Читать книгу: «Das Rubikon-Papier», страница 4

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10. Kapitel

Er genoss es, am Abend nicht in eine leere Wohnung zurückzukeh­ren. Nachdem er sich kurz zuvor per Handy vergewissert hatte, dass seine Tochter zu Hause war, hatte er an einem Schnellimbiss gestoppt und Pommes und Currywurst für zwei besorgt. Beim Betreten der Woh­nung winkte er mit den duftenden Päckchen: „Abendessen ist fer­tig!“

Luise saß vor dem Fernseher. Sie steckte ihren Kopf hinter der Ses­sellehne hervor, schnüffelte und machte kein begeistertes Gesicht: „Was gibt es denn?“

„Pommes mit Currywurst. War früher mal deine Lieblingsspeise.“

„Das ist lange her, Papa.“

Andersen war mit dem Auspacken beschäftigt. „Aber du kannst dich gerade noch dran erinnern, was?“

„Seit einem Jahr esse ich kein Fleisch mehr.“

„Warum denn das, zum Teufel?“

Luise kam in die Küche, nahm eine Wasserflasche aus dem Kühl­schrank und goss sich ein. „Ökologisch gesehen ist es Verschwen­dung“, erläuterte sie. „Wenn du überlegst, wieviel tausend Quadratme­ter Ackerland man nutzen könnte, um die Nahrungsknappheit zu lin­dern. Aber die gehen für Futtermittel drauf, nur damit eine kleine pri­vilegierte Minderheit ein Steak auf dem Teller hat.“

„Das heißt also, du magst Currywurst, hältst es aber für gerecht, auf sie zu verzichten?“

Luise deutete auf die zerschnippelten Wurststücke in der Papp­schachtel, die in roter Soße schwammen. „Diese Art Fleisch ist außer­dem ein großes gesundheitliches Risiko.“ Mit dem Glas in der Hand machte sie sich wieder auf den Weg zu seinem Sessel.

„Meinetwegen!“, rief Andersen ihr nach. „Dann nimm du die Pom­mes frites! Kannst zwei Portionen haben, ich mache mich über den Rest her.“

„Tut mir Leid, Papa. Aber von dem Zeug wird mir immer schlecht.“

Andersen spürte Ärger in sich aufsteigen. Kaum zu glauben, da hat man seine Tochter zu Besuch und sobald sie den Mund aufmacht, hört man Tatjana mit ihrem verkniffenen Hang zum ökologisch korrekten Benehmen. Kein Fleisch, niemals Pommes. Sie hatte wirklich ganze Arbeit geleistet.

„Du hast den von Zabern-Fall übernommen?“, erkundigte sich Lui­se.

Andersen schob sich ein Stück Currywurst in den Mund und ging ins Wohnzimmer. „Woher weißt du denn das jetzt wieder?“

„Kam im Fernsehen. Ist bestimmt eine spannende Sache.“

„Warum glaubst du das?“

„Na, da wird so manche schmutzige Wäsche ans Tageslicht kom­men. Der Mann hat sich doch immer mit den Konzernen angelegt.“

„Ja, ja, und die haben ihn dann ermorden lassen“, sagte Andersen höhnisch. „Das habe ich schon gehört.“

Luise starrte auf den Bildschirm – die Nachrichten präsentierten Bil­der von der verheerenden Flut in Norditalien und kündigten neue Re­genfälle an. „Von Zabern war nicht so wie die meisten alten“, mein­te sie, „die nur hohles Zeug dreschen und mit der Meute kläffen, um Kar­riere zu machen.“

Andersen hätte sich eigentlich denken können, dass Luises Mutter von Zabern als Heiligen verehrte. „Immerhin solltest du nicht verges­sen“ sagte er, „dass ihm seine Masche viel Geld und Prestige einge­bracht hat. Ist das etwa keine Karriere?“

„Für dich ist das vielleicht eine Masche. Aber ich würde sagen, dass er an etwas geglaubt hat.“

„Du meinst, er hat keine Pommes mit Currywurst gegessen so wie du?“ Noch während er sprach, ärgerte sich Andersen über seine infan­tile Bemerkung.

