zu. „Danke für den Kaffee.“

***

In dem Briefumschlag waren dreihundert Euro. Für uns bedeutete es den Ausweg aus unserer momentanen Notlage. Ein Geschenk des Himmels aus meiner Sicht.

Was mich betraf, so hatte ich nämlich nicht das Glück, Eltern zu haben, die sich um meine finanzielle Situation scherten und beim Gehen einen satt gefüllten Briefumschlag auf dem Tisch zurückließen. Vor gerade erst zwei Wochen hatten sie sich getrennt. Mama hatte ein Verhältnis mit einem katholischen Priester angefangen. Sie hatte ihn auf einem Workshop über männliche Sexualphantasien kennengelernt und behauptete, er habe ihr leid getan, weil er sich sehr allein gefühlt habe, außerdem habe sie ihn dafür bewundert, wie sehr er sich für andere Menschen aufopfere. Von leid tun wollte Papa aber nichts wissen und brüllte sie an, ob sie etwa die über alle Maßen taktlose Dreistigkeit besäße, anzudeuten, dass er nicht zu jenen gehöre, die sich für andere aufopferten. Fast eine Woche lang hatten die beiden sich nur angebrüllt. Dann war Mama mit dem Priester an die ligurische Küste gefahren und Stille war eingekehrt. Papa stürzte sich seitdem in Arbeit und organisierte eine Menschenkette für den Frieden, die einmal um den Äquator reichen sollte. Für ihren Sohn waren beide nicht mehr zu sprechen.

„Frag deine Mutter“, brummte Papa, als ich ihn mit der schlechten Nachricht konfrontierte, dass die BaFöG-Zahlungen allein nicht zum Leben ausreichten.

„Wie wär’s denn mit arbeiten?“, fertigte Mama mich am Telefon ab.

Das war unfair. So gut wie jede Minute, die ich nicht mit Pandora verbrachte, nutzte ich für das Studium. Für Aushilfsjobs von der Art, wie Janis sie bevorzugte, hatte ich keine Zeit.

So kam das Unterstützungsangebot des Professors wie ein Rettungsanker in der letzten Sekunde.

Was aber tat Janis? Er nahm den Briefumschlag, der an der leeren Kaffeetasse lehnte. Öffnete ihn, nahm die Scheine heraus und warf einen kurzen Blick darauf. Dann steckte er sie wieder hinein.

„Einen Moment, Vater!“, rief er Adrian Quint nach, der schon im Treppenhaus stand. „Lieb von dir, aber ich brauche das Geld nicht.“ Er hielt ihm den Umschlag hin.

Ich traute meinen Ohren nicht.

Der Professor lächelte leicht genervt. „Das freut mich zu hören, mein Sohn“, sagte er. „Aber nimm es trotzdem, es kommt von Herzen.“ Er sah auf den Briefumschlag direkt vor seiner Nase und wartete darauf, dass Janis ihn zurücknahm.

Mindestens zwanzig Sekunden wartete er - vergeblich.

„Mein Geld verdiene ich mir selbst“, beharrte sein Sohn kalt. „Ich habe gerade eben einen Job angenommen.“

Das Urgestein hörte auf zu lächeln. „Na schön, wie du willst.“ Quint senior schnappte den Umschlag, ließ ihn in seiner Jackentasche verschwinden und trabte ohne Gruß die Treppe hinunter.

***

„Sag mal, tickst du eigentlich noch richtig?“, motzte ich meinen Mitbewohner an, sobald die Haustür ins Schloss gefallen war. „Die Kohle hätten wir dringend gebraucht!“

„Wir?“ Janis sah mich an, als würde ich eine fremde Sprache sprechen.

