Читать книгу: «Das Rubikon-Papier», страница 3

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„Wäre das Ihrer Meinung nach denkbar?“

„Sicher war Benno nicht der Typ, der einen Bogen um ein Thema machte, wenn es sich als heißes Eisen entpuppte. Ich kann Ihnen aber nicht sagen, woran er momentan arbeitete.“

„Hatte er Feinde?“

„Feinde!“ Mackenstedt breitete ratlos die Arme aus. „Dieser Mann war Wissenschaftler. Da hast du keine Feinde. Gegner vielleicht, Wi­dersacher. Sie haben eine andere Meinung als du, verreißen dich in Fachzeitschriften oder beschimpfen dich in einer Fernsehsendung. Aber sie dringen nicht in dein Haus ein und schießen dich nieder.“

„Also gut“, meinte Andersen. „Nennen wir sie Gegner oder Wider­sacher. Wer käme da in Frage?“

Der Mann mit dem gepflegten Bart schüttelte den Kopf. „Wie ge­sagt, ich sah ihn zu selten, um darüber auf dem Laufenden zu sein, mit wem er sich angelegt haben könnte. Abgesehen davon letzter Zeit käme ich natürlich in Frage.“ Er lächelte. „Ich war wohl sein ärgster Widersa­cher.“

7. Kapitel

Kerkhoff hatte das Gefühl, dass ihn jemand beschattete. Wie oft war ihm der dunkelblaue Kleintransporter schon aufgefallen? Ein Ford Tran­sit oder irgendein japanisches Fabrikat, er kannte sich damit nicht aus. Sicher gab es von denen Tausende. Kein Wunder, dass sie einem ständig an der Ferse klebten.

Seit ihn dieser Wagen in Hamburg auf‘s Korn genommen hatte, ließ sich nicht mehr leugnen, dass er irgendjemandem mit seiner Re­cher­che gehörig auf die Füße trat. Ich sehe Gespenster! Schluss damit, dachte er. Die Nacht ist lang und anstrengend genug gewesen, da sieht man eben Gespenster. Kerkhoff hatte einem Zug durch die Kneipen unternommen, der bis in den Morgen gedauert hatte. Jedesmal, wenn er sich entschlossen hatte, endlich nach Hause zu fahren, hatte es draußen in Strömen gegossen, also hatte er notgedrungen den Auf­bruch aufgeschoben. Am Morgen hatte er zu nichts anderem mehr ge­taugt, als ins Bett zu fallen. Doch dann war er so gegen neun noch auf einen Sprung bei einem Freund vorbeigeschneit, um ihm das Mit­bring­sel seiner letzten Reise zu überreichen, eine Flasche echten Scotch Whisky, den er am Flughafen von Edinborough erstanden hatte. Natürlich hatte er dann noch auf ein oder zwei Gläser bleiben müssen.

Wenn man es genau nahm, durfte er, so voll wie er war, gar nicht fah­ren. Wenn man es genau nahm. Doch was das Radfahren betraf, nahm Kerkhoff es mit der Promillegrenze nicht genau. Soweit er se­hen konn­te, war er der einzige weit und breit, der in der Affenkälte nach Hau­se strampelte, also wen gefährdete er schon, wenn er ein bisschen zuviel intus hatte?

Kerkhoffs Wohnung lag auf der Rückseite des Bahnhofs, im dritten Stock eines renovierungsbedürftigen Wohnhauses. Der Journalist be­wohnte die fünf Zimmer schon seit über zehn Jahren. Damals, als er sie gemietet hatte, war er noch mit Millie zusammengewesen und davon ausgegangen, dass sie bald mehr Platz gebrauchen konnten. Das war Schnee von gestern.

Auf der anderen Straßenseite parkte noch einer dieser blauen Lie­ferwagen. Sie entwickelten sich allmählich zu einer Plage.

Der Journalist stapfte die knarzende Holztreppe hinauf und blieb wie angewurzelt vor seiner Wohnung stehen. Die Tür stand offen. Spuren am Türrahmen zeugten davon, dass jemand ein Stämmeisen angesetzt und die Tür mit roher Gewalt aufgehebelt hatte.

