Читать книгу: «Das Rubikon-Papier», страница 2

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4. Kapitel

„Du hältst nicht viel von ihren mysteriösen Andeutungen, was?“, erkundigte sich Grunwald, während sie zum Präsidium zurückfuhren.

„Sie kann sagen, was sie will, aber das ist ein Raubmord wie aus dem Lehrbuch.“ Andersen schüttelte den Kopf. „Mir ist schleierhaft, wie man sich einen solchen Palast leistet und auf die Alarmanlage ver­zich­tet.“

„Frau Holm wird das Interesse der Presse nutzen, ihre Version zu ver­breiten.“

„Für Nelli Holm ist ihr Lebensgefährte ein zu bedeutender Mann, als dass er bei einem banalen Einbruch ums Leben kommen könnte“, meinte Andersen. „Es muss ein Märtyrertod sein. Untergegangen für eine Sache, für die er immer an vorderster Front gestanden hat. Er­mordet von Handlangern des Systems, so in der Art.“

Grunwald nickte. „Sie strickt an der Legende vom mutigen Wis­sen­schaftler, der den ignoranten Politikern die Stirn bietet. Dabei war er al­les andere. Ein Fernsehclown, der sich in jede Talkshow schleifen ließ, um dort Allgemeinplätze über das Wetter abzusondern.”

„Du weißt ja ganz gut über ihn Bescheid.”

„Ach was. Ich hab nur ab und zu die Glotze an. - Übrigens meinte sie, dass von Zabern neulich mit einer Umweltaktivistin im Fernsehen an­einandergeraten sei, die ihm beinahe an die Gurgel gegangen sei.“

Andersen verzog das Gesicht. „Diese Frau ist bei von Zabern ein­ge­brochen, um ihn zu ermorden – das ist ihre Theorie?“, fragte er. „Und dann hat sie obendrein auch noch die Klunker mitgehen lassen? In einer Talkshow unterschiedlicher Meinung zu sein, ist normal. Des­halb bringt man niemanden um.“

„Ich frage mich allerdings, warum der Schreibtisch durchwühlt wur­de.“

„Was hattest du denn erwartet?“, spottete Andersen. „Dass die Ein­brecher ihn aufräumen würden?“

„Ich meine, wenn jemand Wertgegenstände sucht, Schmuck, golde­ne Uhren oder Bargeld, warum widmet er sich so ausgiebig dem Schreib­tisch?“

„Und dann diese Datei ...“

„Welche Datei?”

„Der Compter zeigte eine Datei namens Rubikon an.”

„Und?”

„Das war‘s schon. Die Datei war auf einem Stick. Der Stick ist ver­schwunden. Und der Rechner abgestürzt.”

„Du hast also keine Ahnung, was das für eine Datei ist.”

„Nicht die geringste.”

„Na toll.”

Andersen bremste ab und stoppte. Sie standen im Stau, der Regen pras­selte. Die Belüftung tat ihr Bestes, damit die Scheiben nicht be­schlugen. „Was machen denn deine Urlaubspläne?”, fragte er.

„Na ja, du kennst ja Undine.”

Andersen hörte den Namen zum ersten Mal. Grunwalds Partnerin­nen wechselten in einem atemberaubenden Tempo. Es hatte keinen Sinn, sich Namen zu merken.

„Sie möchte unbedingt wohin, wo es warm ist. Also nicht nur ein biss­chen, sondern mindestens 30 Grad im Schatten. Und sie hat Flug­angst.”

„Dann wünsche ich viel Spaß bei der Suche.” Andersen nahm jetzt doch einen Lappen, um die Scheibe frei zu bekommen. Das da drau­ßen war nicht nur Regen; er meinte auch Schneeflocken dazwischen auszumachen. Wär hätte das gedacht? Und das nennt man jetzt Juni.

Er fragte sich, ob die Sache mit Tatjana anders verlaufen wäre, wenn er nicht damals auch schon mit Frank Grunwald zusammengear­beitet hätte. Sie mochte ihn nicht, nannte ihn einen Matscho, der nicht er­wachsen geworden sei. Keine Kinder, keine Familie, alle drei Mona­te eine neue Frau. Auf Andersen hatte er einen schlechten Einfluss, fand sie.