„Allerdings: Mein elterlicher Geldhahn versiegt, und auf dich kommt eine fette Schadensersatzklage zu. Da wäre es nicht verkehrt, ein kleines finanzielles Polster zu haben.“

„Hast du überhaupt eine Ahnung davon, worum es geht? Er hat den Zaster nur deshalb herübergeschoben, weil sie in der Zeitung seinen Namen in Zusammenhang mit meinem peinlichen Rausschmiss erwähnt haben. Nur darum geht es ihm. Um Schadensbegrenzung.“

„Na und? Wen interessiert es denn, worum es ihm geht? Bitte, komm mal wieder herunter auf den Teppich, Janis! Geld ist Geld, oder etwa nicht?“

Er schüttelte den Kopf. „Selten habe ich so einen Unsinn gehört.“ Damit verzog er sich auf sein Zimmer.

„Was ist das für ein dämlicher Job, den du angenommen hast?“, rief ich ihm nach.

„Als Bestattergehilfe. Morgen früh fange ich an.“

***

Bruno Detleffsen war ein Mann mit der athletischen Figur eines Fußballers. Man konnte sich gut vorstellen, wie er im feindlichen Strafraum auf die Hereingabe des Eckballs wartete und höher als alle anderen sprang, um ihn ins Tor zu köpfen. So wie er aussah, hatte er es nicht nötig anzugeben. Er hatte auch niemals seinen Intellekt einsetzen müssen, um bei Frauen anzukommen, was ihm insofern zum Nachteil gereichte, dass er ihn deshalb auch niemals ausgebildet hatte. Mit einem wie Detleffsen unterhielt man sich über Sport, angesagtes Essen oder ein standesgemäßes Outfit. Man erwartete aber nicht, dass er etwas von Philosophie verstand.

Viel verstand er auch nicht davon, doch war er geschickt darin, sich mit seinem spärlichen Wissen in Szene zu setzen. Detleffsen war das klassische Exemplar eines falschen Propheten: ein Mensch, der nichts zu sagen hat, dies aber so beeindruckend kaschiert, dass die Menschen, die ihm zuhören, sich nichts sehnlicher wünschen, als auch nichts zu sagen zu haben.

Selbst die, die bald begriffen, dass er ein Schwätzer war, hörten ihm weiter zu. So wie ich, wenn ich es auch mit Neid und heimlicher Bewunderung dafür tat, dass er es schaffte, die Leute mit nichts zu faszinieren.

„Wenn du eine große, bedeutende Botschaft hast, Baby, dann ist es doch ein Kinderspiel“, gestand er mir später. „Die Kunst besteht darin zu gewinnen, ohne einen einzigen Trumpf auf der Hand zu haben.“

Detleffsen hatte sich nie die Frage gestellt, auf welcher Seite er stand. Seiten interessierten ihn nicht. Mal veröffentlichte er ein Pamphlet über den Neid als kreative Urgewalt gesellschaftlichen Lebens. Dann konvertierte er zum Pazifismus und rief seine Anhänger dazu auf, gegen Autofahrer vorzugehen, da Autofahren als Akt der Agression zu betrachten sei. Eine seiner Seminararbeiten mit dem Titel Das Selbstmordattentat in der abendländisch christlichen Tradition wurde in Bausch und Bogen abgelehnt und erlangte dennoch völlig unverständlicherweise eine Art Kultstatus. Detleffsen glaubte an das Wort, er war in es verliebt, doch meinte er nicht den Inhalt, sondern seine Wirkung.

Ich hatte zwei Wochen in Südfrankreich an einem Schweigeworkshop in einem Kartäuserkloster teilgenommen. Ausgezehrt und hungrig, wie ich zurückkehrte, konnte ich es kaum erwarten, mit Pandora einen Vortrag über die Heilserwartungen der frühen Apologeten zu besuchen, doch sie ging nicht ans Telefon.

Als ich sie auf einer Party traf, stellte sie mir den Fußballer vor, bei dem sie sich untergehakt hatte. „Das ist Bruno. Er hat sich sehr mit Gotteserfahrungen beschäftigt.“

Mir war das egal und ich war auch nicht wütend. Dieser Kerl konnte ihr nichts anhaben, da war ich mir sicher. Pandoras Ansprüche waren hoch, und einen Schwätzer durchschaute sie innerhalb einer Sekunde, mochte er auch noch so brillant sein. Geradezu lächerlich erschien mir Detleffsens Outfit: langes verfilztes Haar und bloße Füße, die in fleckigen Strandlatschen steckten - das alberne Klischee eines Wanderpredigers.