Kerkhoff trat näher.

Im Wohnzimmer herrschte heilloses Chaos. Schubladen waren her­aus­gerissen, die Polster der Couch mit einem Messer aufgeschlitzt. Der Fernseher umgestürzt. Kerkhoff stieg über zwei umgestürzte Blu­men­töpfe auf dem Boden und schlich auf Zehenspitzen weiter zum Ar­beits­zimmer, das auf der anderen Seite des Flurs lag. Machte zwei vorsichtige Schritte hinein. Die gleiche Unordnung. Auf dem Boden lag der Monitor seines PCs.

Kerkhoff war im Begriff, noch einen dritten Schritt zu machen, um nach seinem Diskettenarchiv zu sehen. Doch er überlegte es sich an­ders, als er im Fenster sein Spiegelbild entdeckte und direkt dahinter, im Schatten der Tür, eine Gestalt. Blitzschnell reagierte er, schlüpfte zurück in den Flur und knallte dabei die Tür mit aller Kraft gegen die Wand, genau dahin, wo er den Mann vermutete.

Er hörte ein unterdrücktes Stöhnen und rannte im selben Moment los. Verließ die Wohnung, lief die Treppe hinunter.

Kurz bevor er den ersten Stock erreichte, hielt er keuchend inne und lauschte. Jemand kam von unten herauf. Sie waren zu zweit! Ein Geräusch von oben sagte ihm, dass der Kerl aus seiner Wohnung die Verfolgung aufgenommen hatte.

Kerkhoff begann zu schwitzen. Blitzschnell besann er sich des letz­ten Auswegs, den er hin und wieder nutzte, wenn er es vermeiden wollte, ungebetenen Gästen zu begegnen, zum Beispiel Leuten, denen er Geld schuldete.

Fünf Treppenstufen abwärts gelangte er an ein Fenster. Er öffnete es, schwang sich über die Fensterbank auf ein Vordach. Über einen Mau­ervorsprung balancierend gelangte er auf eine Garage, von wo er sich in den Innenhof hinunterlassen konnte.

Mit pfeifendem Atem gelangte er an die Kante des Flachdachs. Scheiße, dachte er, das wird ja von Mal zu Mal höher. Ich bin zu alt für sowas. Er nahm Maß und versuchte, irgendwo zwischen den Müll­tonnen auf dem Boden zu landen ...

8. Kapitel

Für zwölf Uhr fünfzehn war eine Dienstbesprechung anberaumt, doch sie verzögerte sich um eine gute halbe Stunde.

Andersen wollte die Zeit nutzen, um den Journalisten anzurufen, der von Zabern hatte interviewen wollen. Doch obwohl er sicher war, dass er den Zettel mit der Nummer auf seinem Schreibtisch abgelegt hatte, fand er ihn nicht wieder. Schließlich gab er auf.

Um viertel vor eins waren alle am Fall beteiligten Kollegen bis auf Haupt­kommissar Grunwald eingetroffen. Andersen berichtete von sei­nem Besuch bei Nelli Holm, der Lebensgefährtin des Ermordeten, und seinem Gespräch mit Dr. Mackenstedt, der sich als Weggefährte und sein ärgster Widersacher bezeichnet hatte. Damit meinte er allerdings, erläuterte Andersen, dass die beiden über Jahre rein wissenschaftlich als Gegenspieler auftraten, um sich öffentlich zu positionieren. Sie hat­ten eine gemeinsame Fernsehsendung mit dem Titel Welt im Wan­del – Chance oder Niedergang, in der Mackenstedt von Zabern als Untergangsprophet geißelte, während der seinen Gegenspieler der Schön­färberei bezichtigte.