Aber nein, das mit Frank war nur vorgeschoben. In Wirklichkeit hatte es nur einen Trennungsgrund gegeben: Elmar, das intellektuelle Genie. Er hatte mit Kindern und Familie ebensowenig am Hut wie Frank. Die Politik war sein Ding. Als Prof der Politikwissenschaften erklärte er den Studierenden die Welt und wie man sie radikal verän­derte. Of­fen­bar war er einer dieser Typen, die zu allem etwas zu sagen hatten, was viele, besonders Frauen, dazu verleitete zu glauben, dass er alles wis­se. - Und Tatjana? Sie erkannte einen Matscho nicht mal, wenn sie mit ihm liiert war, nur weil er kein goldenes Kettchen um den Hals trug und sie nicht Kindchen oder Kleines nannte. Ausschlag­gebend für eine Alt-Hausbesetzerin wie sie war, dass Elmar politisch aktiv war und das bedeutete, für eine Sache zu kämpfen und nicht nur seinen Job zu machen. Nicht so wie Andersen, der für Politik nichts übrig hatte.

„Elmar ist einer, der nicht nur daherredet“, hatte sie erklärt, „er will in die Politik, um Dinge zu verändern. So etwas erfordert Mut.“

„Er lebt gut von seinem Professorengehalt und freut sich auf einen Schreibtisch in Düsseldorf, und du tust so, als würde er täglich dem Tod ins Auge sehen.“

„Dass du das so siehst, wundert mich nicht. Weil es dir völlig egal ist, ob du mit deiner Arbeit irgendetwas verändern kannst.“

Vielleicht war es ein gutes Zeichen, dass Luise dem linken Famili­en­idyll nun den Rücken kehrte und zu ihm flüchtete. Wenn es denn eine Flucht war. Aber Tatjanas Weltbild von der emanzipierten, streit­baren Mutter auf der einen und dem egoistischen, eigenbrödlerischen Vater auf der anderen Seite konnte ja nicht ewig gelten. Seit langem freute auch er sich heute zum ersten Mal wieder auf die Zeit nach Dienst­schluss. Er freute sich auf Luise.

5. Kapitel

Sie ist wieder einmal zu spät dran. Viel zu spät. Die Veranstaltung im Stadion hat längst begonnen. Marla lässt den kurzen Security-Check über sich er­gehen, rennt durch den Gang, dann eine Treppe hinauf und tritt wieder ins Freie, lässt ihren Blick über die Ränge des Stadions schweifen. Alle Plätze sind besetzt. Ein Meer aus Gesichtern. Und Li­ane kann sie nicht entdecken. Dabei ist sie ganz bestimmt hier und hat lange genug auf ihre Kommilitonin gewartet. Also gut, das ge­schieht ihr recht. Vielleicht sollte sie einfach wieder gehen. Wahl­kampfver­an­stal­tungen sind noch nie ihr Fall gewesen. Und die von Rechtspo­pulis­ten schon gar nicht.

Aber gerade deshalb Flagge zeigen - damit hat Liane sie zu dieser Ak­ti­on überredet. Dieser Mensch redet von Europa, und wir sind Stipen­diaten des von-Zabern-Kollegs. Wir dürfen ihm nicht kampflos die Büh­ne überlassen. Also schön, dann hat sie sich überreden lassen, mit einer Handvoll anderer Studentinnen ihres Jahrgangs ins Stadion zu gehen und ein Transparent hochzuhalten. Nur jetzt kann sie es nir­gends entde­cken. Vielleicht sind die anderen Frauen auch zu spät ge­kommen ...

Das von-Zabern-Kolleg ist ein Institut der Kindermann-Stiftung, eine Bildungseinrichtung, die sich dem europäischen Gedanken verschrie­ben hat. Europäische Geschichte, europäische Traditionen und Errun­genschaften wie Demokratie, Menschenrechte, kulturelle Vielfalt. Die Abschlussarbeit - für Marla fällt sie dieses Jahr an - muss sich natür­lich irgendeinem europäischen Thema widmen.

„Hey, kannst du mal zur Seite gehen?”, beschwert sich jemand hinter ihr. „Du stehst im Weg.”

Marla räumt das Feld, tritt zurück auf den Gang, der zwischen den Rängen nach oben führt.

Applaus brandet auf. Marla dreht sich wieder um und wirft einen Blick auf den Redner, für den eine Tribüne mitten in der Arena er­richtet wurde. Armin Roland steht mit erhobenen Ar­men da und wartet das Ende des Applauses ab. Er wirkt wie ein Diri­gent. Ein Mann um die dreißig, der sich der Wirkung seiner attrakti­ven Erscheinung be­wusst ist. Schlank, glatt rasiert, in in einem creme­farbenen Anzug, der leger wirkt, aber auch nicht unseriös. Der ideale Schwiegersohn. Ein junges Gesicht in der überalterten Politik, das Veränderung und Auf­bruch verspricht.