Ich brauchte mir keine Sorgen zu machen. Schließlich waren wir beide Romeo und Julia und Caesar und Kleopatra in einem. Also dauerte es recht lange, bis bei mir der Groschen fiel. Erst nachdem mir Pandora zwei Körbe hintereinander überreicht hatte, kam mir allmählich der Verdacht, dass sie an weiteren philosophischen Disputen mit mir nicht interessiert war.

„Lass uns zu dir nach Hause gehen“, schlug ich vor. „Ich lese dir aus der geheimen Offenbarung des Johannes vor. Na, wie denkst du darüber?“

Pandora winkte ab, und die Art, wie sie es tat, sagte mir, dass ich verloren hatte.

„Warum dieser Kerl?“, beklagte ich mich. „Er schminkt die Lüge, malt sie bunt an, damit du sie für die Wahrheit hältst. Und ausgerechnet du fällst auf ihn herein.“

„Immer noch besser als sich einzubilden, etwas sei der Weisheit letzter Schluss“, gab sie zurück, „nur weil es langweilig ist und in keiner Weise faszinierend.“

Das saß. Und es stimmte obendrein. Pandora hatte recht, ich war selbstzufrieden geworden, satt und träge in meinem hausbackenen Universitätsstudium. Nie war ich mich weiter von meinen großen Ambitionen entfernt gewesen, die Menschheit ein neues und nie dagewesenes Denken zu lehren.

Damals aber, an jenem adventlichen, frostigen Abend, wollte ich davon nichts wissen. Ich hatte nicht vor, kampflos das Feld zu räumen und all die Nächte, die vor mir lagen, lustvoll aufgeladen durch die vielen vorweihnachtlichen Betrachtungen und Meditationen, an meinen Nachfolger abzutreten.

Stattdessen machte ich Zugeständnisse. „Wie denkst du über eine kleine Auszeit? Abstand kann in festgefahrenen Beziehungen wahre Wunder bewirken.“

„Unsere Beziehung ist aber nicht festgefahren“, meinte Pandora, „sondern du.“

9

Nachdem Rubens und Sigmars Schicksal mich so plötzlich und auf so kalte Weise ereilt hatte, ging es mir schlecht. Ich hatte ein für alle Mal genug von Frauen, fand sie kalt und berechnend, außerdem unberechenbar und abstoßend opportunistisch. Es war nicht schön, so plötzlich im Regen zu stehen, also ließ ich mich gehen und trank bis zur Besinngslosigkeit. Nun ja, ich versuchte es jedenfalls, hin und wieder gelang es mir auch, ich schaffte ein paar Bier, dann wurde mir erst schwindlig, dann schlecht und ich musste kotzen.

Es war eine elende Zeit. Was fanden die Leute nur daran, sich für ihr Unglück zu trösten, indem sie sich in einen Zustand der Übelkeit versetzten? Ich fand mich damit ab, dass ich nicht der Typ zum Durchhängen war. Mein Bruder vielleicht, der sich lieber in volltrunkenem Zustand totgefahren hatte, als bei den Ärzten ohne Grenzen mitzumachen, aber nicht ich, dem selbst im Schlaf ganz klar war, dass jede Minute, die ich nicht für das nutzte, weshalb ich auf dieser Welt war, eine verschwendete Minute war. Dabei gab ich mir Mühe, ließ mich von Janis zu den geistlosen Feten mitschleifen, auf denen er ständig abhing. Hoffte, dass mir das ohrenbetäubende Gewummer abstoßender Musik den Verstand vernebelte, während Quint mir ins Ohr brüllte, wie sein Tag im Bestattungsinstitut verlaufen war.