Die routinegemäße Befragung der Nachbarn war noch nicht abge­schlossen. Bisher hatte sie nichts Brauchbares ergeben, bis auf die Aussage einer älteren Dame, die schräg gegenüber wohnte. Sie gab an, einen ‚jungen Halbstarken’ bemerkt zu haben, langhaarig mit Le­derjacke. Er habe sich am Montag nachmittag kurz vor fünf von von Zaberns Grundstück aus zu seinem Wagen geschlichen, den er abseits geparkt hatte, obwohl direkt vor dem Haus Parkplätze frei gewesen seien. Unterwegs habe er sich mehrmals nach allen Seiten umgeschaut und sei ihr sehr verdächtig vorgekommen.

Was den Verbleib der mysteriösen Datei namens Rubikon betraf, gab es keinen Fortschritt. Ein Kollege mit altsprachlichem Hintergrund wies allerdings daraufhin, dass Rubikon ein winziges Flüsschen sei, das in Italien zwischen Ravenna und Rimini in die Adria fließe und in der Antike die Grenze zwischen Rom und seiner Provinz Gallia Cis­al­pina gewesen sei.

Wegen des großen Medieninteresses wurde im Anschluss an die Be­sprechung eine Pressekonferenz abgehalten, in der sich die Kolle­gen der Mordkommission dafür zu rechtfertigen hatten, warum sie nach gut einer Woche Ermittlungen immer noch keine konkrete Spur ver­folgten.

***

Frank Grunwald betrat erst zehn Minuten nach dem Ende der Kon­fe­renz Andersens Büro. „Tut mir leid“, entschuldigte er sich. „Hab im Stau gestanden.” Er grinste verschwörerisch. „Aber dafür konnte ich ein paar Dinge erfahren. Über unseren Ermordeten.”

Die beiden Kripobeamten begaben sich in die Kantine, Andersen holte für sich und seinen Kollegen einen dünnen Kaffee aus dem Au­toma­ten, Grunwald gönnte sich zusätzlich noch ein Mohnstriezel aus der Glas­vitrine. Dann ging‘s zurück in Andersens Büro. „Ich hab ges­tern Abend zufällig Iris getroffen.”

Andersen sah ihn fragend an.

„Meine Ex. Du kennst sie auch, wir sind schon mal zusammen aus­gegangen, glaub ich jedenfalls. Ist aber eine Weile her.”

„Moment, ich dachte, Silvana wäre deine Ex.”

„Ist sie auch. Aber die kam viel später.”

„Na schön”, sagte Andersen. „Tut mir leid, dass ich die Reihenfolge nicht so richtig im Kopf behalte. Also was hat Iris dir erzählt?”

„Sie ist Radiomoderatorin - na, dämmert‘s jetzt? Und sie kennt von Zabern, weil sie ihn mal zu Gast im Studio hatte. Und dann, später, haben sie noch zusammen einen Kaffee getrunken.”

„Wie lange ist das her?”

„Keine Ahnung. Über ein Jahr bestimmt. Jedenfalls beschreibt sie von Zabern als sehr eitel und von sich überzeugt. Außerdem sei er ein Wen­dehals.”

„Ein Wendehals?”

„Jemand, der gern und ohne große Probleme die Seiten wechselt. Frü­her hat er sich in der außerparlamentarischen Opposition einen Na­men gemacht und sich in Naturschutzorganisationen engagiert, dann hat man ihn für‘s Fernsehen entdeckt. Die Karriere ging steil nach oben, die ehernen Grundsätze und Prinzipien verschwanden in der Schub­la­de. Von Zabern war Everybodys Darling und machte den Wet­teronkel im Fernsehen.” Grunwald stellte den leeren Teller auf dem Schreib­tisch zwi­schen den Papierstapeln und leckte sich die klebrigen Finger ab. „Na ja, und dann kam doch wieder was von dem alten Revo­luzzer zum Vorschein: Der Mann schrieb ein oder zwei Bücher über den Kli­ma­wan­del. Seine Fernsehprominenz sorgte dafür, dass sie Bestseller wur­den. Und er avancierte dann zu einer Art Klimaexper­ten.”

„Dann könnte seine Gattin also doch richtig liegen mit ihrem Ver­dacht, dass er sich irgendwo einen Feind gemacht hatte?”

