Читать книгу: «Die Kunst, auf dem Wasser zu gehen», страница 2

Шрифт:

„Woher willst du das denn wissen?“

„Woher wohl?“ Die Annahme von Fragen zu verweigern und sie postwendend an den Absender zurückzugeben, war eine Angewohnheit von ihm.

„Na gut, dann sorge eben dafür, dass da etwas ist.“

„Was denn?“

„Hast du denn nicht irgendwelche Begabungen? Ich meine etwas, das dich einzigartig macht oder wenigstens besonders. Nicht irgendeinen Mist, sondern etwas, das Sinn macht.“

„Nein, nein, vergiss es.“ Janis Quint schüttelte den Kopf. „Jedenfalls nicht direkt.“

„Was soll denn das jetzt wieder heißen: nicht direkt?“

Er antwortete nicht. Wieder kam mir der Verdacht, dass er nur angeben wollte. Wahrscheinlich würde er gleich einfließen lassen, dass er über das absolute Gehör verfügte, und später würde sich dann herausstellen, dass er nur seine Fähigkeit gemeint hatte, laute von leisen Tönen zu unterscheiden.

„Also, entweder du hast etwas oder du hast nichts“, beharrte ich. „Dass du nicht direkt etwas hast, ergibt doch keinen Sinn.“

Quint erhob sich aus seinem Stuhl und fixierte mich eine Weile nachdenklich. „Du musst mir versprechen, dass du es nicht weitererzählst“, sagte er.

„Was denn? Was soll ich nicht weitererzählen?“

„Na schön, komm mit.“

Ich folgte meinem Gastgeber auf die Terrasse hinaus in den Garten, an einer mächtigen Trauerweide vorbei auf die andere Seite des Hauses.

Wie schon erwähnt, verfügte das Grundstück über zwei Pools: Der eine davon war ein großflächiger, an den Rändern mit Schilf bewachsener Schwimmteich, wie sie damals bei Besserverdienenden in Mode kamen. Mehr ein kleiner See als ein Teich, bot er ein natürliches Badeerlebnis, da man inmitten von echter Flora und Fauna im grünen Wasser herumplantschen konnte.

Janis Quint wählte jedoch den anderen Pool aus: ein klassisches Sportbecken mit sechs Längsbahnen und weißgetünchten nummerierten Steinklötzen zum Absprung. Die Anlage war top-gepflegt. Nicht ein Insekt strampelte auf der Oberfläche. Durch das glasklare Wasser konnte man jede einzelne Kachel auf dem Grund erkennen.

Eine ganze Weile standen wir am Beckenrand und starrten in das gechlorte Wasser, als gäbe es da irgendetwas Interessantes zu sehen.

„Ich habe kein Badezeug dabei“, gab ich schließlich zu Bedenken.

„Brauchst du auch nicht. Pass einfach nur auf.“ Ohne sich umzuziehen, trat Janis Quint an eine silbernen Aluleiter am Beckenrand, und dann - kletterte er auf die Wasseroberfläche. Anders kann man es nicht beschreiben. Seine Füße, die in weißen Turnschuhen steckten, sanken nämlich nicht ein. Am Anfang schwankten sie leicht hin und her, als sei das Wasser mit einer Plastikfolie überzogen, oder als sei es gar kein Wasser, sondern irgendeine festere, gallertartige Masse, auf der man leidlich stehen konnte.

Man sah Quint an, dass er das, was er tat, nicht zum ersten Mal tat. Er richtete sich auf und schwankte nicht mehr. Machte einen Schritt, dann noch einen. Ich konnte nicht fassen, was ich mit eigenen Augen sah: Der Junge latschte auf dem Wasser herum!

„Wie machst du das?“, wollte ich wissen. „Heh, das ist cool, du musst mir den Trick verraten.“

Janis drehte sich um. Da stand er auf dem nassen Untergrund, der vom leichten Wind sanft gekräuselt wurde, schwankte kein bisschen auf und ab. Und kam auf mich zu. Er bewegte sich so, als hätte er festen Boden unter den Füßen. „Es gibt keinen Trick.“

„Ach, komm schon, hör auf, mich zu verarschen ...“ Mit einem Schritt war auch ich beim Beckenrand, tauchte meinen Fuß hinein und zog Schuh und Strumpf triefend nass wieder heraus. Ich kam mir blöd vor. Was hatte ich denn anders erwartet?