„Bis jetzt fehlt mir einfach noch die richtige Technik!“, brüllte er, und ich fragte ihn nicht: Technik wofür?, denn es interessierte mich nicht im Geringsten.

Zuhören hatte nie zu meinen Stärken gehört, außerdem waren wir an diesem Abend hier, um mein Selbstmitleid zu feiern. Janis war mein Freund und hatte verdammt noch mal die Pflicht, mich wieder aufzurichten.

„Es ist spät, lass uns gehen“, sagte er stattdessen.

„Zum Teufel, warum fragst du mich nicht, wie du mir helfen kannst?“

„Das habe ich doch schon.“

„Du hast mich bedauert und viel Verständnis geäußert. Aber das ist leicht. Du sollst mir dabei helfen, sie zurückzugewinnen.“

„Wen?“

„Na, wen denn wohl? Die heilige Gottesmutter oder was? Ich rede von Pandora.“

„Aber wie soll ich dir denn dabei helfen?“

Möglich, dass der Alkohol mich die Dinge in einem grelleren Licht sehen ließ. Das machte mich weniger kompromissbereit, intoleranter und aufbrausender. Folglich nervte mich Vieles, was mich unter anderen Umständen vielleicht nicht genervt hätte. Janis zum Beispiel, wie er da saß, den Dummen spielte und unschuldig banale Anekdoten aus seinem Beerdigungsinstituts-Alltag zum Besten gab. „Du kannst auf dem Wasser gehen!“, schrie ich ihn an. „Und das, mein Lieber, ist so etwas wie eine Geheimwaffe. Es ist die einzige Möglichkeit, diesem Detleffsen sein großes Maul zu stopfen.“

Janis spielte weiter den Arglosen. „Was für eine Geheimwaffe?“

„Mensch, wann fällt denn bei dir endlich der Groschen? Er spielt den wahren Propheten, und Pandora steht darauf. Ich kann mich dumm und dämlich abrackern, ihn bei ihr mies zu machen, sie glaubt nur noch mehr an ihn.“ Mein Finger wedelte vor Janis’ Gesicht herum. „Aber mit diesem Kunststück könnte ich ihn übertrumpfen.“

„Das ist aber kein Kunststück.“

„Scheiß egal, was es ist.“ Ich rückte meinem Freund auf die Pelle. „Du zeigst mir, wie es geht, und ich mache den Affen damit fertig.“

„Nein.“

Der Lärm setzte für einen Augenblick aus, gerade lang genug, um mir eine Lücke für meine Fassungslosigkeit zu lassen.

„Nein?“

„Ich kann es dir nicht beibringen.“

„Warum denn nicht?“

„Weil ich auch nicht weiß, wie es geht.“

„Quatsch! Natürlich weißt du es.“

„Weiß ich nicht.“ Janis schüttelte den Kopf. „Du tust ja so, als sei das nur eine billige Show oder so.“

„Na und? Ist es das etwa nicht?“

„Ich werde jetzt zahlen“, sagte Janis.

„Was ist jetzt: Bringst du’s mir bei oder nicht?“

Er antwortete nicht, warf mir nur einen ultrakurzen Blick zu, einen, mit dem eingeschnappte Leute im allgemeinen kund tun, dass sie es für unter ihrer Würde halten zu antworten.

„Na gut!“, brüllte ich so laut, dass einige Kneipengäste sich trotz des ohrenbetäubenden Lärms zu mir umdrehten. „Dann kriege ich’s eben allein raus, du wirst schon sehen!“

***

Ich probierte es noch in derselben Nacht. Mein Nachhauseweg führte nämlich an einem Freibad vorbei, und ich kannte eine Stelle, wo man nur unter einer Hecke hindurchkriechen musste, um hineinzugelangen.