„Iris kann das jedenfalls nicht bestätigen. Was nichts heißen will. Ge­rüchteweise hat sie übrigens gehört, dass von Zabern sich in letzter Zeit eher mit konservativen Kreisen gemein gemacht hätte. Du kennst ja die Abendland!-Bewegung.”

Andersen verzog das Gesicht. „Roland und seine europäischen Patrio­ten - was wollte er denn bei denen?”

„Tja, als echter Wendehals hast du immer ein feines Gespür dafür, wo­her politisch der Wind weht.”

„Also, das passt jetzt überhaupt nicht zu dem, was Nellie Holm von ihm erzählt hat. Außerdem war von Zabern ein Intellektueller. Armin Ro­land, der ist doch eher was für den Pöbel, oder nicht?”

„Immerhin gibt es viele, die in ihm den neuen Kanzler gesehen ha­ben.”

„Gesehen haben? Was soll das heißen?”

„Hast du es noch nicht gehört? Es kam in den Nachrichten.”

„Was denn?”

„Roland wurde Opfer eines Attentats. Während einer Kundgebung hat man auf ihn geschossen.”

„Er ist also tot?”

„Keine Ahnung. Jedenfalls wurde das noch nicht bestätigt. Nur dass er verletzt wurde.”

Es klopfte. Ein Mann steckte den Kopf zur Tür herein. An seiner Schlä­fe klaffte eine blutige Schramme.

„Falls Sie ein Attentat melden wollen”, flachste Grunwald, „dafür sind wir nicht zuständig.”

Der Mann machte ein begriffsstutziges Gesicht. „Entschuldigen Sie“, sagte er. „Ich wollte zu Hauptkommissar Andresen.“

„Andersen“, sagte Andersen.

„Mein Name ist Kerkhoff. Man sagte mir, dass Sie den Fall Dr. von Zabern bearbeiten.“

Andersen erhob sich und wies auf den freigewordenen Stuhl. „Tre­ten Sie näher. Das ist mein Kollege, Hauptkommissar Grunwald. Wir ha­ben Sie schon sehnlichst erwartet, Herr Kerkhoff.“

Der Mann, der eintrat, trug eine speckige Lederjacke. Obwohl er auf die fünfzig zugehen musste und sein Haar von vielen grauen Strähnen durchzogen war, erinnerte seine Frisur an die der Kriegs­dienstver­wei­gerer in den siebziger Jahren. Dazu passte eine Nickel­bril­le mit kreis­run­den Gläsern. „Rudi Kerkhoff“, stellte er sich zum zweiten Mal vor. „Ich bin Blogger und recherchiere sozusagen in Ihrem Mordfall.“

„Was meinen Sie mit ‚sozusagen’?“, erkundigte sich Andersen freund­lich.

„Nun, ich nehme einmal an“, Kerkhoff warf Grunwald, der hinter ihm stand, einen unsicheren Blick zu, „Sie ermitteln den Mörder Dr. von Zaberns. Und ich sehe diesen Vorfall in einem, sagen wir einmal, grö­ßeren Zusammenhang.“

„Wie interessant. Sie meinen Ufos, nicht wahr?“

„Mir ist klar, dass Sie das für einen Witz halten.“ Dem Blogger war die Routine im Umgang mit Spott anzumerken. „Aber wenn es wirk­lich nur das wäre, wie ist es dann zu erklären, dass man mich plötzlich verfolgt? Dass man meine Wohnung durchwühlt und mein Leben be­droht?“ Er befühlte die Wunde an seiner Stirn.

„Wie ist das passiert?“, erkundigte sich Grunwald.

„Ich konnte gerade noch von einem Garagendach springen, sonst hät­ten die mich gehabt. Leider bin ich auf einem der Müllcontainer auf­ge­kommen.“

„Uns interessiert vorrangig, was Sie über den Tod von Zaberns wis­sen“, sagte Andersen. „Was Sie bei ihm zu suchen hatten.“

„Ich war nicht dort. Wir hatten uns für ein Interview verabredet, aber das kam nicht zustande. Ich war zu spät und überall waren Ihre Beamten. Da wollte ich mich dann nicht mehr einmischen.“

„Und was sagen Sie dazu, dass Sie am Tatort gesehen wurden?“

Kerkhoff strich sich über sein unrasiertes Kinn. Er sah Grunwald fra­gend an, der bestätigend nickte.