„Er hat wenigstens dafür gekämpft, dass der Riesenschlamassel nicht passiert, mit dem wir es heute zu tun haben.“

„Welchen Schlamassel?“

„Erdbeben, Zunamis, Vulkanausbrüche, die ganze Scheiße ...“ Lui­se deutete auf den Fernsehbildschirm. „Man braucht ja nur die Glotze ein­zuschalten.“

Dort war das italienische Hochwasser aber nicht mehr Thema, son­dern das Inland mit seiner Dauerregierungskrise. Gespräche zwischen den Vertretern der ehemals großen Parteien waren wieder einmal ge­schei­tert. Man gab sich gegenseitig die Schuld daran und nannte es untrag­bar, dass ein Land von solchem ökonomischen wie politischen Ge­wicht nicht entschlossen regiert werde. Der Wähler sehne sich nach einem Wandel und nicht nach dem ewigen Weiter so.

Und jetzt trat auch noch Armin Roland, der Chef der neuen Samm­lungs­bewegung Abendland!, vor die Kamera. Auch er nannte den ge­genwärtigen Zu­stand unverantwortlich, untragbar und dem Bürger nicht vermittelbar. Forderte ein Umdenken und vor allem ein Um­handeln. Betonte, dass es jetzt nötiger denn je sei, europäisch zu denken und zu handeln. Nur so könne diese abendländische Kultur, die so viel Großartiges hervor­gebracht habe, in Zukunft überleben.

„Wusstest du übrigens, dass dieser Mann ein Freund von Zaberns war?”

Luise schüttelte ungläubig den Kopf. „Wer sagt das?”

„Ich hab so was leuten hören. Wenn du den Mann fragst, der kann bestimmt Vulkane daran hindern auszubrechen.”

Roland äußerte sich mittlerweile zu allem, nicht nur zu politischen Themen. Was die Medien anging, war er praktisch allgegenwärtig, ein Star. Ein wohltuender Kontrast zum altbackenen Auftritt der bekann­ten Politiker, die seit Jahrzehnten mit der gleichen Miene das Gleiche versprachen. Sie mochten vor jemanden wie Roland warnen, die Ge­fahr des Populismus beschwören, aber wer hörte ihnen schon noch zu?

„Na und? Wenigstens will er, dass sich was ändert. Das ist die Haupt­sache. Diese Wetterextreme sind doch die Quittung dafür, dass wir ein­fach immer so weiter machen.“

„Wir? Wen zum Teufel meinst du mit wir?“

„Die Konzerne und die Industrieländer.“

„Verstehe. Das waren schließlich auch die, die in von Zaberns Haus ein­gebrochen sind und ihn erschossen haben?“

Das Telefon klingelte.

Andersen nahm ab und nannte seinen Namen, wobei ihm bewusst wur­de, wie sehr ihn die alberne Diskussion erregt hatte.

„Frank hier“, sagte Grunwald am anderen Ende. „Tut mir leid, ich will nicht stören.“

„Schon passiert. Hast du denn noch etwas herausgefunden?“

„Nee. Leider hat sich nicht die Spur einer Spur ergeben. Auch wenn seine Angehörigen ihn für Robin Hood halten, war von Zabern nur so eine Art Umweltschützer für die Glotze. Weit und breit kein Mordmo­tiv in Sicht.“

„Ich hab auch noch nichts.”

„Was sagst du zu der Zeitungsnotiz?“

„Die mit den Ufos?“

„Nein. Die ich dir auf den Schreibtisch gelegt habe. Moment ... Da ist sie ja! Entschuldigung, ich habe sie aus Versehen mit nach Haus ge­nom­men.“ Es raschelte, als Grunwald das Papier entfaltete. „Hier steht was davon, dass von Zabern einmal Opfer eines Attentats wur­de.“

„Das ist mir nichts Neues.“

„Ein alter Mann und ein dreijähriges Kind wurden damals verletzt. Weißt du auch, wer die Schüsse auf ihn abgab?“

„Jetzt mach’s nicht so spannend.“

„Eine gewisse Rosa Feininger. Seine Exfrau.“

„Das ist interessant“, gab Andersen zu. „Soweit ich mit erinnere, ist das aber schon lange her.“

„Gut dreißig Jahre.“

„Dann können wir das wir wahrscheinlich vergessen. Welches Mo­tiv hatte sie?“

„In dem Artikel stand nur, dass sie psychisch labil war. Nach der Tat wurde sie in eine Anstalt eingewiesen.“

„Und die Therapie war anscheinend erfolgreich.“

„Davon stand nichts in der Zeitung.“

„Tatsache ist jedenfalls, dass diese Frau wieder Kontakt zu von Zabern hatte. Wenn man seiner Tochter glauben will, dann wollten die beiden sogar einen Neuanfang machen.“

11. Kapitel

Als Marla Besuch bekommt, ist sie schon den dritten Tag im Kran­ken­haus. Sie hat nur einen leichten Streifschuss an der linken Schulter und eine Prellung, die vom Sturz herrührt. Inzwischen fühlt sich sich schon viel besser, geht auf dem Gang auf und ab und kann wahr­schein­lich - wenn sich alles weiter gut entwickelt - schon in zwei Ta­gen ent­lassen werden.

Liane und Marla sind Freundinnen, seit sie sich am von-Zabern-Kol­leg kennengelernt haben. Liane Dickensen ist ein Jahr jünger und eine Jahrgangsstufe unter Marla. Sie sind ein ziemlich ungleiches Paar: Mar­la, der Büchermensch, die wenig Aufwand für ihr Äuße­res treibt, und Liane, der Männer­magnet. Marla kommte es oft so vor, als ver­fü­ge Liane einen permanenten Stamm von Verehrern, die sich in einer Art Warte­schleife befinden, aus der sie hin und wieder einen auswählt, dafür einen anderen dorthin wieder zurückstellt. Ihre leicht überdrehte und euphorische Stimmung lässt Marla vermuten, dass gerade wieder so ein Wechsel stattgefunden hat.

„Wenn ich dir den Namen sage, glaubst du mir nicht.”

„Warum sollte ich nicht? Jetzt mach doch nicht so ein Geheimnis da­raus.”

Liane ziert sich noch, aber es wirkt nicht echt; dazu brennt sie zu sehr darauf, den Namen ihres neuen Lovers zu nennen. „Also gut, viel­leicht glaubst du mir ja. Aber du würdest vielleicht schockiert sein.”

„Lass mich raten: Du hast dich in einen Dschihadisten verliebt?”

„Blödsinn! Und abgesehen davon - sieh dich doch an - wer weiß denn, ob du schon Aufregung ertragen kannst?”

„Weißt du, wie du dich anhörst? Als wärest du die Schöne und hät­test gerade dein erstes Date mit dem Biest hinter dir.” Marla bietet ihr eine von den Pralinen an, die Lianes Mitbringsel sind, aber die lehnt ab.

„Damit liegst du vielleicht gar nicht so falsch”, meint sie geheimnis­voll.

Marla nimmt sich selbst zwei Pralinen. Sie schwingt sich aus dem Bett und tritt ans Fenster. Aus dem fünfzehnten Stock hat man einen Panoramablick über die ganze Stadt, allerdings gibt es wenig zum ge­nießen, denn es ist diesig und wolkenverhangen. „Das ist doch al­bern”, sagt sie. „Aber behalt‘s nur für dich, ich will‘s gar nicht wissen. Hauptsache, du hast viel Spaß mit deinem neu­en Lover.”

„Sag mal”, fragt Liane, „an was kannst du dich eigentlich noch erin­nern?”

„An nicht viel. Ich weiß noch, dass ich auf der Tribüne herumgeirrt bin, auf der Suche nach euch. Roland schwang unten seine Rede und ich stand überall im Weg. Dann war ich irgendwann ganz oben und hatte wenigstens einen Stehplatz ganz am Rand. Tja, das war‘s auch schon: Dann kam irgendwas von hinten angeschossen und hat mich umgehauen.”

„Von dem, was weiter passierte, hast du gar nichts mitbekommen?”

„Wie denn? Es hätte mich doch fast erwischt. Ich kann von Glück sagen …”

„Also gut: Die Schüsse galten ja Roland. Es war ein Attentat. Die Leute ha­ben gekreischt und auf den Rängen machte sich Panik breit. Zum Glück war Roland sofort wieder da und hat es hingekriegt, dass die Leute sich ein bisschen beruhigt haben. Ich denke mal, damit hat er das Schlimmste verhin­dert.”

„Und wo warst du?”

„Wir haben es ziemlich gut nach draußen geschafft. Und dann hab ich gesehen, wie sie dich rausgetragen haben. Unten auf dem Vorplatz war ein Helikopter gelandet. Es war ganz schön dramatisch …”

„Doch, warte mal - an ein paar Sachen kann ich mich doch noch er­innen. Unmittelbar bevor ich k.o. gegangen bin …”

Liane, die eigentlich grundsätzlich auf Süßigkeiten verzichten will, nimmt sich jetzt doch eine Praline. „Jedenfalls war dann plötzlich auch Roland da. Er war total besorgt wegen dir, richtig hektisch. Woll­te von den Sanitätern unbedingt wissen, wie es um dich steht, und hat sich erst beruhigt, als sie ihm versicherten, dass du durchkommst.”

„Wie schmeichelhaft.”

„Doch, ehrlich. Er ist gar nicht so ein Politikertyp - arrogant und hoch­nä­sig, wie er oft dargestellt wird.”

Marla nickt. Dann entfaltet sich ein vielsagendes Grinsen in ihrem Gesicht. „Ach, ist er nicht?”

„Nein. Er ist eigentlich ganz nett.”

„Das ist alles?”

„Was meinst du?”

„Dass er eigentlich ganz nett ist.”

„Nein. Okay, er ist richtig nett.”

Marla starrt ihre Freundin an. Dann schüttelt sie den Kopf. „Das glau­be ich nicht. Sag, dass das nicht stimmt.”

„Das was nicht stimmt?”

„Du bist nicht mit ihm zusammen, oder?”

„Siehst du, ich hab dir gesagt, du wirst schockiert sein.”

„Armin Roland! Ich fasse es nicht. Wir gehen hin, um seine Veran­staltung ein bisschen zu stören, und jetzt seid ihr zusammen!”

„Hör zu, Marla, erstens weiß ich doch noch gar nicht, ob das was mit uns wird. Es ist einfach passiert, verstehst du? Manche Dinge las­sen sich eben nicht berechnen. Sie passieren.”

„Verstehe. Wie ging es weiter? Er hat dich am Tag drauf angerufen und sich bei dir nach mir erkundigt. Und dann vorgeschlagen, ob ihr nicht zusammen essengehen wollt.”

„Na ja, es war nicht ganz so.”

„Sondern?”

„Aber ungefähr schon.”

„Und dann ergab eines das andere.”

Die Tür öffnet sich, eine Schwester bringt Kaffee und ein Stück Apfelkuchen und stellt beides auf den Tisch. Sie fragt Liane, ob sie auch eine Tasse will, aber die winkt ab.

„Ich hätte dir das nicht erzählen sollen”, sagt sie, nachdem sich die Tür wieder geschlossen hat.

„Stimmt, hättest du nicht.” Marla nickt, dann lacht sie und umarmt ihre Freundin. „Doch, natürlich, so etwas will ich immer wissen, jedes Detail. Aber versprich mir, dass du auf dich aufpasst.”

„Versprochen. Vertrau mir.” Liane greift zu ihrem Smartphone und lässt das Display aufleuchten. „Tut mir leid, aber ich muss leider wieder los. Vielleicht schaffe ich es morgen noch mal zu kommen.”

„Wenn ich dann überhaupt noch hier bin.” Marla hält Liane, die schon zum Abschied winkt, doch noch einmal auf: „Das war es nämlich.”

„Was?”

„Als ich da oben stand, habe ich etwas gehört. Eine Stimme.”

„Was denn für eine Stimme?”

„Sie hat gesagt, Kopf runter oder sowas.”

„Der Mann, der geschossen hat.”

„Ja. Aber das ist doch komisch: ein Attentäter, der sein Opfer warnt, bevor er schießt?”

„Du warst ja nicht sein Opfer.”

„Stimmt auch wieder.” Marla winkt zurück. „Also dann, lass dich mal wieder sehen.”

12. Kapitel

Es war weniger als ein halbes Jahr her, dass Tatjana ihre Sachen ge­packt hatte und zusammen mit Luise zu Elmar gezogen war. Es war ihre Entscheidung gewesen, eine ziemlich abrupte, die An­der­sen da­mals völlig überrumpelt hatte, ebenso wie die Tatsache, dass Elmar Stieleke ihr Anlass war. Und dass sie in ihm ihre gemeinsame Zukunft sah. Andersen hatte mit allen Mitteln versucht, sie umzustimmen auf seine typische fordernde Art und Weise, die seine Aussichten auf Er­folg sicher noch vermindert hatten. Inzwischen sah er all das, was ge­schehen war - gezwungenermaßen, nicht etwa freiwillig - aus einer gewissen Distanz und musste sich mittlerweile widerwillig eingeste­hen, dass Elmar vielleicht der Anlass, aber nicht der Grund für ihre Trennung war. Andersen hatte die Jahre Revue passieren lassen, die ständigen Scharmützel und Kräche zwischen Tatjana und ihm, und fand sich mehr und mehr mit dem Gedanken ab, dass Tatjana und er - bei aller Wertschätzung, die sie immer noch füreinander empfinden mochten - einfach zu verschieden waren, um eine har­mo­nische Bezie­hung zu führen, und das vom ersten Tag an. Nur dass es eine lange Zeit gegeben hatte, in der keiner von beiden sich das eingestehen wollte.

Als er am Mittwochabend zum verabredeten Abendessen vor Elmars Haus vorfuhr, mischten sich in ihm widersprüchliche Gefühle: Eifer­sucht, verletzter Stolz und freudige Erwartung auf ein Wiedersehen; als wage er sich in Feindesland und würde gleichzeitig nach Hause kom­men.

Elmar Stieleke bewohnte ein großes, über hundert Jahre altes Stadt­haus, energetisch vollsaniert und auf dem neuesten Stand, mitten in ei­nem alten verwilderten Garten, in dem es Obstbäume gab und einen kleine, geschützten Bereich für Küchenkräuter. Luise war einver­stan­den gewesen mitzukommen, hatte dann aber im letzten Moment eine Verabredung mit ihrer Freun­din vorgezogen. Tatjana begrüßte Ander­sen an der Tür mit einer knap­pen Umarmung, nahm die obligatorische Flasche Wein entgegen und führte ihn in ein riesiges Wohn-Ess-Ar­beits­zim­mer, das fast die gesam­te Fläche des Erdgeschosses einnahm - Stieleke erzählte immer gern davon: Er hatte von so et­was schon lange geträumt und als er dieses Haus ge­kauft hatte, aus drei Zimmern eines gemacht.

Elmar begrüßte ihn mit Handschlag. Er war acht Jahre jünger als An­dersen, was man ihm aber nicht sofort ansah: Er war schmal, fast schmächtig, hatte graue Strähnen im Haar und ein kantiges Ge­sicht, was, wie er oft spaßhaft bemerkte, auf zu ausgiebiges Denken und zu viel Lachen zurückzu­füh­ren war, in Wirk­lichkeit aber davon zeugte, dass er lange Jahre exzessiv geraucht und erst vor nicht allzu lan­ger Zeit damit aufgehört hatte.

„Der Herr Kommissar”, sagte er und legte seinem Gast die Hand auf die Schulter. „Schön, dass du uns wieder mal beehrst. Fühl dich wie zu Hause.”

Der Tisch war schon gedeckt. Es gab irgendetwas mehrgängiges Vege­tarisches - wohl oder übel musste Andersen eingestehen, dass Tatjana es ungeachtet ihrer geradezu dogmatischen Meinungen über gesundes Essen hinbekam, ein echtes Festmahl zu bereiten.

Elmar war bemüht entspannt, begrüßte Andersen scherzeshalber mit ‚Herr Kommissar‘ und bot ihm etwas zu trinken an. Das Essen war aus­gezeichnet und verlief ohne die von Andersen befürchteten langen Ge­sprächspausen. Was damit zu tun hatte, dass Elmar Stieleke gern und viel redete.

Was mit der Zeit bei Andersen für wachsenden Unmut sorgte. Er löf­fel­te seine Suppe und aß seinen Salat, während der Do­zent für Politik­wissenschaften artikulierte und gestikulierte, und ange­sichts der Wort­gewandtheit seines Gastgebers wurde ihm die eigene Wortkargheit ge­radezu wie ein Spiegel vorgehalten. Und Tatjanas auf­merksamer Ge­sichts­ausdruck machte nur zu deutlich, wie sehr sie an ihrem neuen Par­tner schätzte, was sie bei ihm, Andersen, wohl immer vermisst hat­te.

Wieso bin ich überhaupt hergekommen?, fragte sich Andersen. Das war noch vor dem Dessert.

Natürlich war der Anschlag auf den großen Charismatiker der Abend­land!-Bewe­gung auch Thema. Tatjana zeigte sich erleichtert: Immer­hin sei damit die vielgeäußerte Befürchtung vom Tisch, dass Roland die historische Schwäche der sogenannten Volksparteien ausnutzen und sich selbst als ‚starker Mann‘ an die Macht boxen könnte, vom Tisch. Aber Stieleke wiedersprach in typischer Intellektu­el­len-Manier: „Dazu kann ich nur auf ein Buch verweisen, das ein geschätzter Kol­lege von mir geschrie­ben hat, Dr. Elias Ferguson: Kritik des Tyrannen­mordes.” Er sprach kauend und gestikulierte mit seiner Gabel, die gerade einen Bissen zum Mund beförderte. „Er will nach­weisen, dass ein At­ten­tat nicht nur das Ende einer Karriere sein kann, sondern auch ihr Anfang. Entweder du gehst drauf oder stehst am Ende unangefoch­ten da. Das Stauffenberg-Attentat vom 20. Juli ging schief. Hitler hat nicht nur überlebt, sondern galt plötzlich als unver­wundbar. Man kann von Glück sagen, dass der Krieg zu diesem Zeit­punkt schon verloren war. Das Attentat auf Julius Caesar gelang; aber was, wenn er es über­lebt hätte? Die heutige Welt sähe sicher an­ders aus. Ferguson bringt eine ganze Reihe von Beispielen dafür, dass ein Anschlag auf das Le­ben eines Mächtigen diesen um so mäch­tiger ge­macht hat.”

„Wenn es ihn nicht getötet hat”, sagte Tatjana.

„Genau.”

„Soll das etwa heißen, dass Stauffenberg für Hitler gearbeitet hat?”

„Nein, natürlich nicht. Das wäre doch auch viel zu einfach. Und Ge­schichte ist ein kompliziertes Gebilde.”

Andersen beobachtete die beiden und hatte kein gutes Gefühl dabei, wie sehr Tatjana an Elmars Lippen hing. Wie sie bewunderte, wie er sich positionierte. Was ist das für eine Beziehung?, dachte er mit wach­sendem Ärger. Die von zwei Liebenden oder die eines Gurus zu seinem Groupie?

Und dann wandte sich Elmar plötzlich an ihn. „Aber jetzt erzählt du doch mal: Was macht deine Mordermittlung?”

Andersen reagierte zugeknöpft. Es hörte sich für nicht so an, als ob Stieleke aus wirklichem Interes­se gefragt hatte, sondern weil er seiner Verpflichtung als Gastgeber genügen wollte, mit dem Gast Konver­sa­tio­n zu pflegen. „Da ist nicht viel zu erzählen”, sagte er. „Aber haupt­säch­lich deshalb, weil es immer ungklug ist, zu viel über eine laufende Er­mittlung zu plaudern.”

„Klar”, sagte Elmar. „Wahrscheinlich auch, weil ihr noch nicht so viel habt, worüber man plaudern könn­te.”

„Das auch.”

„Benno von Zabern.” Elmar nickte nachdenklich, während er das Messer zur Hand nahm und ein Ba­guette mit Kräuterbutter bestrich. „Eine Ikone der Umweltbewegung.”

Klar, dass die beiden in ihrer linksintellektuellen Blase seine Fans sind, dachte Andersen. „Viele hal­ten ihn auch für einen Wendehals”, sag­te er deshalb. „Sie werfen ihm vor, dass er früher Ideale hatte, die er später für seine Popularität verkauft hat.”

„Stimmt”, meinte Tatjana zu Andersens Genugtuung, „davon habe ich auch gehört. Dass er dem App­laus nicht widerstehen konnte.”

„Na ja, wer kann das schon”, sagte Stieleke. „Immerhin gilt er als einer der Autoren des Rubikon-Papiers.”

Natürlich war es dem Hauptkommissar nicht recht, einen weiteren Kurz­vortrag zu provozieren, aber hier musste er einfach fragen: „Weißt du etwas darüber?”

Stieleke zuckte mit den Achseln. „Offengestanden habe ich keine Ah­nung, ob es sich hier nicht um ein literarisches Phantom handelt. Um­weltbewegungen in aller Welt haben behauptet, dass man das Papier aus dem Verkehr gezogen hätte, weil es zu radikal ist. Andere bestrei­ten, dass es es jemals gegeben hat.”

„Und wieso dieser Titel?”

„Ehrlich gesagt, Nils, kann ich dir darüber genauso wenig sagen wie du über deine Ermittlung. Es ist eben Spekulation. Der Rubikon steht für etwas, das nicht rückgängig zu machen ist. Caesar über­schritt den Ru­bikon und besiegelte damit das Schicksal der römischen Republik.”

„Nur dass dieses Pamphlet nichts mit Politik zu tun hat?”

„Haben soll. Es befasst sich mit dem Weltklima. Aber, wie gesagt, ich neige eher dazu, denen zuzustimmen, die das ganze für eine Legende halten.”

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