Gespenstisch still lag die Anlage da, geradezu Ehrfurcht gebietend, die Wasseroberflächen der Becken waren glatt wie Spiegel. Da war der lange Pool für die gerade Bahnen, der bei einer Wassertiefe von achzig Zentimetern begann und am Ende zwei Meter tief war. Das quadratische Sprungbecken am Fünfmeterturm, drei Meter zwanzig tief. Und das nierenförmige Nichtschwimmerbecken mit einem separaten Plantsch-Bereich für Mutter und Kind.

Janis Quint, die Pfeife, war kein Überflieger, das war ja wohl offenkundig. Er war auch nicht hochbegabt oder ein verkanntes Genie, sondern ein stinknormaler Typ, der in seiner Entwicklung, was soziale Dinge betraf, hinter den meisten anderen herhinkte. Vielleicht stimmte es, dass er das Gehen auf dem Wasser wirklich nicht trainiert hatte. Aber wenn er es konnte, dann konnte jemand wie ich es allemal, das stand wohl außer Zweifel. Die Technik des Auf-dem-Wasser-gehens würde ich schon herausbekommen, es war die Art und Weise, wie man den Fuß auf die Oberfläche setzte, wie ich vermutete. So ähnlich, wie es die Wasserläufer auf den Pfützen taten, winzige Insekten, die blitzschnell über Teiche und Tümpel sausten, als seien es wohlgemähte Rasenflächen. Wenn mir das gelang, natürlich nicht zu rennen, sondern ehrfurchtsgebietend darüber zu schreiten, dann würde – davon war ich überzeugt – Pandora sich mir wieder zuwenden und an ihrem Götzen zweifeln. Plötzlich würde sie hinter seine aufgemotzte Fassade schauen und feststellen, dass dort nichts war. Je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer schien mir, dass dies nicht nur der beste, sondern auch der einzige Weg zurück zu Pandora war!

Mit aller Konzentration, die mir noch zur Verfügung stand, machte ich ein paar Trockenübungen auf dem Rasen, wo Tags über Kinder Federball spielten und Familien ihre Picknickdecken ausbreiteten. Schritt vor Schritt, es war gar nicht so leicht, selbst auf dem Rasen. Immer wieder kam ich ins Trudeln und konnte gerade noch verhindern, dass ich wie ein Sack ins Gras plumste. Und danach bildete ich mir noch lange nicht ein, schon perfekt zu sein. Ich würde es dort versuchen, wo ich am wenigsten riskierte: im Plantschbecken für Mutter und Kind.

Dass dieses alberne Ding aber plötzlich so tief war, dass es gar keinen Grund zu haben schien, überrumpelte mich. Ich ruderte mit Armen und Beinen, schluckte literweise chlorhaltiges Wasser, kam nach oben und prustete und spuckte. Und während ich dagegen ankämpfte, abzusaufen wie ein Hund, dämmerte mir, dass es gar nicht sein konnte, dass ein Schwimmbecken keinen Grund hatte. Da das Becken tiefer war, als ich erwartet hatte, musste ich einfach nur ein Weile länger zu Boden sinken, dann würde ich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auf Grund treffen. Ich mochte besoffen sein, ja, doch nicht so besoffen, dass ich nicht mehr begriff, dass ich aufgrund der von mir konsumierten Mengen an Alkohol die Fähigkeit verloren hatte, das Babybecken vom quadratischen Sprungbecken mit fünf Metern Tiefe zu unterscheiden. Und das, obwohl der Sprungturm direkt über mir als dunkle Silhouette aufragte. Genau deshalb hatte ich sie wohl verwechselt. Zum Denken war ich also noch nicht zu besoffen, wohl aber zum Schwimmen. Statt auf dem Wasser zu gehen, schien mich etwas hinunterzuziehen wie ein bleiernes Gewicht, und jeder Liter Wasser, den ich schluckte, machte mich schwerer und schwerer. Selber schuld!, brüllte mich meine innere Stimme an. Du konntest dir doch wohl denken, dass du einen solchen blasphemischen Versuch teuer bezahlen musst ...