„Also gut, Kommissar. Ich bin dagewesen, weil ich dachte, ich würde Dr. von Zabern noch antreffen, obwohl ich zu spät war. Aber da war er schon tot.“

„Und was dann?“

„Der Mörder war noch da und muss zunächst die Flucht ergriffen ha­ben. Doch später hat er sich an meine Fersen geheftet, wahrschein­lich glaubt er, dass ich etwas in Erfahrung gebracht habe.“

„Haben Sie das denn?“

„Wie sollte ich, Kommissar? Als niemand öffnete, kam ich über die Ter­rasse und fand von Zabern tot im Arbeitszimmer. Da habe ich ge­macht, dass ich weg kam.“

„Sie kamen nicht auf die Idee, uns zu verständigen?“

„Leider nein, Herr Kommissar. Im Nachhinein bedauere ich das na­türlich.“

„Natürlich. Sie haben nicht zufällig einen USB-Stick mitgenommen? Oder einen anderen Datenträger?“

Kerkhoff machte ein geradezu schockiertes Gesicht. „Ich weiß, dass es nicht richtig war, sich davonzustehlen. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich Beweismaterial unterschlagen würde.“

„Zuerst haben Sie auch behauptet, nicht am Tatort gewesen zu sein“, gab Grunwald zu bedenken.

„Ich möchte noch einmal auf den größeren Zusammenhang zu sprechen kommen“, sagte Andersen. „Sie wollen der Welt beweisen, dass es Ufos gibt, richtig?“

„Ich will gar nichts beweisen, sondern herausbekommen, warum man es verheimlicht. Erst vor einer Woche war ich in den schottischen High­lands, wo so ein Ding abgestürzt ist.“

Andersen nickte. „So stand es in Ihrem Artikel zu lesen.“

„Ich weiß, Sie halten alles für Humbug. Aber als ich einen EU-Parla­men­tarier be­fragen wollte, der mit der Sache zu tun hat, hat man mich mit dem Auto aufs Korn genommen, um ein Haar hätte man mich er­wischt. Das habe ich mir nicht einge­bil­det.“

„Warum wollten Sie Dr. von Zabern interviewen? Er ist Klimafor­scher und hat nicht das Geringste mit fliegenden Untertassen zu tun.“

Kerkhoffs Hand fuhr in seine Jackeninnentasche und zog mit einem ein­zigen Griff ein Foto he­raus.

Andersen nahm es entgegen und sah zwei Männer, die in die Ka­mera lächelten. Einer der beiden trug weiße Hose und Jackett, in dem an­de­rem, in Bermudashorts und T-Shirt, erkannte der Hauptkommis­sar Dr. von Zabern, wenn er auch noch wesentlich jün­ger war. Im Hin­ter­grund befand sich etwas, das wie eine antike Aus­grabungsstätte aus­sah.

„Das ist Kevin Mansfield, ein britischer Historiker“, erklärte Kerk­hoff und deutete auf den Mann neben von Zabern. „Die beiden Män­ner ste­hen direkt vor der Tempelanlage von Hagar Qim auf Malta. Sie ist über 5000 Jahre alt. Über die Erbauer weiß man bis heute so gut wie nichts. Machen Sie sich klar, dass das alles schon stand, als die Che­ops­pyramide noch nicht einmal geplant war. Dr. Mansfield hat aber inzwischen den klaren Beweis erbracht, dass die technischen Mög­lichkeiten der Jungsteinzeit bei weitem nicht ausreichten, um ei­nen solchen Gebäudekomplex zu errichten.“

„Verstehe“, meinte Andersen. „Jetzt werden Sie mir außerdem er­klä­ren, dass man die eigentliche Form des Bauwerks sowieso nur aus der Luft erkennen kann.“

„Es ist ein Lorbeerblatt“, nickte der Journalist, ohne auf die Häme ein­zugehen. „Oder ein extraterrestrisches Symbol. Tatsache ist, dass sich die Symmetrie nur in einer Ansicht aus großer Höhe erschließt.“