Dabei weist er die Bezeich­nung Politiker bei jeder Gelegenheit kokett zurück. Er sei kein Politi­ker, sondern ein normaler Bürger, der eine Vi­si­on habe und etwas ver­ändern wolle. Und ebenso seien seine Anhän­ger keine politische Par­tei, sondern eine Bewegung. Die Bewegung Abendland!.

Der Applaus ebbt ab.

Rolands sonore, eindringliche Stimme schallt durch das Stadion. Man hört ihr an, dass der Redner in seinem Ele­ment ist. Trotzdem versteht man ihn nicht so gut, weil das Mikrofon einen Hall erzeugt und die Wiedergabe verzerrt. Einmal mehr be­kräftigt der Redner leiden­schaft­lich, dass er nicht nach Politikerart Verspre­chun­gen machen will. Er habe nichts zu ver­sprechen. Aber er verachte diejeingen, die immer alles kleinredeten und nichts unternähmen. Die keinerlei Probleme damit hätten, Ver­sprechen zu machen, die sie niemals zu halten ge­dächten. Während man ihm vorwerfe, Angst zu schüren. Dass er nicht lache: „Wenn das Boot überfüllt ist, zu kentern droht und am Horizont ein Sturm auf­zieht, ist dann etwa der, der vorsichtsalber Schwimmwe­sten verteilt, einer, der Angst schürt? Der das Unwetter herbeiredet? - Dabei ist es nicht meine Absicht, Schwimmwesten zu verteilen. Ich ru­fe euch alle auf, es nicht dazu kommen zu lassen, dass das Boot zu kentern droht, wenn ein Sturm aufzieht.”

Applaus.

Marla Lubitsch meint, Liane entdeckt zu haben, läuft ein paar Trep­penstufen hinunter, bis sie merkt, dass sie sich geirrt hat. Beifälliges Lachen schallt über die Ränge - Roland muss einen Scherz gemacht haben, den sie nicht mitbekommen hat. Jetzt legt er noch nach. Ge­lächter. Roland ist keiner, der den Leuten Angst macht; er bringt sie zum Lachen.

Sie ist jetzt beinahe ganz oben angekommen. Leider wird das Gedrän­gel hier nicht weniger, im Gegenteil: Sogar die Stehplätze sind knapp. Marla weicht aus bis zum äußersten Rand, hier kann sie unbedrängt stehen und hat das Geschehen im Auge. Unmittelbar hinter ihr ragt ei­ner der Masten in den Himmel, die das Flutlicht tragen. Und dann glaubt sie, hinter sich etwas gehört zu haben. Ein Zischen.

„Los, weg da!”, kommt es dann etwas lauter, als sie schon denkt, sich verhört zu haben. „Runter mit dem Kopf!”

Sie dreht sich um.

Da ist niemand. Bleibt, wo sie ist, aber geht vor­sichtshalber in die Ho­cke. Aber das ist keine angenehme Haltung, au­ßerdem kann sie jetzt nicht mehr viel von dem sehen, was da unten ge­schieht. Also richtet sie sich nach einer Weile wieder auf.

„Runter, hab ich gesagt!”

Unmittelbar darauf verspürt sie einen Schlag von hinten gegen ihre Schulter, der sie zu Boden wirft. Sie verliert das Bewusstsein.

6. Kapitel

„Na, wie war das Date mit deiner Tochter?“, erkundigte sich Frank am nächsten Morgen, als er gegen zehn Uhr in Andersens Büro kam. „Seid ihr aus essen gewesen?”

„Na ja, nicht direkt“, murrte Andersen. „Wäre bei dem lausigen Wetter auch kein Spaß gewesen.“

„Na und? Was habt ihr stattdessen gemacht?“

„Sie hat angerufen, dass sie mit einer Freundin verabredet ist. Und ich hab vor der Glotze gepennt. Ein Abend wie jeder andere.“

„Na, das wird schon wieder.“ Grunwald grinste aufmunternd und we­delte mit zwei Din-A4-Blättern. „Das solltest du dir ansehen. Dage­gen sind Frau Holms Mutmaßungen so klar und präzise wie der Satz des Py­thagoras.“

Es handelte sich um den Ausdruck eines Artikels aus einer Internet-Zeitschrift namens www.news-on-line.de.

Fragen, die keiner stellen will.