***

Ich wurde aber gerettet. Anwohner, obwohl Hunderte von Metern entfernt, hörten das Gepruste und vermuteten, dass sich eine Kuh von einer der umliegenden Weiden ins Freibad verirrt habe und dabei war, jämmerlich zu ersaufen. Die Polizei und die Feuerwehr rückte an, ich wurde geborgen und verbrachte eine Nacht in der Ausnüchterungszelle, die gerade neu getüncht worden war.

Bis auf die Knochen blamiert und mit einer Erkältung von einem Ausmaß, wie ich sie nie in meinem Leben gehabt hatte, kehrte ich nach Hause zurück. Meine Schleimhäute waren ins Gigantische angeschwollen, mein Kopf schien ausschließlich Flüssigkeit zu enthalten, an Atmen war nicht zu denken. Eigentlich war es egal, ob ich hier in der Küche nach Luft rang oder auf dem Grund des Sprungbeckens.

Janis, der kurz nach mir die Wohnung betrat, grüßte mich wortkarg. Mein elender Zustand konnte ihm nicht entgehen.

Das letzte Pfund, mit dem ich wuchern konnte, das war er, mein elender Zustand. Janis konnte sich von mir aus in seinem Zimmer einschließen, um sich vor dem Geschniefe zu retten, doch auch wenn er laute Musik hörte, schützte ihn das nicht davor, Ohrenzeuge meiner gewaltigen Nieser zu werden. Schon bald konnte er keinen Schritt in der Wohnung tun, ohne über meine gebrauchten Papiertaschentücher hinwegzusteigen. Er entkam mir nicht.

Noch am selben Nachmittag kam er in die Küche, brühte einen Rooiboschtee und stellte ihn mir wortlos hin.

Ich bedankte mich mit einem Hustenanfall, in dessen Verlauf ein feiner Regen auf der Plastiktischdecke niederging, bestehend aus jener Flüssigkeit, die meinen Kopf komplett ausfüllte.

Janis war beeindruckt und ging früh schlafen.

Am nächsten Morgen brachte er mir ein karges Frühstück, bestehend aus Tee mit Honig, Orangen und Hustensaft, ans Bett.

„Also gut“, brach er das Schweigen, während er die Orange aufschnitt und den Saft in mein Glas presste. „Ich könnte dir was anderes zeigen.“

„Musst du nicht.“ Ich schniefte in meine Hand, weil die Taschentücher alle waren, und wischte sie am Bettzeug ab. „Danke für dein Angebot, Janis. Aber ich komme schon klar.“

„Was hältst du davon, Lahme gehend zu machen? Ich könnte es dir zeigen.“

„So, könntest du?“

„In der Klinik hab ich’s doch auch gemacht.“

Ich schlürfte den Orangensaft und stellte das Glas auf das Tablett zurück. „Und was hat die Sinneswandlung bewirkt?“

„Keine Sinneswandlung.“ Janis schüttelte den Kopf. „Es ist viel leichter. Man kann es gut lernen.“

„Ach ja?“ Lahme gehend machen hörte sich gar nicht schlecht an. Aber ich hatte nicht vor, Janis leicht davonkommen zu lassen. „Tut mir leid, aber ich habe keine Lust auf so eine Schwindelnummer.“

„Es ist keine Schwindelnummer, wie kommst du bloß darauf? Ich schwöre dir, es ist echt. Außerdem“, fügte er hinzu, „würde es sich besser dazu eignen, Detleffsen auszustechen.“

„Wieso das denn?“

„Am Montagabend nimmt er an einer Podiumsdiskussion zum Thema Menschenrecht – Tierrechte teil. Pandora wird sicher auch da sein.“

„Tierrechte?“

„Bruno Detleffssen macht sich neuerdings für sie stark. Er hält das für ehrlicher, als sich für den Menschen, den Ausbeuter der Schöpfung, einzusetzen. Sein Gesprächspartner wird mein Vater sein, weil er in einem Zeitungsartikel Tierschutz als Kinderkram bezeichnet hat.“