„Und darüber wollten Sie Dr. von Zabern befragen?“

„Dieses Foto brachte mich auf die Idee, dass er sich möglicherwei­se mit außerirdischer Intelli­genz beschäftigt. Deshalb bat ich ihn um ein Interview und er willigte ein.“

„Er erklärte sich bereit“, fragte Andersen ungläubig, „mit Ihnen über diese Dinge zu sprechen?“

„Höchste Zeit, dass alles auf den Tisch kommt. Alles ohne Ausnah­me. Das sagte er wörtlich.“

„Einmal angenommen, Sie liegen richtig mit Ihrem Verdacht“, sag­te Hauptkommissar Grunwald. „Warum, glauben Sie, will man ver­heimlichen, dass es so etwas gibt? Ein echtes Ufo, das wäre doch die Sensation.“

Kerkhoff zuckte mit den Schultern. „Aus Furcht, dass es eine Panik auslösen könnte? Oder weil es um das Geschäft des Jahrtausend geht? Ich habe keine Ahnung.“ Mit dem Ärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn und vermischte ihn dabei mit dem Blut aus seiner Wun­de. „Investigativer Journalismus, meine Herren, gibt sich nicht mit windigen Vermutungen zufrieden. Er will Antworten, deshalb stellt er Fragen.“

„Ich besorge Ihnen ein Pflaster, dann können Sie das verbinden“, sagte Andersen.

9. Kapitel

Alles deutet darauf hin, dass Gott, als er die Welt erschuf - insbe­son­dere die Erde und alles, was auf ihr kreucht und fleucht - einen großen Modellversuch im Sinn hatte. Er hatte herausgefunden, dass nirgend­wo im grenzenlosen All eine solche Flora und Fauna gedeihen konnte. Entweder war es eiszeitlich kalt wie auf dem Mars oder ko­chendheiß wie auf der Venus. Man brauchte eine Durchschnittstempe­ratur von fünfzehn Grad Celsius, damit überhaupt etwas gedeihen konnte.

Also entschloss er sich, seine geliebten Setzlinge in einem Treib­haus heranzuzüchten.

Dazu versah er die Erde mit einer Art Glasdach aus atmosphäri­schem Wasserdampf, der sie vor schädlicher Sonnenstrahlung schütz­te und die Sonnenwärme speicherte.

Die Natur gedieh und brachte den Menschen hervor. Der vermehr­te sich rasend schnell und bildete eine hochtechnisierte Zivilisation, die auf Mengen und Abermengen fossiler Brennstoffe angewiesen war. Die Temperaturen im Treibhaus stiegen, das Leben wurde unangeneh­mer: der Schnee schmolz, das Wasser überflutete die Küsten. Der Mo­dellversuch scheiterte kläglich.

Gott hatte wohl nicht bedacht, dass seine einzigartige Schöpfung so et­was wie den Homo Sapiens hervorbringen würde, das war die einzi­ge Schwachstelle in seinem Projekt. Doch heutzutage gehen wir davon aus, dass es keinen Gott gibt. Die Frage ist also: Wer führt die­ses Treib­hausexperiment durch und zu welchem Zweck?

B. von Zabern in Spruch und Widerspruch.

Am Nachmittag verbrachte Andersen viel Zeit damit, die Heizung in seinem Büro zum Heizen zu bewegen, statt ein störendes glucksen­des Geräusch von sich zu geben. Schließlich resignierte er, nahm das Ma­te­rial, das ihm Nelli Holm zur Verfügung gestellt hatte und zog in den Besprechungsraum um, wo es nicht nur einen funktionierenden Heiz­körper, sondern auch einen Videorekorder gab.

Nelli Holms Sammlung umfasste circa zwanzig Videocassetten, eine Handvoll DVDs, dazu eine dicke Mappe mit gesammelten Zei­tungs­aus­schnitten, Würdigungen und Redetexten. Eine beeindrucken­de Men­ge. Es schien, als hätte Nelli sich auf den Tag vorbereitet, an dem sie als Hinterbliebene des großen Benno von Zabern die Presse mit lückenlosem Material für die Nachrufe versorgte.

