Читать книгу: «Die Kunst, auf dem Wasser zu gehen», страница 3

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Es war auf einem Bibelwochenende im Sommer. ESG und KHG hatten zu einem Fest der Begegnung im Schlossgarten aufgerufen, einem spannenden Diskurs des Glaubens, zu dem alle Welt eingeladen war. Leider kamen nicht sehr viele, dabei bot das Wetter die besten Bedingungen. Es war sozusagen über das Ziel hinausgeschossen und bescherte uns hochsommerliche Temperaturen, die zur Gitarre singen und über Bibeltexte zu diskutieren auf die dritte Stelle der studentischen Beliebtheitsliste verdrängten, hinter in Badesehen plantschen und auf der Promenade grillen.

Ich war damals schon Anwärter auf eine Assistentenstelle und hatte einen Beitrag vorbereitet, in dem ich eine wohl ausgewählte Reihe von Sinnmodellen – darunter auch das Programm von Greenpeace, den Koran und die amerikanische Unabhängigkeitserklärung – auf die Frage hin untersuchte, wie weit es ihnen gelänge, menschliches Engagement herauszufordern, Individuen zu motivieren und dauerhaft an sich zu binden. Mein Fazit, das ich damals für ziemlich gewagt und kompromisslos hielt, lautete in etwa, dass es gar nicht so sehr auf den Entwurf ankäme, sondern vielmehr auf die Personen. Auf Menschen, die das lebten, was sie verkündeten. Nichts sei schlimmer als ein Guru, der in italienischen Modeschuhen vor das Mikrofon trete und verlange, dass man zum Zeichen der Buße barfuß gehen solle.

Menschen sind lebenslang auf der Suche, das ist eine Binsenweisheit. Auch ich war schließlich auf der Suche gewesen, vielleicht nicht so ausgiebig wie andere, doch immerhin so lange, bis ich meinen Weg gefunden und eingeschlagen hatte. Einige wenige Menschen jedoch, davon bin ich überzeugt, sind es auf ganz besondere Art. Sie pflegen die Suche als Lebenseinstellung und betreiben sie intensiver, unerbittlicher als andere und unabhängig von einem wie auch immer gearteten Ergebnis. Wenn der Weg das Ziel ist, kann Ankommen zur Enttäuschung werden, weil es das Ende des Weges bedeutet.

Pandora war eine dieser Menschen, die zu durstig sind, um zu trinken, und ich bildete mir damals ein, dass ihr Äußeres dies widerspiegelte. War es ihr langes, glattes Haar und der wallende Rock, mit dem sie auf ein Open-Air-Rockkonzert der siebziger Jahre gepasst hätte? Ihr Verzicht auf Make-up? Wohl kaum, denke ich, denn auf Bibelfesten und internationalen ökumenischen Treffen traf man damals wie heute viele langhaarige und -berockte Frauen, die sich auf bekennende Weise der Eitelkeit verweigerten. Es war vielmehr Pandoras Blick, in dem sich die heitere Ungezwungenheit einer Generation und ihre Entschlossenheit, sich nur bedingt an Regeln zu halten, mit einem kompromisslosen Ernst vereinte, für den es nur eine Tugend gab: authentische Lebensführung. Glaubwürdigkeit.

Ich hatte meinen Vortrag gerade beendet und suchte hinter der improvisierten Bühne nach einer Möglichkeit, mich etwas frisch zu machen, als ich beinahe mit ihr zusammenstieß.

Sie erkannte mich sofort wieder. „Das mit den Modeschuhen fand ich gut“, sagte sie. „Sehr authentisch.“

Seltsam, im selben Moment, in dem ich mich von ihrem Lächeln geschmeichelt fühlte, fiel das Hochgefühl schon von mir ab, denn mir wurde auf ernüchternde Weise klar, dass meine Ausführungen nicht einen Funken Neues enthalten hatten. Sie waren nur eine von tausend Variationen des immer gleichen Themas gewesen. Dieses Mädchen würde ich damit nicht beeindrucken, da sie auf der Suche nach nach Neuem war, worin auch immer es bestand.