„Na, Klasse“, spottete ich. „Der Altachtundsechziger gegen den falschen Fuffziger. Wird bestimmt ein spannender Abend.“

„Mein Vater“, erklärte Quint, „wird das erste Mal seit langem wieder in der Öffentlichkeit auftreten. Außerdem im Rollstuhl, das wird viele Zuschauer anziehen.“

„Im Rollstuhl?“

„Seit sein letztes Buch erschien, erhielt er Todesdrohungen aus islamistischen Kreisen und steht unter Polizeischutz. Mit einem der Beamten hat er eine Partie Tennis gespielt und sich dabei gleich einen doppelten Bänderriss zugezogen.“

„Verstehe“, sagte ich. „Und du meinst, ihn soll ich gehend machen.“

„Genau das“, nickte Janis. „Er wird in deiner Schuld stehen, und Detleffssen wird als Schwätzer entlarvt.“

„Und Pandora sitzt in der ersten Reihe“, nickte ich schwärmerisch. Immer noch war ich sauer auf Quint, doch ich konnte mich dem Reiz dieses Planes nicht entziehen. Er war einfach perfekt.

***

So kam es, dass ich lernte, Lahme gehend zu machen.

Natürlich ist das stark übertrieben. Ich lernte es niemals wirklich. Es sah leicht aus und mir schien es so, als lernte ich es sehr schnell. Verblüffenderweise funktionierte es tatsächlich. Allerdings muss ich gestehen, dass ich zu keinem Zeitpunkt einen Schimmer davon hatte, was ich tat, warum ich es tat und wieso etwas daraufhin geschah. Das brauchte ich aber gar nicht zu haben, denn Janis befand sich bei jedem gelungenen Versuch in der Nähe. Heute denke ich, dass er es eigentlich war, der sämtliche Wunder bewirkte.

Das, was am Montag Abend stattfand, war mit der Bezeichnung Podiumsdiskussion nicht ausreichend beschrieben. Man sollte es vielmehr so ausdrücken, dass es zur Schlacht kam zwischen zwei Giganten der Meinungsführerschaft, Trendsettern politischen Zeitgeistes.

Bruno Detleffsen, der wortgewandte Prahlhans, tänzelte wie ein Boxchampion, bevor er sich auf seinem Sessel niederließ. An der Uni galt er als der aufmüpfige Geist schlechthin, Verfasser der tabubrechenden Streitschrift Das Selbstmordattentat in der abendländisch christlichen Tradition. Für Detleffsen war der Disput ein Heimspiel. Fettig glänzte sein gestyltes Haar im Scheinwerferlicht, als er seine Fans siegessicher vom Podium aus grüßte. Der Kerl konnte mir nur leid tun.

War es doch sein Gegenspieler, der dafür gesorgt hatte, dass der Hörsaal 3, einer der größten der Universität, bis auf den letzten Platz besetzt war. Professor Adrian Quint, auch er ein unbequemer Geist, mindestens so tabubrechend wie sein junger Herausforderer. Kritisch und unbeugsam noch dazu – was das anging, hatte er Detleffsen sogar noch einiges voraus: Immerhin hatte er sich in seinem gerade erst erschienenen Roman mit islamistischen Kreisen angelegt und deren Todesdrohungen mit einem gelassenen Schulterzucken quittiert. Ihr wollt, dass ich mich zu Hause vor euch verstecke, schien Quint zu sagen, während er mit seinem Rollstuhl auf die Bühne rollte, ohne die Menschenmenge auch nur eines Blickes zu würdigen, aber da habt ihr euch gründlich verrechnet. Seht her: Hier bin ich und schere mich nicht um eure Drohung, auch wenn ihr mir das angetan habt (die meisten Besucher gingen davon aus, dass der Professor sein Handicap einem fundamentalistischen Anschlag verdankte, denn das war in einer Studentenzeitung verbreitet worden).

Wenngleich es auch vom Standpunkt abhing, wer gut und wer böse war, ahnten alle, dass hier ein Schlagabtausch zwischen gut und böse stattfand, und es brauchte schon einen Gesprächsleiter von besonderem Format, um den Event über alle Runden zu bringen. Ole von Feuchten, ein kahlköpfiger Riese mit rundem Kindergesicht, war clever und wendig wie kaum ein anderer. Er hatte sein Studium geschmissen und ganz allein einen kleinen TV-Sender aufgebaut, wo er Produktionsleiter, Blogger, Literatur- und Filmkritiker, Kameramann und brillanter politischer Kommentator in einer Person war. Als Medienprofi hatte er schon in so mancher konfrontativen TV-Runde als Ringrichter durch die Sendung geführt.

Was mich anging, so fühlte ich mich in Bestform und konnte meinen Auftritt kaum erwarten. Janis hatte mir einen Platz in umittelbarer Nähe des Podiums frei gehalten, und nicht weit entfernt entdeckte ich Pandora, deren Blick mehrmals über mich hinweg schweifte, ohne auch nur einen Moment zu verweilen.

Wäre es nach Quint gegangen, so hätte er wohl am liebsten auf Detleffsens Essay über den Selbstmordanschlag Bezug genommen und ihn genüsslich als infantiles und unausgegorenes Machwerk verrissen. Doch nach ihm ging es nicht.

Nicht umsonst hatte Detleffsen vor circa einem Monat erst einen radikalen Schwenk zum kompromisslosen Tierschützer und Fleischessergegner vollzogen. Statt der üblichen Müsli kauenden linksliberalen Studierenden, die seine diffusen intellektuellen Ergüsse bis dahin mit Beifall bedacht hatten, verfügte er jetzt über eine kaderähnlich organisiserte Anhängerschaft von Veganern, denen, was Intoleranz und fundamentalistische Gesinnung anging, nicht einmal Islamisten das Wasser reichen konnten. Ein Wort ihres Gurus, und sie schwärmten aus, um Wurstesser zu verprügeln, Hühnerfarmen abzufackeln oder Lobbyisten der Fleischindustrie zu kidnappen. Oder, wie heute abend, den Professor im Rollstuhl gnadenlos auszupfeifen.

Auf diese Weise kam Detleffsen zu Wort. In kurzen, prägnanten Sätzen, die wie Gewehrschüsse durch den Saal peitschten, stellte er klar, dass der radikale Tierschutz ja wohl hundert mal radikaler und konsequenter sei als Quints spießiges Engagement für Demokratie und Frieden. Sich für so etwas einzusetzen, sei schöpfungsethisch gesehen sogar eine Arroganz gegenüber anderen Geschöpfen, eine Bevorzugung des Homo sapiens, kurzum: nichts anderes als blanker Gattungsrassismus.

Ein kraftvoller Auftakt, der mit Applaus belohnt wurde. Quint senior zeigte sich von der windigen Rhetorik allerdings wenig beeindruckt und es schien ihm auch nicht viel auszumachen, als ‚Evolutionsnazi’ bezeichnet zu werden. Während Detleffssen im Proklamierton sein Plädoyer für die Vierbeiner hielt, hob er ab und zu die Hand, um sich zu Wort zu melden, wartete aber geduldig, bis Ole von Feuchten dem Tierrechtler das Wort entzog und es Quint erteilte. Der Professor erging sich darauf mit einer vor Arroganz leisen Stimme in einem Vortrag über damals, als die Jugend noch etwas bewegt hatte. Als keiner dem anderen etwas geschenkt habe. Als man den krummen Weg dem graden vorgezogen und nicht vor jeder Protestaktion Marktforschung betrieben habe, ob sich der Event auch politisch rechnete.

Detleffsens Prophetenstimme wollte Protest gegen diese altbackene Polemik erheben, doch mit unerwarteter Schärfe bat sich das literarische Urgestein das Recht aus, ausreden zu dürfen, was Detleffssen für einen Moment die Sprache verschlug.

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