„Das ist kein Trick“, wiederholte Quint ernst. Er stand jetzt in der Mitte des Swimmingpools und sah zu mir herüber.

„Aber wie, zum Teufel, hast du das gelernt?“

„Ich habe es nicht gelernt.“

„Du konntest es immer schon, oder was?“

Er nickte. „Eines Tages habe ich es rein zufällig entdeckt. Keiner weiß etwas davon, auch mein Pflegevater nicht.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause. „Niemand außer dir.“

Da wir uns praktisch überhaupt nicht kannten, wusste ich nicht, was ich von dieser Ehre halten sollte. „Geht das nur in diesem Pool?“, wollte ich wissen.

„Nein, es funktioniert überall. Ich dachte nur, dass ich es dir hier am besten zeigen kann, weil das Wasser klar ist. Wenn du willst, können wir aber gern noch drüben zum Teich gehen ...“

„Nein, nein, lass nur, ich glaube dir“, versicherte ich, worauf Quint das Becken verließ und mich zu einer kleinen Parkbank in der Nähe begleitete.

Nicht mal seine Schuhe waren nass geworden.

„Vergiss nicht, was du versprochen hast“, erinnerte er mich.

„Klar, versprochen ist versprochen.“ Immer noch schüttelte ich fassungslos den Kopf. „Obwohl ich das nicht kapiere: Du kannst auf dem Wasser gehen und hältst es geheim. Warum willst du es bloß niemandem erzählen?“

„Ich finde, die Frage ist: Warum sollte ich es jemandem erzählen?“

„Weil es der Brüller ist, deshalb. Etwas Besonderes, mit dem du höchstwahrscheinlich jede Frau rumkriegen kannst.“ Das war mir so herausgerutscht. Natürlich hatte ich, schon lange bevor ich sein schockiertes Gesicht sah, geahnt, dass es für Quint nicht in Frage kam, ein Brüller zu sein. Die Vorstellung schien ihm geradezu Angst einzuflößen. Ja, das war es wohl, was hinter seiner Geheimnistuerei stand: Wenn überhaupt jemand es hasste, als Sehenswürdigkeit begafft und herumgereicht zu werden, dann Janis Quint. Jetzt verstand ich, was er damit gemeint hatte, als er sagte, er habe nicht direkt eine Begabung.

„Etwas, das Sinn macht, waren das nicht deine Worte?“, sagte er. „Und ich frage dich: Was hat es für einen Sinn, auf einem Swimmingpool herumzulaufen?“

„Woher soll ich das wissen? Sei nicht so kleinlich, irgendeinen Sinn wird es schon haben. Du musst nur herausfinden, welchen.“

„Wehe, du erzählst es jemandem“, schärfte er mir nochmal ein. „Versprich es.“

Allmählich fing er an zu nerven. Er hatte sein Geheimnis doch preisgegeben, also wie wollte er verhindern, dass ich es an die große Glocke hängte?

***

Das tat ich aber nicht, schließlich stehe ich zu meinem Wort.

Darüber hinaus wusste ich aber auch nicht, was ich von der Sache halten sollte. Jemand ging über das Wasser - das war vielleicht exotisch und parapsychologisch interessant, aber sonst doch banal, oder nicht?

Nein, ganz so simpel verhielt es sich nicht. Als jemand, der auf dem Gebiet des Weltanschaulichen und Weltmobilisierenden Großes zu leisten beabsichtigte, hatte ich schon damals ein feines Gespür dafür, dass Dinge und Ereignisse ihre Zeit brauchten. Etwas Bedeutendes konnte nur dann bedeutend sein, wenn seine Zeit gekommen war, soviel stand fest. Wann die Zeit für etwas gekommen war und wann nicht, das war ein kniffliges Thema. Janis Quints Zeit war aber noch nicht gekommen und ich war mir überhaupt nicht sicher, ob sie das jemals tun würde. Je länger ich darüber nachdachte - und ich gebe zu, dass mir die Grübelei darüber seit jenem Nachmittag so manche Nacht raubte - desto mehr verfestigte sich meine Überzeugung, dass hier ein Talent an den Falschen verschwendet worden war. Quint hatte weder den Schneid noch den Biss, etwas aus diesem einzigartigen Geschenk zu machen.