„Wenn du willst“, bot ich an, „können wir uns gern darüber austauschen.“

„Tja, eigentlich“, sagte sie, „war ich nur auf der Suche nach der Toilette.“

***

Trotzdem sprachen wir ausgiebig über meinen Beitrag. Verließen kurzentschlossen das Bibeltreffen und führten unsere Unterhaltung in einem Café in der Innenstadt fort. Zunächst glaubte ich, dass Pandora aus reiner Höflichkeit fragte, und gab mir Mühe, nicht abschweifend oder redselig zu wirken. Doch sie konnte nicht genug hören, hakte immer wieder nach, ich antwortete und sie fragte. Die Zeit verging wie im Fluge, es war so wie in der Bibel, als der Herr den Jüngern die Schrift auf eine solch spannende Art und Weise auseinandergelegt hatte, dass sie darüber vergessen hatten, dass es Abend geworden war.

Also suchten wir uns eine lauschige Pizzeria. Immer noch war Pandora bei dem Thema authentisches Leben. Je intensiver wir uns darüber austauschten, desto näher kamen wir uns. Pandora hatte vor, Anglistik und Germanistik auf Lehramt zu studieren, aber sie fand es eigentlich noch zu früh, sich festzulegen. Für viel wichtiger hielt sie es herauszufinden, was sie überhaupt wollte und auf welcher Seite sie stand.

Es war ein traumhafter Sommerabend, schwül bis in die Nacht hinein, und aus den weit geöffneten Restaurants duftete es mediterran. Es ist schon ein Ding, dass ich mich noch heute an jede Nuance dieses Geruchs erinnern, ihn jederzeit abrufen kann, so fest ist er in meinem Gedächtnis gespeichert.

Immer noch waren wir zusammen und mir war klar, wenn ich sie jetzt zu mir nach Hause einladen würde, würde der Zauber des Abends verfliegen. Dort nämlich wartete mein Mitbewohner nur darauf, mit seiner schweigsamen und vorwurfsvollen Art alle Konversation zum Versiegen zu bringen.

An diesem Abend aber meinte es das Glück gut mit uns. Der Zauber dauerte an, während eines ausgedehnten Spaziergangs durch den Grüngürtel sprachen wir über moderne Heilige und den Weltfrieden. In Nächten wie diesen wimmelte es hier von spontanen Lagerfeuern, Teelichtern und Wachsfackeln. Schräge Gitarrenklänge und ausgelassenes, betrunkenes Gelächter wehte durch die Luft.

Pandora drängte dorthin, wo es weder Lagerfeuer noch Teelichter gab. Wo wir unbeobachtet waren. Und sobald wir angekommen waren, zögerte sie kaum eine Sekunde, um sich in aller Eile ihres T-Shirts, ihres langen Rockes, ihres weiß glänzenden BHs und des Slips zu entledigen.

Mir stockte der Atem, als sie nackt vor mir stand und ihre ganze Schönheit im fahlen Mondlicht leuchtete. Dann trat sie auf mich zu und half mir dabei, die Hose auszuziehen, weil sie es nicht erwarten konnte.

Mir klopfte das Herz.

Pandoras sexuelle Energie war phänomenal. In jener Nacht am See liebten wir uns leidenschaftlich und ausgiebig, und ich hatte das Gefühl, dass sie Ewigkeiten auf diesen Augenblick hingelebt hatte.

In gewisser Hinsicht stimmte das auch, wie ich später heraufinden sollte.

„Endlich habe ich dich gefunden“, flüsterte sie, als wir nebeneinander im Gras lagen, die Sterne am Himmel betrachteten und sirrende Mücken verscheuchten.

„Ich wusste nicht einmal, dass du mich gesucht hast.“

„Du wusstest auch nicht, dass ich nicht allein auf dem Bibeltreffen war. Ruben war bei mir, ein Prophet der letzten Charismatiker. Du hast vielleicht von ihnen gehört.“

„Nein, wer ist er?“

„Als wir uns damals kennenlernten, war es phantastisch. Ruben war kompromisslos, geradezu radikal. Wenn er A sagte, meinte er auch A. Doch seit einiger Zeit ist mir klar geworden, dass er nur redet. Ich habe ihn verlassen.“

Ich legte meine Hand auf ihren Oberschenkel und sah dem Zigarettenqualm nach, den sie in einer dünnen Säule in den nächtlichen Himmel aufsteigen ließ. „Und wer war vor Ruben?“

„Sigmar. Er wollte die Welt verändern. Nicht nur davon reden, wie die meisten. Ihm war es ernst damit. Und später war es ihm schnurz. Er war ein eitler Schwätzer, nichts weiter.“

Auch Sigmar hatte einen Vorgänger gehabt, und auch der war nicht der erste gewesen. Allen war gemeinsam gewesen, dass sie eine religiöse Vision gehabt und Pandora damit fasziniert hatten. Und dass sie sie später enttäuscht hatten.