Andersen hatte keine rechte Vorstellung davon, was er sich ansehen wollte, und machte sich nicht lange die Mühe, die krakelige Hand­schrift auf den Etiketten zu entziffern. Wahllos legte er eine Cassette ein und sah von Zabern in einer Gesprächsrunde, nach seinem Ausse­hen zu urteilen handelte es sich um einen relativ jungen Mit­schnitt. Das zweite Video zeigte den Wissenschaftler gut zehn Jahre jünger, wie er vor einem großen Auditorium eine Rede hielt, allerdings auf Englisch. Andersen spulte vor und landete bei einer zwanzigminü­tigen Dokumentation über die Vita des Wissenschaftlers. Benno von Za­bern, Jahrgang 46, ging 1968 gegen den Vietnam-Krieg auf die Straße, später machte er eine steile Karriere als Wissenschaftler. Er ge­hörte dem Club of Rome an, der 1972 den vielbeachteten Sachstands­bericht über die Grenzen des Wachstums veröffentlichte. Von Zabern errregte internationales Aufsehen mit dem kapitalismuskritischen Bestseller fünf vor zwölf und wurde kurz darauf vom Fernsehen ent­deckt. In den folgenden Jahrzehnten moderierte er zahlreiche Wissen­schaftssendun­gen, die Nelli nahezu vollständig auf Video aufgezeich­net hatte.

An­dersen verschaffte sich nur einen oberflächlichen Über­blick: Reden über das Wetter, ein Magazin, das vor über zwanzig Jah­ren ausge­strahlt worden war, Spruch und Widerspruch, eine kontrover­se Talk­show mit prominenten Gästen und Welt im Wandel - Chance oder Nie­dergang. Andersen lernte das Fernsehgesicht eines eloquen­ten und gutaussehenden Mannes kennen, der mal ein souveräner Ge­sprächsleiter, mal wendiger Studiogast war. Von Zabern konnte char­mant sein, aber auch knallhart, und bei Bedarf legte er eine geradezu abstoßende Arroganz an den Tag. In jeder Situation schien er Herr der Lage zu sein, ein Mensch, der gewohnt war, auf Widerspruch zu sto­ßen und dies sogar genoss.

Wer war der private von Zabern, der sich hinter all diesen Attitüden verbarg? Anne, seiner Tochter, zufolge hatte die Arbeit für ihn an ers­ter Stelle gestanden. War er einer dieser Medienmenschen gewesen, die mit den Jahren des Erfolgs die eigene Persönlichkeit mit dem künstlich geschürten Bildschirm-Image verwechselt hatten?

Seit Anfang der achtziger Jahre war von Zabern mehr und mehr zu einem Guru der Friedens- und Umweltbewegung avanciert. Ein Atten­tat, das 1985 auf ihn verübt wurde und ihn nur leicht verletzte, ver­stärkte sein Image als weltweite Identifikationsfigur. Fotos dokumen­tierten von Zaberns Prominenz: Er war an der Seite des Papstes zu se­hen, schüttelte auf dem Gipfel der G8-Staaten in Genua die Hand des britischen Premierministers. In einem Zeitungsinterview versicherte er, angesprochen auf seinen inzwischen legendären Bestseller, dass man den klimatischen Zustand der Welt zu sehr verharmlose, wenn man von fünf vor zwölf rede. „Die korrekte Uhrzeit ist zwanzig nach zwölf oder sogar noch später, doch dazu muss man sich klarmachen, dass der Handlungsspielraum der Regierungen heutzutage im Ver­gleich zu damals sehr stark eingeschränkt ist. Internationale Konzerne bestimmen weitgehend die Politik und auch die werden nicht von Men­schen, sondern von langfristigen Strategien zur Gewinnmaximie­rung geleitet. Die Globalisierung verdammt die Menschheit quasi da­zu, die Hände in den Schoß zu legen.“

„Das macht die Sache also um so dramatischer?“

„Ich würde sagen: um so tragischer. Für Dramatik ist es zu spät.“

Der Hauptkommissar schob erneut ein Video ein. Dieses Mal warn­te ein in die Jahre gekommener, abgeklärter Benno von Zabern in ei­nem Interview vor Schwarzmalerei. Der Jahrhundertwinter, der in Nordeu­ropa Tausende von Opfern gefordert habe, mache jedoch auf ein­drucks­volle und drastische Weise deutlich, dass es, was die Not­wen­digkeit von entschlossenen Gegenmaßnahmen betreffe, fünf vor zwölf sei.