Zugegeben: Zu diesem Zeitpunkt unterschätzte ich ihn in der Tat.

Ich will nicht abstreiten, dass ich neidisch auf Janis war. Der Neid ist eine wesentliche Triebfeder menschlichen Handelns, meist unterschätzt und dämonisiert, aber ohne ihn wäre das Konkurrenzprinzip als Auswahlmechanismus in unserer Welt ein zahnloser Tiger. Warum hatte er diese Gabe und nicht ich? Ich hätte mir nicht lange den Kopf darüber zerbrochen, ob sie einen Sinn hatte oder nicht. Bei mir hätte sie nicht unfreiwillig komisch gewirkt, wie eine missglückte sportliche Übung, so wie bei Quint.

Der Neid brachte ihn mir nicht näher, und dennoch bewirkte dieser Nachmittag am Swimmingpool, dass wir von nun an regelmäßig und dauernd miteinander zu tun hatten. Ich hielt es wohl für das Beste, ihn nicht mehr aus den Augen zu lassen. Was immer aus ihm wurde, ich wollte ihn beobachten und notfalls zur Stelle sein, wenn es losging.

***

„Ich bins.“

„Du? Ich habe dir gesagt, du sollst mich nicht ständig anrufen.“

„Ich möchte dich nur an das erinnern, worüber wir gesprochen haben.“

„Dass ich nicht im Fernsehen auftreten soll?“

„Nein. Ich meine, dass du die Aufgabe, die dir anvertraut ist, etwas ernsthafter angehst.“

„Ich gehe sie doch ernstaft an.“

„Du fährst in Urlaub, lungerst auf Parties herum, machst dich an Mädchen heran. Nennst du das ernsthaft?“

„Nie war die Rede davon, dass ich mich zur Keuschheit verpflichte.“

„Du solltest den Kopf frei haben für das, was vor dir liegt. Dein Bruder hat das auch beherzigt.“

„Kommt das jetzt wieder? Junge, sei vorsichtig damit, lass das lieber deinen älteren Bruder machen, der versteht mehr davon als du.“

„Du hörst es vielleicht nicht gern, aber er verstand wirklich mehr davon.“

„Wovon?“

„Von diesen Dingen, weshalb ich ihn ausgeschickt habe.“

„Hat es ihm denn etwas genützt?“

„Danach hat er nicht gefragt. Verstehst du, mein Sohn? Nein, du verstehst es nicht. Das ist der Unterschied zwischen euch beiden. Heutzutage fragt ihr immer erst: Was bringt mir das, was nützt das mir? Vorher rührt ihr keinen Finger. Dein Bruder war anders.“

„Na schön, Vater, aber wem hat es denn genützt? Hat es die Menschen besser gemacht? Oder diese Welt? Oder nur irgendeinen Menschen irgendwo auf der Welt?“

„Doch. Bestimmt hat es das. Ich bin mir ziemlich sicher.“

„Du bist dir also sicher. Dann kannst du mir ja bestimmt wenigstens einen Menschen nennen.“

„Nun, da sind sogar eine ganze Reihe. Aber verlange nicht von mir, dass ich mich an Namen erinnere. Dein Bruder ist jedenfalls gestorben, weil er sich selbst dazu entschlossen hatte. Nicht, weil ich ihn gezwungen hätte oder kaltblütig geopfert, auch wenn man dir das jetzt vielleicht einreden will.“

„Er hat sich selbst dazu entschlossen?“

„Sagen wir, er hat alles auf eine Karte gesetzt und verloren.“

„Auf welche Karte denn?“

„Eines Tages wirst du das verstehen, mein Sohn.“

***

Papa war Anfangs Feuer und Flamme für Quint, was daran lag, dass er Wortkargheit mit Nachdenklichkeit und mangelnde Begeisterungsfähigkeit mit Zielstrebigkeit verwechselte. Das dauerte so lange, bis eine Bemerkung von Janis ihn ernüchterte. Es war an einem der Tage, als Janis nach der Schule mit mir zum Mittagessen nach Hause kam.