Am Montag, den 24. Juni, wurde Dr. Benno von Zabern in seinem Haus tot aufgefunden. Bislang hüllt sich die Kriminalpolizei in Schwei­gen, was die näheren Umstände der Tat angeht. Doch man darf damit rechnen, dass wir schon morgen, spätestens übermorgen erfah­ren werden, dass es sich um einen tragischen Unfall handelt. Oder um einen Einbruch mit Todesfolge.

Warum das so ist? Weil niemand ein Interesse daran hat, näher nach­zufragen und an dem zu rühren, was hinter diesem Mord steht.

Von Zabern war uns allen ein Begriff als unnachgiebiger Kritiker des allgemeinen Dogmas vom weltweiten Wachs­tum. Außerdem mach­te er sich gegen Umweltvergehen aller Art stark, wie etwa das Abhol­zen des Regenwaldes und die Ölbohrungen im Wattenmeer.

Doch war er außerdem noch einer Sache auf der Spur, die der Öf­fent­lichkeit - aus welchen Gründen auch immer - bis heute vorenthal­ten wird. Und das Wissen von dieser Sache kostete ihn das Leben.

Seit Jahren unterhalten gewisse Kreise des weltweiten militärisch-in­dustriellen Komplexes Kontakte zu einer außerirdischen Intelligenz. Seit Jahren starten Raumschiffe von der Erde in Richtung Mars, und seit Jahren landen marsianische Schiffe auf der Erde. Die Start- und Landeplätze werden natürlich geheimgehalten. Zeugen werden zum Schweigen gebracht oder verschwinden auf rätselhafte Weise.

Was steckt hinter dem Schweigen? Militärische Inter­essen? Die Tat­sache, dass ein solches Top-secret-Projekt Unsummen von Geld ver­schlingt, die irgendwie an den Parlamenten vorbeigeschleust wer­den?Wer finanziert das Vorhaben und mit welchem Ziel?

Dass es Starts oder Landungen überhaupt gibt, wird von allen offi­zi­ellen Stellen als Ufoquatsch abgetan, als hanebüchener Unsinn, und alle, die nachfragen, für geisteskrank erklärt. Man verweist darauf, dass die bemannte Raumfahrt seit Jahren eingestellt wurde, bis auf die üblichen Mond- und Erdumkreisungen, die exklusive Reiseverant­stalter inzwischen in ihr Programm aufgenommen haben. Das EXTI­REC (Extraterrestrical Intelligence Research Center, www.exti­rec.com) bestreitet dies jedoch nachdrücklich. Zudem ist es erst einen knappen Monat her, dass sich im schottischen Hochland etwa hundert Kilometer westlich von Inverness ein mysteriöser Absturz ereignete. Es gab Zeugen, doch die wurden eingeschüchtert. Alle Spuren wurden über Nacht beseitigt. Jetzt brauchte man nur noch zu dementieren und alles hatte nie stattgefunden.

Von Zabern, einer der letzten großen Aufklärer unserer Zeit, hat sich daran gewagt, einige dieser Geheimnisse zu lüften und ein Buch da­rüber zu veröffentlichen. Dies bezahlte er mit seinem Leben. Sein Tod ist tragisch, doch allemal Beweis genug dafür, dass er nicht im Trüben herumfischte oder sich mit banalen Ufo-Fantasien abgab, die man heutzutage dutzendweise in Illustrierten ...

„Das darf ja wohl nicht wahr sein.“ Andersen las nicht weiter. „Solch haarsträubender Blödsinn ist mir seit Jahren nicht untergekom­men.“ Angewidert warf er die Blätter auf den Schreibtisch.

Grunwald nickte. „Ich habe den Artikel ausgedruckt wegen des Na­mens, der darunter steht.“

Andersen griff noch einmal nach dem zweiten Blatt. „R. Kerkhoff“, las er.

„Das ist der Mann, der auf von Zaberns Anrufbeantworter gespro­chen hat.“

„Ich frage mich, wozu der ein Interview mit von Zabern machen woll­te, wo er doch sowieso schon alles weiß.“ Andersen grinste. „Am bes­ten rufe ich Frau Holm an und frage sie, was sie von der Möglich­keit hält, dass Marsmenschen ihren Mann ermordeten.“

Das Telefon klingelte. Andersen nahm ab.

„Frau Holm für Sie“, teilte ihm die Zentrale mit.

Andersen warf seinem Kollegen einen Blick zu. „Wenn man vom Teu­fel spricht ... - Was kann ich für Sie tun, Frau Holm?“

„Es wurde eingebrochen.“

„Das wissen wir bereits.“

„Sie verstehen mich nicht. Ich meine, dass diese Nacht eingebro­chen wurde.“

„Noch einmal?“

„Ja. Jemand hat sich Zugang durch die Seitentür der Garage ver­schafft und ist so ins Haus gelangt.“

„Hat er etwas gestohlen?“

„Ich weiß, dass Sie mir nicht glauben, Herr Kommissar. Derjenige, der Benno ermordete, wollte nichts stehlen. Er hat nach etwas ge­sucht.“

***

Hauptkommissar Andersen gehörte nicht zu den Menschen, die sich oft in etwas ver­rannten. So wie andere gab er nicht gern Fehler zu oder nahm eine Meinung zurück, wenn sie sich als falsch erwies. Doch es schien ihm leichter zu gelingen als den meisten. Manche be­neideten ihn um diese Eigenart, anderen galt er deshalb als windiger Typ. Für Andersen selbst stand fest, dass die Fähigkeit, Fehler zu ma­chen und sie einzu­gestehen, einen nicht unerheblichen Anteil an sei­nem beruflichen Fortkommen hatte. Gerade wenn man über Talent und einen guten In­stinkt verfügte, durfte man nicht in die Attitüde des Superbullen ver­fallen, dessen untrügliche Spürnase immer richtig lag. Wer eine Sack­gasse betrat und den Rückweg aus Ehrengründen aus­schloss, war ein Dummkopf. Viele Kollegen würden das niemals be­greifen.

So wie es aussah, hatte er den Mordfall von Zabern falsch beurteilt. Hatte noch gestern alles nach einem Raubmord ausgesehen, so war diese Theorie heute nicht mehr viel wert. Es kam nicht vor, dass an zwei aufeinanderfolgenden Tagen im selben Haus eingebrochen wur­de, schon gar nicht, wenn das erste Mal mit einem Mord geendet hat­te. Das Fehlen der Schmuckschatulle hatte Andersen voreilig über­zeugt, denn er hatte nicht die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass der Täter keinen Einbruch vorgetäuscht, sondern tatsächlich einen be­gangen hatte, um von dem abzulenken, was sich hinter dem Mord ver­barg. Vielleicht hätte er dann auch Frank Grunwalds Bemerkung über das Chaos auf dem Schreibtisch nicht mit einer flapsigen Bemerkung abgetan.

Dieses Mal fuhr er allein zum Tatort. Unterwegs rief er Lingen an und erfuhr, dass dessen Suche nach der mysteriösen Datei, die der Monitor angezeigt hatte, leider vergeblich gewesen war. Das Dokument befand sich auf keiner der CDs, die am Tatort gefunden worden waren.

Zwei Kollegen der Spurensicherung, die er in von Zaberns Haus antraf, informierten ihn über den Stand der Dinge: Der neuerliche Ein­bruch hatte zwischen neun und zehn Uhr stattgefunden, während Nelli einen Arztbesuch machte. Da die Beamten verschiedene Abdrücke ge­funden hatten - einen von einem Stiefel und einen von einem Schuh - gingen sie von zwei Tätern aus. Diese waren durch die Garage gekom­men und dann ins Wohnzimmer eingedrungen, das erst Stunden zuvor von der Kripo versiegelt worden war.

Gut die Hälfte der Bücher war dieses Mal aus den Regalen gerissen worden und lag über den Boden verstreut.

„Also haben sie gestern nicht gefunden, was sie suchten“, meinte der Hauptkommissar.

Nachdem die Kollegen sich verabschiedet hatten, wandte er sich an Nelli Holm, die auf der Couch saß und die Arme um ihre Knie ge­schlungen hatte.

Sie sah erschöpft aus.

„Haben Sie irgendeine Idee, was diese Leute gesucht haben könn­ten?“

Nelli starrte vor sich hin und schüttelte den Kopf.

„Diese Männer haben nicht nur einen Menschen getötet“, erläuterte Andersen, „sondern sind außerdem ein hohes Risiko eingegangen, in­dem sie ein zweites Mal in das Haus eindrangen. Was auch immer sie suchten, es muss für sie von enormem Wert sein.“

„Ich kann Ihnen nicht mehr sagen als gestern, Herr Kommissar.“

„Woran arbeitete Dr. von Zabern gerade?“

Nelli sah auf. „Zur Zeit saß er soviel ich weiß an einer kritischen Würdigung des Kyotoprotokolls. Außerdem sammelte er Material für eine Autobiografie.“

„Sagt Ihnen die Bezeichnung Rubikon etwas?“

„Nein, nichts.“

„Gestern zeigte der Monitor seines Computers eine Datei an, die sich nicht auf der Festplatte befand, sondern wahrscheinlich auf einem USB-Stick. Der war allerdings nicht auffindbar.“

„Das wundert mich nicht.“

„Warum nicht?“

„Benno hätte niemals einen Stick im Rechner stecken lassen, wenn er eine Pause machte. Er bildete sich ein, dass er dann zu heiß werden könnte. Ich habe ihm oft genug gesagt, dass das Unsinn ist, aber er war nicht davon abzubringen.“

„Sie meinen also, er könnte den Stick herausgenommen haben, be­vor er zum Joggen das Haus verließ?“

Nelli nickte.

„Wo könnte er ihn aufbewahrt haben?“

„Er legte seine Datenträger gewöhnlich auf den Schreibtisch, soviel ich weiß.“

Andersen schüttelte den Kopf. „Dort haben wir alles überprüft. Au­ßerdem haben die Täter dort mit Sicherheit auch zuerst gesucht.“

Frau Holm wies mit dem Arm auf die oberen Bücherregale, die noch unangetastet waren. „Er hatte die Angewohnheit, Briefe oder Geld­scheine in Bücher zu stecken und sie dort zu vergessen“, sagte sie. „Wenn er sie dann Monate später zufällig wiederentdeckte, war er selbst überrascht. Da zeigt sich mal wieder, dass Lesen eine spannende Sache ist, sagte er.“

„Also gut“, meinte Andersen. „Dann werden wir uns die oberen Rei­hen vornehmen.“

„Vielleicht waren die Mörder aber auch hinter etwas anderem her.“

„Möglich.“ Er lächelte. „Aber da wir noch nichts anderes haben, ge­hen wir doch einmal von der Annahme aus, sie hätten diesen Stick ge­sucht. Was immer sich darauf befand, es durfte nicht in falsche Hän­de geraten. Da ihr erster Versuch, sie an sich zu bringen, scheiterte, blieb ihnen nichts anderes übrig, als noch einmal zurückzukommen und wei­terzusuchen.“ Mit der linken Hand strich er sich über das Kinn. „Die Frage ist: Haben sie sie beim zweiten Anlauf gefunden?“

Nelli Holm antwortete nicht. Immer noch starrte sie mit einem lee­ren Blick vor sich hin, der Andersen verriet, dass sie seinen Gedanken überhaupt nicht folgte.

„Da ist noch etwas“, fügte er hinzu. „Können Sie sich etwas vor­stel­len, was Dr. von Zabern auf der Seele lag? Etwas, das er gern mit Ih­nen klären wollte und dafür die schriftliche Form wählte?“

Frau Holm sah ihn fragend an.

Andersen trat zum Schreibtisch und suchte das Blatt Papier hervor. „Meine Kleine“, las er laut, „ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. Vielleicht aber ist es auch gar nicht mehr nötig. Trotzdem werde ich versuchen, dir zu erklären .... Diesen Brief hatte er angefangen. Viel­leicht wollte er ihn fertigstellen, nachdem er vom Joggen zurückkam.“

Nelli schüttelte den Kopf. „Ich kann mir nicht denken, was er meint. Und er hat mich nie meine Kleine genannt.“

„Der Brief ist auch nicht an dich gerichtet, sondern an mich“, er­klärte eine andere Frau, die in diesem Moment das Zimmer betrat. Sie war schmal und zierlich und hatte langes, dunkles Haar. Das genaue Gegenstück zu Nelli Holm. Andersen schätzte sie auf Anfang dreißig.

„Anne?“, wunderte sich Nelli. „Wie bist du hereingekommen?“

„Mit dem Schlüssel.“ Die Frau warf Nelli einen auffällig kühlen Bick zu. „Das ist immer noch mein Zuhause.“

„Es ist meines“, widersprach Nelli. „Und das deines Vaters.“

„Sie sind die Tochter des Ermordeten?“, fragte Andersen überfüssi­gerweise.

„Nelli war so freundlich, mich von Papas Tod zu informieren.“ Anne streckte die Hand nach dem Brief aus, und Andersen überließ ihn ihr. „Haben Sie schon einen Verdacht, wer ihn getötet haben könn­te?“

„Leider noch nichts konkretes. Frau Holm glaubt, dass der Mord im Zusammenhang mit seiner Arbeit zu sehen ist.“

„Sicher.“ Anne warf mit einer Kopfbewegung ihr Haar zurück. „Sie will, dass alles einen Sinn ergibt. Deshalb möchte sie, dass er für eine Sache gestorben ist. Dabei gibt es keine Sache, die irgendeinem Tod einen Sinn gibt.“

„Du sagst das so, als mache mir diese Tragödie nichts aus“, be­schwerte sich Nelli. „Dabei weißt du genau, dass das nicht nicht wahr ist! Ich habe der Polizei lediglich gesagt, dass Benno ein streitbarer Mann war.“

„Mit wem hat er sich in der letzten Zeit angelegt?“, fragte der Haupt­kommissar.

„Von konservativer Seite hat es sogar Morddrohungen gegeben, doch das ist jetzt schon ein paar Jahre her.“

Anne von Zabern schien dem Gespräch nicht weiter zu folgen. Sie nahm auf einer Sessellehne Platz, schlug die Beine übereinander und studierte das Papier in ihrer Hand, als handele es sich um einen seiten­langen Brief und nicht um ein kurzes Fragment.

Nelli erhob sich, trat ans Fenster und sah in den parkähnlichen Gar­ten hinaus, der durch den Regenschleier grau und ungemütlich wirkte.

„Wie haben Sie Herrn von Zabern kennengelernt?“, fragte Ander­sen.

Nelli drehte sich um und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Fensterscheibe. „Ist das für Sie wichtig?“

„Zu diesem Zeitpunkt ist leider schwer einzugrenzen, was wichtig ist und was nicht.“ Andersen lächelte versöhnlich. „Wenn Sie nicht wollen, brauchen Sie es mir nicht zu erzählen.“

„Seit etlichen Jahren bin ich Mitarbeiterin von Attack. Das ist eine Or­ganisation, die sich überall auf der Welt gegen die unmenschlichen Fol­gen der Globalisierung wehrt. Ich besuchte den Weltwirtschaftsgip­fel in Genua, wo wir Protestaktionen inszenierten und demonstrierten. Die Sicher­heits­kräfte gingen damals mit unge­wöhnlicher Härte gegen uns vor. Viele Jugendliche wurden ver­letzt. Ich hatte ein Riesenglück. Ein Polizeibeamter stellte mich in einer Sackgasse und hob seinen Gum­miknüppel gegen mich. Von hinten trat ein Mann auf ihn zu, riss ihm den Knüppel aus der Hand und schleu­derte ihn über eine Mauer. Der Bulle war so perplex, dass er überhaupt nicht reagierte.“

„Und dieser Mann war Dr. von Zabern?“

„Er nahm gar nicht an den Demonstrationen teil. Dafür sei er in­zwi­schen zu alt, meinte er.“ Nellis Gesichtsausdruck wurde schwär­merisch, während sie sich erinnerte. „Benno wollte nur ein paar Sze­nen auf Video festhalten für eine TV-Dokumentation. Wir haben uns damals nur kurz gesehen, auf einen Kaffee sozusagen. Aber ich be­suchte ihn später hier, als ich in Münster ein Studium begann. Und dann ging es mit uns los.“

„Wussten Sie, was er beruflich machte?“

„Natürlich. Schließlich war er eine Instanz in der ökologischen Be­wegung und ging voll in seiner Arbeit auf. Ich bewunderte ihn. Das tue ich noch heute.“ Sie wandte ihr Gesicht zur Fensterscheibe.

„Meinem Kollegen gegenüber erwähnten Sie gestern ein Fernseh­streitgespräch, in dessen Verlauf es zu einer Auseinandersetzung kam.“

Frau Holm schneuzte in ein Taschentuch. Andersen hatte das Ge­fühl, dass das Reden über die Vergangenheit ihre Stimmung besserte.

„Die Frau, die ihn attackiert hat“, fuhr sie fort, „war eine Spreche­rin der Regenwaldpiraten. Das ist eine radikalökologische Gruppie­rung. Gerüchten zufolge verüben sie hin und wieder Anschläge, aller­dings nur gegen Sachen. Die Gruppe unterhält ein Koordinationsbüro hier in der Stadt.“

Andersen hatte Block und Kugelschreiber hervorgezogen. Während er sich Notizen machte, verließ Nelli den Raum. „Entschuldigen Sie mich einen Augenblick.“

Andersen hörte sie die Treppe hinaufgehen.