In dieser Nacht, in der wir schließlich unsere Klamotten zusammensuchten und uns anzogen, weil die Mücken Überhand nahmen, in der ich sie erst dann nach Hause begleitete, als der Morgennebel schon schwadenweise auf den Wiesen herumlungerte, nahm ich mir vor, nicht wie Ruben zu enden.

7

Vor Janis hielt ich meine regelmäßigen Treffen mit Pandora zunächst geheim. Ich hatte keine Lust auf vorwurfsvolles Schweigen oder sein gleichermaßen stilles wie effektvolles Verschwinden von der Bildfläche, mit dem er auf sich aufmerksam machen wollte. Trotzdem war es natürlich unvermeidlich, dass die beiden sich eines Tages kennenlernten, zum Beispiel an einem Wochenende, das Quint bei seiner Mutter, der Solistin, hatte verbringen wollen, doch dann den Zug verpasste. Ohne sich anzukündigen, kehrte er in unsere Wohnung zurück, und als er auf’s Klo gehen wollte, traf er Pandora unter der Dusche.

„Heh, schon zurück?“, wunderte ich mich, als er kurz darauf die Küche betrat.

„Wusste nicht, dass du Besuch hast.“

„Das ist Pandora, eine Kommilitonin. Sie studiert auf Lehramt.“

„Eine Kommilitonin“, wiederholte er zweifelnd und begab sich auf die Suche nach seinem Rooibosch-Tee. „Und sie duscht in unserem Badezimmer?“

„Wo soll sie es denn sonst tun? Etwa hier in der Küche?“

Die Tür öffnete sich und Pandora gesellte sich zu uns. Sie hatte ihr Haar mit einem Handtuch umwickelt und eins meiner T-Shirts übergezogen, das ihr gerade einmal bis zum Oberschenkel reichte.

„Das ist Janis, mein Mitbewohner“, stellte ich Quint vor.

„Hi, Janis. Ich bin Dora.“ Sie lächelte. „Alle nennen mich Pandora.“

Quint war völlig überrumpelt. Wie immer versuchte er, unbeteiligt und cool zu wirken, gleichzeitig kämpfte er gegen das Verlangen, diese Frau, die fast nichts anhatte, anzustarren. Ein aussichtsloser Kampf.

„Hi“, brummte er, ohne den Mund aufzumachen, und kramte im Wandschrank, als sei er auf der Suche nach einer Tasse, dabei stand sie vor ihm auf dem Tisch.

Erwartungsgemäß war Pandora nicht sehr beeindruckt von ihm.

***

Wie mir ein befreundeter Psychiater erklärte, ist es ein Fehler, religiöse Inbrunst für bloßen geistlich geprägten Enthusiasmus zu halten. Man wird dieser Sinneshaltung viel eher gerecht, wenn man sie als spezielle Form der Brunst begreift, der sogenannten Liebeswut, die vom Menschen Besitz ergreift, um ihn fast gewaltsam in Sphären zu führen, die er sonst kaum zu betreten fähig wäre.

Das Phänomen der Inbrunst ist kaum erforscht. Und bisher sind auch nur sehr wenige historische Fälle bekannt. Theresa von Avila, die heilige Clara, Johanna von Orleans und einige Mystikerinnen - das war’s auch schon.

Pandora gehörte auf diese Liste. Auch sie litt unter religiöser Inbrunst. Natürlich ist es nicht zutreffend, von Leiden zu sprechen, denn sie ging darin auf, wuchs sogar über sich hinaus und erlebte ungeahnte Hochgefühle. Pandora war immer auf der Suche, doch sobald sie an einen Menschen geriet, der in ihren Augen jene Dinge, nach denen sie suchte, auf authentische und glaubwürdige Art verkörperte, verfiel sie ihm mit allen Sinnen. Geistliche Schwärmerei, das wunderbare Gefühl gleicher Wellenlänge gingen bei ihr nicht einfach in sexuelles Verlangen über; beide Dinge waren für sie regelrecht identisch. Vereinigung ím metaphysischen Sinne war für sie ohne die körperliche nicht denkbar.