„Weißt du schon, was du mit deinem Leben anfangen wirst?“, fragte mein Vater, kaum dass wir Platz genommen hatten. Diese Frage war unvermeidlich. Früher oder später stellte er sie jedem; ich war nicht der Einzige, den er damit belästigte.

Janis zuckte mit den Schultern und löffelte seine Suppe.

Vater reimte sich die Antwort selbst zusammen. „In deinem Alter weiß man das noch nicht. Woher denn auch? Es kommt einzig darauf an zu wissen, auf welcher Seite man steht, nicht wahr?“

Quint löffelte noch eine ganze Weile vor sich hin. Wir alle löffelten, und niemand sprach. „Auf welcher Seite man steht“, meinte Janis schließlich, „weiß man in meinem Alter auch noch nicht.“

Dafür hatte mein Vater nun aber weniger Verständnis. Er fand, dass das Leben kurz sei und der Mensch kein Recht habe, unnötig Zeit zu verschwenden. Wenn es um die Welt besser bestellt wäre, dann schon, aber das sei es nun einmal nicht, und deshalb gäbe es zu viel zu tun, als dass man sich leisten könne, die Füße hochzulegen. Die Schule absolvieren zu dürfen, sei ein Privileg, das verpflichte, weshalb es sich nicht gehöre, sich zurückzulehnen und in der Weltgeschichte herumzubummeln.

Als wollte er diese Einschätzung eines Menschen, der nicht weiß, auf welcher Seite er steht, bestätigen, rückte Janis Quint bald darauf mit seinem Plan heraus, nach dem Abi ein bis zwei Jahre nach Indien zu reisen.

„Komm doch mit“, schlug er mir vor.

„Wie stellst du dir das denn vor?“

„Du packst deinen Rucksack, und dann gehen wir zum Bahnhof und kaufen Tickets.“

„Was, zum Teufel, soll ich in Indien?“

„Herausfinden, auf welcher Seite du stehst.“

„Das weiß ich doch längst.“

Während Janis sich ausgiebig in den für sein Alter üblichen Selbstfindungsdramen tummelte, hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon zwei Vorstellungstermine an den Universitäten Bonn und Münster wahrgenommen, weil ich mich für das nächste Wintersemester für evangelische Theologie und vergleichende Religionswissenschaft einschreiben wollte. Genau wie er gab ich mich der Illusion hin, dass mir die Welt offenstand und die Möglichkeiten, die sich mir boten, täglich nicht weniger, sondern mehr wurden. Doch war mir von zu Hause aus eine gesunde Skepsis mitgegeben worden, dass das Leben noch lange sein mochte, aber gemessen an dem, was ich mit ihm vorhatte, alles auf eine präzise Planung ankam.

Meine Stunde würde kommen, und wenn sie kam, wollte ich nicht terminlich verhindert sein.

Quints Indienreise dauerte keine zwei Jahre. Es waren nicht einmal drei Wochen vergangen, als er eines Sonntags morgens bei mir klingelte. Papa war gerade in der Kirche predigen, Mama leitete einen ihrer Workshops.

„Schon zurück?“, wunderte ich mich.

Janis hatte sich einen Bart wachsen lassen, der ihm nicht stand. Wie ein dünnes, zartes Pflänzchen schmiegte er sich an sein Kinn und bildete einen krassen Kontrast zu dem schwarzen Jackett, das er trug.

„Was soll diese Schale? Trägt man sowas neuerdings in Indien?“

Wie üblich war er nicht zu Scherzen aufgelegt. Trotzdem war er nicht wie sonst, er wirkte angeschlagen. „Hast du einen Moment Zeit?“, fragte er.

Wir machten einen kleinen Spaziergang, während dessen er damit herausrückte, dass er gerade von Leonores Beerdigung kam. Niemand hatte es für nötig gehalten, ihn darüber zu unterrichten, wie schlimm es um seine Schwester stand. Er hatte es rein zufällig erfahren, als er aus Neu Dehli zu Hause angerufen hatte.