Anne nutzte die Gelegenheit, ihr Schweigen zu brechen. „Es stimmt, was sie sagt“, meinte sie. „Papa ist in seiner Arbeit vollkom­men auf­ge­gangen.“ Was Nelli in schwärmerischer Bewunderung geäu­ßert hat­te, klang aus ihrem Mund wie ein Vorwurf. „Sie bedeutete al­les für ihn.“

„Sie wollen sagen, ein Kind hatte wenig Platz in seinem Leben, nicht wahr?“

Anne presste die Lippen zusammen. „Das wäre noch übertrieben.“

„Aber Nelli hatte einen?“

„Sie war ein Teil seiner Arbeit. Jedenfalls lange Zeit.“

„Und danach?“

Die junge Frau wedelte mit dem Blatt Papier. „Ich glaube, dass er da­rauf in diesem Brief zu sprechen kommen wollte. Papa war anders in der letzten Zeit. Ich hatte das Gefühl, dass ihm vieles klar geworden war und er sein Leben ändern wollte. Ich vermute, er hatte vor, ihr mitzuteilen, dass er sich nach langer Zeit besser mit Rosa versteht.“

„Rosa?“

„Meine Mutter. Sie leben schon lange getrennt, doch seit einiger Zeit haben sie sich wieder regelmäßig getroffen.“

„Demnach wäre der Brief doch nicht an Sie gerichtet, sondern an Nel­li?“

Die junge Frau nickte. „Ich habe mich wohl getäuscht.“

„Glauben Sie, dass Ihr Vater Nelli verlassen wollte?“

Annes Mund wurde zum Strich. „Meine Stiefmutter ist drei Jahre jün­ger als ich. Eine Zeit lang mag das seinen Reiz gehabt haben, doch ir­gendwann wurde selbst Papa klar, dass das für eine Familie kein sta­bi­ler Zustand sein kann.“

Nelli kehrte zurück. Im Arm hielt sie einen Stapel Videokassetten. „Das sind Ausschnitte aus seiner Arbeit, Fernsehsendungen, Reden und Vorlesungen, die er gehalten hat“, sagte sie. „Sie können sich so vielleicht besser ein Bild machen.“

„Wie würden Sie Ihre Beziehung zu Dr. von Zabern beschreiben?“, fragte Andersen, während er das Material an sich nahm.

Nelli Holm warf Anne einen lauernden Blick zu. „Ich wüsste nicht, was -“, setzte sie an.

In diesem Moment klingelte es an der Haustür.

Frau Holm ging, um zu öffnen.

Der Ankömmling hatte eine hohe männliche Stimme. Er schien Nelli sein Beileid auszusprechen. „Ich habe es aus den Nachrichten er­fah­ren“, sagte der Mann. „Zuerst wollte ich es nicht glauben.“

Ein kleiner, dicklicher Mann betrat den Raum. Andersen schätzte sein Alter auf sechzig Jahre. Er hatte ein rundes Gesicht, eine Glatze und einen säuberlich gestutzten Backenbart, der altmodisch wirkte. Auffällig waren seine überaus wachen Augen, mit denen er Andersen nicht unfreundlich, aber neugierig musterte, nachdem er Anne mit ei­nem Nicken begrüßt hatte.

„Andersen, Kripo Münster“, beantwortete der Hauptkommissar die nicht gestellte Frage. „Ich bearbeite den Fall.“

„Mackenstedt“, stellte sich der Dicke vor. „Ich bin - war ein guter Freund des Ermordeten.“

„Darf ich fragen, wie lange Sie sich kannten?“

„Nun, seit etlichen Jahren. Wir haben so manche Sache gemeinsam auf die Beine gestellt.“ Mackenstedt schüttelte den Kopf. „Und jetzt das ...“

„Sie haben also beruflich zusammengearbeitet?“

„Nicht im eigentlichen Sinne. Von Hause aus bin ich Geologe, wäh­rend Benno Klimatologe ist. Verzeihen Sie: war. In gewisser Wei­se kann man sagen, dass wir uns ergänzt haben.“

„Inwiefern?“

„Damals veröffentlichte ich ein Buch, in dem ich einige seiner Grundthesen widerlegte. Benno lud mich in seine Sendung ein und wir stritten um die Wahrheit. Daraus entstand ein Dauerdisput, der für uns beide sehr gewinnbringend war.“

„Können Sie sich ein Mordmotiv vorstellen, das mit seiner Arbeit zu tun hat?“

„Deutet denn etwas darauf hin?“ Mackenstedt runzelte die Stirn. „Im Radio war von Einbruch die Rede.“

Andersen nickte. „Die Täter haben Schmuck gestohlen, um davon ab­zulenken, dass sie etwas ganz Bestimmtes gesucht haben. Vielleicht et­was, das sie identifizieren könnte. Möglicherweise wurde Herr von Zabern deswegen auch ermordet.“

„Sie denken daran, dass Benno ermordet wurde, weil er mit seinem Wissen für jemanden eine Bedrohung darstellte?“

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