Sobald mir dies klar wurde, war ich überzeugt davon, dass Pandora und ich das ideale Paar darstellten. Insgeheim verglich ich uns mit Romeo und Julia oder Caesar und Cleopatra. Andere, gewöhnliche Sterbliche, mochten ein Leben lang rätseln, ob sie ihren Traumpartner gefunden hatten oder lediglich einer Illusion nachhingen, die sie täglich der ernüchternden Realität anpassen mussten. Wir beide brauchten nicht zu rätseln, denn unsere Lebenswege schienen geradezu füreinander konzipiert zu sein. Wir waren wie die Steine eines Puzzles, die sich den Stein, zu dem sie passten, nicht aussuchen konnten. Wenn ein Bild entstehen sollte, dann mussten sie ineinander greifen. Für Pandora konnte es keinen besseren geben als mich. Es konnte keinen anderen geben.

Eine ganze Weile bildete ich mir das ein. Wir verbrachten sie damit, Abende lang über die Frage der Rechtfertigung oder die Sühne zu philosophieren, dann ins Bett zu gehen und den anschließenden Rest der Nacht nicht mehr zum Schlafen zu kommen. An der Uni besuchten wir Podiumsdiskussionen zu tiefschürfenden theologischen Themen und schafften es danach oft nicht einmal bis nach Hause. Noch auf der Promenade schlüpften wir in ein Gebüsch und rissen uns gegenseitig die Kleider vom Leib. Hin und wieder las ich ihr Stellen aus der Bibel vor und musste mich vorsehen, dass sie nicht schon kam, noch bevor wir überhaupt eine Berührung ausgetauscht hatten.

Es war eine schöne Zeit, doch die Sicherheit trog. Und ich hatte mich viel zu früh gefreut.

***

Janis nahm es mir übel, dass ich ihn quasi über Nacht auf den zweiten Platz meiner Gunst verwiesen hatte. Hin und wieder, an Abenden, an denen Pandora keine Zeit hatte, versuchte ich ihn zum Ausgehen zu überreden.

Doch er gab mir einen Korb, behauptete, in der Klinik zu sehr gefordert zu sein, um sich abends noch irgendwo herumtreiben zu können. Dass er zu eingespannt war, glaubte ich ihm nicht, schließlich wurde er dafür bezahlt, dass er Bettlaken wechselte und leere Kaffeetassen einsammelte, nicht dafür, dass er Operationen durchführte. Na schön, dann wurde eben nichts daraus. Janis würde schon eines Tages einsehen, dass auf Tauchstation zu gehen die falsche Taktik war, um mir begreiflich zu machen, dass er sich zurückgesetzt fühlte.

Ich behielt recht. Er änderte seine Taktik, drehte sich um hundertachzig Grad. Plötzlich kam er wieder auf unser ‚gemeinsames Projekt’ zu sprechen.

„Welches Projekt meinst du?“

„Du hast doch damals gesagt, dass wir ein ideales Team wären.“

Das stimmte, doch die Zeiten hatten sich geändert. Jetzt war Pandora da. „Aber du hast gesagt, dass das ja wohl nicht mein Ernst sei.“

„Weißt du“, sagte er, „in der Klinik habe ich so manches dazugelernt.“

„Gratuliere. Hast du demnach vor, Medizin zu studieren?“

Quint schüttelte den Kopf. „Eben nicht.“

„Eben nicht?“

„Medizin sollte abgeschafft werden.“

Ich verstand kein Wort. „Klasse Idee: Keiner studiert mehr und es gibt nur noch Medizinmänner, oder was?“

„Ich meine nicht das Medizinstudium, sondern die Arznei als solche. Keine Frage, sie hat vieles geleistet und Schmerzen ohne Ende gelindert. Doch nun wird es Zeit, dass der Mensch das übernimmt.“

„Der Mensch? Du meinst, der Arzt?“

„Nein. Jeder. Ich bin fest davon überzeugt, Kai, dass jeder einen anderen heilen kann. Es ist eine Frage der geistigen Einstellung.“

Er fing an, mich zu nerven. „Würde es dir etwas ausmachen, dich etwas klarer auszudrücken?“

„Du hast mich überhaupt erst darauf gebracht mit deinem Gequassel von der hehren Idee. Wenn es uns gelingt, etwas in den Köpfen der Menschen zu ändern, dann brauchen wir bald keine Kliniken mehr.“

„Tut mir leid, Janis, wenn ich dich auf irgendetwas gebracht habe“, sagte ich kopfschüttelnd. „Aber von einem Plan, weltweit Krankenhäuser zu schließen, habe ich nie gesprochen, da musst du mich völlig missverstanden haben. Und bitte nimm es mir nicht übel, wenn ich dir sage, dass ich einen solchen Plan für Riesenschwachsinn halte.“

Janis bedachte mich mit einem langen, enttäuschten Blick und stand vom Tisch auf. „Es kommt der Tag, da wirst du anders darüber denken“, brummte er.