„Aber wenn du nichts geahnt hast, warum hast du dann angerufen?“, fragte ich.

„Nicht einfach so“, erklärte Quint. „Ich hatte ein bestimmtes Gefühl. Und dann bin ich mit dem nächsten Flugzeug gekommen. Leider war es schon zu spät.“ Sein Mund verzog sich im Spott. „Weißt du, was mein Vater gesagt hat? Wir wussten doch, dass es eines Tages so kommen musste. So, als hätte er sich den Tag schon seit langem im Kalender notiert.“

„So hat er es bestimmt nicht gemeint.“

„Mein Vater ist ein literarisches Urgestein, schon vergessen? Er meint alles genau so, wie er es sagt.“

„Aber du hast doch selbst gesagt, dass -“

„Ich hätte überhaupt nicht fahren dürfen. Dann hätte ich vielleicht noch etwas tun können.“

„Was denn tun?“

Wir gingen eine Weile schweigend, und mir ging seine spöttische Bemerkung durch den Kopf, dass er dem Handycap seiner Halbschwester seine Adoption verdanke. Da sie in ihrer Karriere alles geben müssen, brauchen sie jemanden, der auf ihre behinderte Schwester aufpasst, hatte er gesagt, woraus ich geschlossen hatte, dass er sich weniger als Familienmitglied als vielmehr als Hilfspersonal empfand.

„Du hast sie sehr gemocht, was?“, fragte ich und es klang seltsam überflüssig, denn schließlich sprachen wir von seiner Schwester.

Er blieb stehen, bückte sich und hob einen Ast vom Boden auf. Schleuderte ihn in den Kanal. „Sie war alles, was ich hatte“, sagte er knapp und auf eine Weise, die mir eindrucksvoll klar machte, dass seine Äußerungen über den Aufpasserjob nichts als cooles Gehabe gewesen waren. Er musste seine Leo abgöttisch geliebt haben.

5

Soweit mir bekannt ist, holte Quint seine Indienreise niemals nach. Er setzte auch keinen Fuß mehr in sein Adoptiveltern-Haus, in dem er so lange ziellos umhergespukt war. Darüber hinaus weigerte er sich, den schwarzen Anzug, den er auf der Beerdigung getragen hatte, abzulegen, sondern behielt ihn an, bis er Löcher hatte. Später noch, als der Fummel endgültig ausgedient hatte, blieb er bei seiner Vorliebe für dunkles Outfit.

Wieder einmal machte ich damals die Erfahrung, dass ich ihn kaum kannte. Es erwies sich nämlich, dass Janis Quint, er schüchterne, verschlossene, der Öffentlichkeit hasste wie kein anderer, in gewissen Situationen durchaus einen Sinn für schräge Inszenierungen hatte. Noch am Tag der Trauerfeier packte er seine Habseligkeiten und zog für’s Erste in eine billige Pension im Osten der Stadt. Etwa vier Wochen später besuchte ich ihn in einem Bauwagen, den er im Internet ersteigert hatte. Ein schäbiges, grün getünchtes Ding mit staubblinden Fenstern. Außen quollen die Holzlatten unter dem abblätternden Lack. Innen roch es nach feuchtem Holz und wenn es regnete, tropfte es vom Dach in eine antike Plastikschale, die der Verkäufer ihm gratis überlassen hatte.

Die Bruchbude stand am Kanal, in einer nicht gerade abwechslungsreichen Gegend. Es gab keine Spazierwege oder Natur, die man durchstreifen konnte. Nur einen begrünten Uferstreifen mit einem Fahrradweg, alle zweihundert Meter eine Bank mit einem Papierkorb daneben und eine ungemähte Wiese, die sich die Böschung hinauf bis zum Hallenbad-Ost erstreckte.