Erst fünf vor, dann zwanzig nach, dann wieder fünf vor. Offenbar, dachte Andersen, ist seine Uhr manchmal vor- und machmal rück­wärts gegangen. Ein Blick auf die eigene Uhr sagte ihm, dass der Fei­erabend nicht mehr weit war.

Er sah sich noch einmal die erste Cassette an, da sie einen späten Fernsehauftritt von Zaberns dokumentierte. Wie ein kurz nach dem Start eingeblendetes Datum verriet, war diese Aufzeichnung erst drei Wochen alt.

Außer der Moderatorin und von Zabern gab es noch drei andere Stu­diogäste: einen Sozialwissenschaftler der Wilhelmsuniversität Mün­ster, einen Vertreter der Landesregierung und eine Umweltaktivis­tin der Regenwaldpiraten. Die Runde setzte sich über die Frage Öko­logie in der Politik – kein Thema? auseinander. Andersen beobachtete von Zabern, der sich entspannt in seinen Sessel zurücklehnte und der Dis­kussion wie von weitem zu folgen schien, und wartete gespannt auf den Streit, der laut Nelli zwischen ihm und der Aktivistin ent­flammt war.

Leider erwies sich das Video als fehlerhaft. Sekunden bevor sich von Zabern in die Diskussion einmischte, versagte der Ton. Der Wis­sen­schaftler gestikulierte, die Kamera zoomte ganz nahe an ihn heran. Von Zabern hatte ein rotes Gesicht und eine Ader an seiner Schläfe trat hervor. Der Uniprofessor neben ihm musterte ihn besorgt, gerade­zu perplex, dann begann die Gegenattacke der Umweltschützerin, die von Zabern mit verschränkten Armen, aber immer noch schwer at­mend, über sich ergehen ließ.

Mit einem Ruck blieb das Videoband stecken. Das Bild ver­schwand.

„Na gut“, meinte Andersen und schaltete das Gerät aus. „Dann also Feierabend.“

***

Er hatte das Gefühl, wieder einen Nachmittag verschwendet zu ha­ben. Trotz der ermüdenden Flut von Fernsehbildern konnte er sich im­mer noch keine rechte Vorstellung vom Ermordeten machen. Andersen brauchte sie aber, um ermitteln zu können. Darüberhinaus spielte es eine Rolle für ihn, ob das Mordopfer ihm sympathisch war. Nicht dass er seine Arbeit nur dann tun konnte, wenn das der Fall war. Es funkti­o­nierte auch, wenn er ihn unsympathisch fand. Doch die Frage, ob oder ob nicht, musste entschieden sein. Und was Dr. von Zabern be­traf, so schien ein ganzer Berg Videocassetten nicht zu reichen, sie zu beantworten.

Dennoch, da war etwas, dessen Andersen erst im Nachhinein ge­wahr wurde. Ein kleiner Makel im ansonsten rundum makellos ge­schönten TV-Image des Wissenschaftlers. Der Hauptkommissar rief sich wieder die Szene ohne Ton in Erinnerung: Von Zabern mit hoch­rotem Kopf, gestikulierend. Wo war der smarte Moderator, der locker plaudernde Gesprächspartner, der niemals die Kontrolle verlor, so wie er sich in ausnahmslos allen anderen Fernsehmitschnitten präsentiert hatte? Was hatte von Zabern so erregt, dass er aus sich herausgegan­gen war?

Es konnte nicht schaden, wenn Andersen sich mit einem der Stu­dio­gäste unterhielt.

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