***

Der Tag kam tatsächlich. Es war kaum zwei Wochen später, an einem Vormittag. Ich zog die Haustür hinter mir zu und realisierte im selben Moment, dass ich Handy und Wohnungsschlüssel in der Küche vergessen hatte. Wohl oder übel machte ich mich auf dem Weg zur St.Franziskus-Klinik und fragte mich dort zur chirurgischen Männerstation durch, in der Quint für die Frühschicht eingeteilt war.

Durch eine schwere Glastür betrat ich einen langen, mit hellgrünem PVC ausgelegten Gang. Rechts ging es zur Krankenhauskapelle und links zu den Personal-Toiletten. Die Wände waren weiß getüncht, Blumengestecke wechselten sich ab mit Bildern, die Luftansichten der Stadt zeigten.

Vom gegenüberliegenden Ende der Station näherten sich zwei Krankenschwestern, die dabei waren, das Mittagessen auszuteilen. Patienten in Bademänteln kamen mir entgegen, auf Krücken gestützt oder im Rollstuhl sitzend, von Angehörigen geschoben.

Und dann sah ich auch Quint. In einen weißen Kittel gehüllt, begleitete er einen älteren Herrn, der sich vorsichtig mit der Hilfe von Krücken fortbewegte. Ich winkte Janis zu, als er in meine Richtung blickte.

Warte einen Moment!, bedeutete er mir mit einer Geste. Dann wandte er sich zu dem Patienten, flüsterte ihm etwas ins Ohr und trat dann einen Schritt von ihm zurück.

„Janis?“, rief ich. „Keine Sorge, du bist mich gleich wieder los. Ich muss mir nur deinen Schlüssel ausborgen!“

Quint beachtete mich nicht. Seine Aufmerksamkeit wurde voll und ganz von dem Patienten in Anspruch genommen, der sich jetzt, mit einem Ausdruck ungeheurer Konzentration im Gesicht, aufrichtete und dann, wie in einem Kraftakt, die Krücken in die Luft hob. Er brach aber nicht zusammen, sondern stand - ohne Krücken, auf seinen zwei Beinen!

„Es klappt“, flüsterte der Mann, und sein Gesicht entspannte sich plötzlich. Er lachte breit. „Es klappt tatsächlich!“, brüllte er los. „Verdammte Scheiße: Ich kann wieder gehen!“

Alle Patienten in Bademänteln waren stehengeblieben und starrten ihn an. Atemlose Stille herrschte auf dem Krankenhausflur. Die Schwestern hatten die Essensausgabe unterbrochen. Eine von ihnen stand mit einem Tablett in der Hand und gaffte mit offenem Mund herüber.

„Wie hast du das gemacht, mein Junge?“, jubelte der Mann, während er fröhlich mit seinen Krücken gestikulierte. „Das ist stark, das ist wirklich ... glatte Zauberei! Alles weg! Leck mich am Arsch, ich bin geheilt!“

Ich fing Quints Blick auf, der mir in etwa sagte na siehst du, wovon habe ich neulich gesprochen?

Aber dann passierten mehrere Dinge auf einmal.

Während die Freude des Geheilten immer unbändiger wurde, öffnete sich die Tür des Schwesternzimmers und ein junger Arzt trat auf den Flur. Sein finsterer Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass er den Lärm nicht schätzte. „Was zum Teufel geht denn hier vor?“, erkundigte er sich gereizt und näherte sich dem Mann mit den Krücken.

„Die Scheißdinger brauche ich jetzt nicht mehr!“, jubilierte der Geheilte. „Nie mehr!“ Und damit holte er aus und schleuderte beide Gehhilfen hinter sich.

Die linke richtete keinen großen Schaden an. Zwar flog sie ziemlich weit und erwischte einen Geschirrwagen. Es krachte gehörig und Dutzende von Tassen aus schlechtem Porzellan zerschepperten. Ein Meer aus Scherben und verschüttetem Kaffee breitete sich auf dem Stationsflur aus.

Die andere Krücke jedoch traf, aufgrund eines starken Linksdralls, wie eine Keule den Kopf des jungen Oberarztes, den ein Namensschildchen auf der Brust als Dr. Haller auswies.

Dr. Haller klappte ohne ein weiteres Wort zusammen und lag wie tot da.

Jetzt war die Stille lähmend. Denn auch der Geheilte hatte mit dem Jubilieren aufgehört. Bestürzt stand er da und starrte schuldbewusst auf den Verletzten, über den sich schließlich eine der Schwestern beugte.

„Worauf wartet ihr?“, trieb sie ihre Kolleginnen an. „Holt einen Arzt, aber schnell!“

***

Sie brachten einen Lahmen zu IHM, dass er ihn heile. ER wandte sich dem Kranken zu und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr, worauf der Lahme sich aufrichtete und wieder gehen konnte.

Viele Menschen sahen diese Tat und fragten: „Wer ist dieser Mensch, dass er Lahme gehend machen kann?“ Denn sie vermuteten, dass er, wenn er schon jenes ohne Mühe vollbringen konnte, auch die Kraft besitze, Blinde sehend zu machen, Aussätzige zu heilen, wenn nicht sogar Dämonen auszutreiben.

Darauf verbot ER dem Geheilten, von dem zu berichten, was ihm widerfahren war. Er solle einfach nur geheilt sein und es genießen.

Doch der fromme Mann quoll über vor Freude und sah nicht ein, weshalb er vor aller Welt schweigen solle über das, was ihm geschehen war. Und er ergriff seine Krücken, die er jetzt nicht mehr brauchen würde. Er hob sie hoch und warf sie weit von sich. Und wie sie durch die Luft flogen, flink wie Vögel und gewaltig wie Kriegswerkzeuge, trafen sie einen jener Kleingläubigen, die in der Nähe gestanden hatten und sich gefragt, mit welchem Recht dieser Mensch daherkäme und Gelähmte auffordere: Nimm dein Bett und wandle.

Das hatte er nun davon: Der Kleingläubige lag selbst da, zu Boden gestreckt von einer Krücke, und die Menschen hofften sehr, dass ER auch diesem Menschen das gewähre, was er dem Glaubenden gewährt hatte.

ER jedoch ging mitten durch die Menge hindurch und sprach zu ihnen: „Lasst mich, denn meine Stunde ist noch nicht gekommen.“

***

Dr. Haller kam wieder auf die Beine, doch das war nicht Quints Verdienst. Seine leichte Gehirnerschütterung war weniger das Problem als die Brücke, die er sich gerade für mehr als tausend Euro hatte einsetzen lassen. Die Krücke hatte sie zerschmettert, als sie den Oberkiefer des Oberarztes getroffen hatte.

Haller verklagte Quint auf Schadenersatz und Schmerzensgeld und sorgte dafür, dass er fristlos gekündigt wurde.

„Wenn du doch den Alten geheilt hast“, fragte ich Janis, der in der Küche saß und trübsinnig in seine Teetasse starrte, „warum dann nicht auch diesen Doktor?“

Quint seufzte nur gequält. „Jetzt fang du nicht auch noch mit diesem Mist an.“

Der Einzige, der wirklich an eine Heilung glaubte, war der Mann, der seine Krücken weggeworfen hatte. Der Presse gegenüber äußerte er nachdrücklich seine feste Überzeugung, dass ihm ein Wunder widerfahren sei. In dem Zeitungsartikel wurde allerdings auch nicht verschwiegen, dass der Mann als schräger Kauz galt, der hin und wieder dazu neige, Krankheiten zu simulieren. Möglicherweise habe er dieses Theater nur inszeniert, um Eindruck auf das pflegerische Personal zu machen, von dem er den Eindruck gehabt habe, es nehme ihn und seine Beschwerden nicht ernst. Im Übrigen sei die Krankenhausleitung nicht daran interessiert, den Vorfall hochzuspielen, und es sei auch nicht ihre Absicht, alle Welt mit der Nachricht zu langweilen, dass der an dem insgesamt unschönen Zwischenfall beteiligte Aushilfspfleger der Sohn des berühmten Adrian Quint sei, der an der Uni einen Lehrstuhl für Literatur innehabe.

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9783754181478
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