Auf dieser Wiese kampierte Janis, ein Freak mit einem Kinnbart, der, je länger er wuchs, mehr und mehr an Spinnweben erinnerte, und einem schwarzen Beerdigungsanzug. Er war schnell zu einer Art Sehenswürdigkeit geworden. Zunächst nur für Jogger und schaulustige Spaziergänger, später auch für die lokale Presse. Schließlich bemühte sich sogar das Fernsehen her und berichtete unter der Rubrik Kurioses aus der Region vom Einsiedler am Ostbad. Sponsoren fanden sich bereit, den seltsamen Kauz mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Dafür durften sie ihre Plakate auf dem Wohnwagen platzieren. Greenpeace, Amnesty international und zwei Tierschutzorganisationen nutzten ihn als Werbefläche für ihre Anliegen.

An dem Tag, als ich an der Tür des Bauwagens anklopfte, regnete es in Strömen. Rhythmisch hämmerten die Tropfen in der Plastikschale.

„Schön, dass du mich besuchst.“ Janis trat zurück, um mir einen Platz an dem winzigen Tisch anzubieten und stieß sich dabei den Kopf. „Willst du einen Tee? Kaffee habe ich keinen da.“

Ich probierte den Tee. Er schmeckte nach nichts und schon nach wenigen Schlucken wurde deutlich, dass für ihn das Gleiche galt wie für den Kaffee.

„Was willst du damit erreichen?“, erkundigte ich mich, nachdem wir uns eine Weile schweigend in dem engen Verschlag gegenüber gesessen hatten.

„Womit?“

„Damit, dass du diese windige Eremitage hier eröffnet hast.“

„Gar nichts“, sagte Quint. „Ich will gar nichts erreichen.“

„Danach sieht es aber nicht aus.“

„Und bei dir?“, wechselte er das Thema. „Was macht deine hehre Idee?“

„Ich arbeite dran. Im Übrigen wollte ich dich fragen, was du davon halten würdest, mitzumachen.“

„Ich?“ Janis machte ein Gesicht, als hätte ich ihn gebeten, mich auf die Toilette zu begleiten. „Wie kommst du denn bloß darauf?“

„Weil du eine Gabe hast, Janis. Du könntest meine hehre Idee mühelos in die Köpfe aller Menschen auf dieser Erde befördern. Du und deine Gabe. Ich habe lange darüber nachgedacht. Und ich finde, wir wären das ideale Team.“

„Nee“, grinste er schief. „Das glaubst du doch nicht wirklich.“

„Meinst du vielleicht, ich scherze über solche Dinge? Du hattest das Fernsehen doch schon hier.“

„Ich habe es nicht eingeladen.“

„Egal. Da drüben ist Wasser.“ Ich deutete auf den Dortmund-Ems-Kanal, auf der gerade ein Frachtkahn in Richtung Rotterdam dahintuckerte. „Geh nur ein paar Mal auf und ab, und schon ist die Sensation da.“

„Hör auf, Kai.“ Janis schüttelte den Kopf. „Was denkst du, wer ich bin? Ein Esel, den man auf dem Jahrmarkt zum Tanzen bringt?“

„Du solltest mit deinem Leben was anfangen. Du hast so viel zu geben.“

„Weißt du was, Kai? Du hörst dich an wie mein Vater.“

***

Nachdem ER SEINEM Zuhause den Rücken gekehrt hatte, führte der Geist IHN in die Einöde, wo Satan IHN in Versuchung führte.

„Wandle über das Wasser“, sprach Satan. „Und du wirst sehen, die Welt wird dich anbeten.“

ER aber erwiderte: „Sicher könnte ich tun, was du verlangst. Doch sage mir: Wofür sollte die Welt mich dann noch anbeten?“

„Du wärst ein Held“, präzisierte der Teufel. „Größer als alle, die vor dir waren. Niemand wäre würdig, deine Schuhriemen zu lösen. Die Welt giert nach Helden.“

Darauf stellte ER unmissverständlich klar, dass ER in keiner Weise daran interessiert sei, ein Held zu werden.

Satan trollte sich, doch er wäre nicht der Versucher gewesen, wenn er nicht kurz darauf erneut vor IHM gestanden hätte.

„Dies solltest du auf jeden Fall noch einmal überdenken“, mahnte er. „Denn als berühmter Mensch kannst du viele Dinge tun: heilen, helfen, Leben schenken. Und Gutes bewirken. Die Welt wartet auf dich. Du hast kein Recht, dich ihr zu verweigern.“

„Das tut sie nicht“, widersprach ER. „Niemand wartet auf mich.“

Da versuchte der Böse es ein letztes Mal.

„Aber steht denn nicht geschrieben“, sagte er, „dass jeder etwas aus seinem Leben machen sollte und jener gering zu achten sei, der mit seinen Pfunden nicht wuchert?“

ER aber sprach: „Nichts steht einfach so geschrieben, was nicht jemand dort hingeschrieben hat. Falls es dich interessiert: Das mit dem Leben und den Pfunden stammt von meinem Vater. Wenn du Fragen dazu hast, wende dich an ihn, nicht an mich.“

***

In diesem Jahr gab es viel zu tun. Papa reiste zum ökumenischen Weltkongress nach Genf und hielt eine zündende Rede über den Heiligen Geist und sein vielfältiges Wirken in den Bürgerinitiativen des zwanzigsten Jahrhunderts. Mama dehnte ihre Kurstätigkeit noch weiter aus, bot nun auch gewaltfreie Selbstverteidigung für Männer an und erfand eine neue Schreitherapie. In Berlin fiel die Mauer und ich gründete in Münster eine Zweier-WG, gemeinsam mit Janis Quint, der eines Abends bei mir vor der Tür stand.

„Was ist mit deinem schönen Bauwagen?“, erkundigte ich mich spöttisch.

„Ich habe genug davon. Außerdem regnet es durch das Dach. Du hast doch gesagt, du hättest noch ein Zimmer frei.“

Er zog bei mir ein. Mittlerweile habe er herausgefunden, auf welcher Seite er stehe, behauptete er, auch ohne dafür nach Indien reisen zu müssen. Es sei immer die Seite, auf der sein Vater nicht stünde. Im Übrigen habe er vor, von jetzt an ernsthaft zu studieren, schon für das nächste Semester würde er sich einschreiben.

„Für welches Fach?“, fragte ich neugierig.

„Ich werde mir schon noch eins aussuchen.“

Janis wirkte tatsächlich verändert. Er war unsolider geworden, hing oft auf Parties herum und betrank sich hin und wieder. Prahlte sogar des öfteren, bei einem Mädchen gelandet zu sein, was ich ihm allerdings nicht abkaufte. Sein krautförmiger Bart ließ ihn nicht männlich, sondern kindlicher als früher aussehen. Außerdem schloss er sich einer obskuren linken Gruppierung an, die auf Uni-Ebene den Aufstand probte, indem ihre Mitglieder jeden Dienstag Abend bis kurz vor Mitternacht bei Rooibosch-Tee über Horkheimer-Texten brüteten. Er schlief bis mittags, und wenn ich ihn am Schreibtisch erwischte, spielte er meistens eins seiner zahlreichen Computerspiele.

Währenddessen kartografierte ich die Bibel, wühlte mich durch den Koran und den Talmud, verschlang die Satzung von Amnesty International und des World wildlife fund, konsumierte hunderte von Weisheiten der Pueblo-Indianer, meditierte die Vorträge Rudolf Steiners und schlief über Parteiprogrammen ein – saugte alles auf, was Menschen zu irgendeiner Zeit unter einer beliebigen Fahne versammelt hatte. Schrieb selbst am ersten Entwurf der Satzung für eine weltweite Erneuerungsbewegung zu Meere und zu Lande. Versuchte wie ein Chemiker, in endlosen Forschungsreihen ein einzelnes Element zu isolieren, jenen mysteriösen charismatischen Funken, der den Prozess weltweiten Aufbruchs in Bewegung setzen würde.

Janis Quint fand einen Aushilfsjob in einer Klinik, wo er recht gut verdiente, jedenfalls mehr, als ich an BaföG bekam. Er trank viel, aber seine phlegmatische und oft abweisende Art bewirkte mit der Zeit, dass er kaum noch zu Feten eingeladen wurde. Also begann er wieder, in der Wohnung herumzuhängen, und ich begann wieder, sauer auf ihn zu werden. Der Haussegen in unserer Zweier-WG hing immer öfter schief.

Und dann lernte ich Pandora kennen.

286,32 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
260 стр.
ISBN:
9783754181478
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают