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Die Jungtürken

Trotz strenger Zensur und Überwachung hatten sich die Akademien zu Hochburgen der Opposition gegen das hamidische Regime entwickelt. Unter den Studenten erfreute sich verbotene Literatur wie die Werke französischer Philosophen und Aufklärer sowie die Schriften Namik Kemals großer Beliebtheit. Unter großer Geheimhaltung zirkulierten diese Bücher in der Studentenschaft. Aufgrund der strengen Überwachung durch die Spitzel des Sultans trafen sich die Oppositionellen geheim im Untergrund. Es bildeten sich verschiedene Geheimbünde und Zirkel, in denen politisiert wurde. Die Debatten unter den zukünftigen Staatskadern waren geprägt von der Sorge um den Fortbestand des Reiches und damit auch von der Sorge um die eigene Zukunft. Die Ära Abdülhamids zeichnete sich zwar durch eine gewisse Stabilität aus, aber das Reich befand sich weiterhin in einer äußerst misslichen Lage. Der Nationalismus unter den einzelnen ethnischen Gruppen des Reiches setzte dem Vielvölkerstaat zusehends zu, zudem schränkten die nur allzu oft einseitigen bzw. von eigenen Interessen geleiteten Interventionen der europäischen Großmächte die Souveränität des Reiches ein und verletzten das Ehrgefühl der osmanischen Eliten, die vom Eifer getrieben waren, diesen gemeinsamen Staat zu retten. Die jungen Offiziere und Beamten, die auf den Akademien ausgebildet worden waren, um den immer noch riesigen Staat, der in seinen letzten Zügen lag, zu lenken, versuchten Lösungen für diese Probleme zu finden. Wie auch bei früheren Generationen von Reformern

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drehten sich auch ihre Gedanken dabei primär um den Staat und dessen Erhalt. Die wenigsten Oppositionellen hinterfragten dabei die Legitimität der osmanischen Dynastie oder die des Staates, oder vertraten gar radikalere Ideen wie z. B. eine sozialistische Revolution oder die Errichtung einer Republik, vielmehr forderten die meisten von ihnen einfach mehr Freiheit. Wie diese aussehen sollte, war nicht klar definiert. Eine zentrale Forderung der oppositionellen Bewegung war aber die Wiedereinsetzung der Verfassung und die Wiedereinberufung des Parlaments. Die Opposition, die sich unter den gebildeten Eliten gegen den Sultan und die Ordnung, die er verkörperte, bildete, stand also in der geistigen Tradition der Jungosmanen. Im Gegensatz zu ihren politischen Vorgängern waren sie allerdings eher naturwissenschaftlich orientiert. Insbesondere die Ideen des französischen Positivismus sollten einen großen Einfluss ausüben.

Immer mehr sahen die jungen Kader einen Grund für die Schwäche des Reiches im autokratischen Stil des Sultans. Die Unterdrückung jeglicher politischer Opposition, die Bespitzelung, die Benachteiligung von qualifizierten, ausgebildeten Offizieren und Beamten und die Bevorzugung von treuen Gefolgsleuten, die allerdings kaum Qualifikationen mitbrachten, sowie die weitverbreitete Korruption und Misswirtschaft unter der Beamtenschaft und der Umstand, dass oft die Gehälter von Beamten und Offizieren nicht ausbezahlt wurden, sowie dass unliebsame Staatsbedienstete willkürlich in entlegene Provinzen ins politische Exil geschickt wurden, waren alles Faktoren, die der Opposition gegen den Sultan zuarbeiteten.

Die erste organisierte Oppositionsgruppe scheint die durch vier Studenten der militärischen medizinischen Akademie im Jahre 1889 gegründete Ittihad-i Osmani Cemiyeti (Komitee für osmanische Einheit) gewesen zu sein. Darunter waren ein Albaner, ein Kurde und ein Tscherkesse. (Vgl. Zürcher, 2004: 86f.) Die Gruppe, die sich vornehmlich für die Wiedereinsetzung der Verfassung und des Parlaments einsetzte wuchs langsam, aber stetig. Die meisten ihrer Mitglieder wurden allerdings verfolgt. Während einige verhaftet und eingesperrt wurden, konnten sich andere ins Exil retten. Die meisten von ihnen strandeten in Paris. Hier schlossen sie sich mit einer anderen Gruppe von Exilanten zusammen, die sich ebenfalls für den Konstitutionalismus einsetzte. Gemeinsam

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sollten sie das Komitee für Einheit und Fortschritt (Ittihat ve Terakki Cemiyeti) bilden. Während sich der Begriff der Einheit auf die Einheit der ethnischen Elemente des Reiches bezog und damit auf einen osmanischen Patriotismus hindeutete – eine alte Forderung, auch der früheren Generation der Jungosmanen – beschrieb der Fortschritt die positivistische Ausrichtung der Bewegung. (Vgl. Zürcher, 2004: 86f.) Die Führung der Exilbewegung übernahm Ahmet Riza. Ahmet Riza, Sohn eines ehemaligen Parlamentsabgeordneten, Positivist und Konstitutionalist, lebte aufgrund seiner oppositionellen Ansichten im Pariser Exil. Ab 1895 veröffentlichte die Gruppe die Zeitung Mesveret (Beratung), die in Französisch und Türkisch erschien. Die Exilgruppe bezeichnete sich als Jeunes Turcs („die Jungtürken“). (Vgl. Zürcher, 2004: 86f.)

Die Bewegung erfuhr auch innerhalb des Reiches regen Zulauf. Ein Putschversuch der Istanbuler Gruppe im Jahr 1896 scheiterte jedoch und die meisten Vertreter wurden entweder verhaftet oder in entlegene Regionen und Orte innerhalb des Reiches verbannt. (Zürcher, 2004: 87) Trotz des harten Durchgreifens des Regimes konnte die Organisation allerdings innerhalb der Armee und Verwaltung in Geheimzellen weiterbestehen. Der Kontakt bzw. die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen über das Reich zerstreuten Zellen und den Exilgruppen in Europa war eher gering. Auch wenn die organisatorische Zusammenarbeit und Koordination eher schwach war, so ist allerdings der gedankliche Einfluss, der von den Exilgruppen auf die jungtürkischen Zellen im Reich durch Schriften, die von Hand zu Hand weitergegeben wurden, ausging, unbestritten. Eine wichtige Rolle spielten dabei Zeitungen und Zeitschriften, wie die Zeitung Mesveret (Beratung).

Wie auch schon zuvor die Jungosmanen, waren auch die Jungtürken eine Bewegung, die sich also vornehmlich unter den Bildungseliten, den Absolventen der Akademien, in Militär und Bürokratie ausbreitete. Während die Jungosmanen zum Teil äußerst unterschiedliche Ansätze zur Rettung des Staates vertreten hatten und die Forderung nach Parlamentarismus und Konstitutionalismus den kleinsten gemeinsamen Nenner der Bewegung dargestellt hatte, waren die Jungtürken eine einheitlichere politische Bewegung. Im Gegensatz zu den Vertretern der Jungosmanen, unter denen sich sogar auch Angehörige des Hofes bzw. von Kreisen, die

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dem Hof nahe standen, befanden, baute die jungtürkische Bewegung vornehmlich auf Absolventen der Militär- und Verwaltungsakademien auf, die aus der Mittelschicht stammten. Die unter Abdülhamid gegründeten Akademien, Harbiye, Mülkiye und Tibbiye hatten vor allem jungen Menschen aus der Mittelschichte Aufstiegschancen geboten. Mit dem Eintritt in den Staatsdienst verbanden sie nicht nur sozialen Aufstieg und Statusgewinn, sondern angesichts einer in modernen Wissenschaften weitgehend ungebildeten Gesellschaft empfanden sie sich als eine Avantgarde der Moderne. Aufgrund ihrer Ausbildung und aufgrund des Status und der Chancen, die ihnen der Staat bot, fühlten sie sich diesem gegenüber verpflichtet.

Ausgestattet mit den Werkzeugen, die sie durch ihre Ausbildung erworben hatten, sahen sie sich als befähigt, eine Führungsrolle in einer weitgehend ungebildeten Gesellschaft einzunehmen. Sie lehnten das konservative und autokratische Regime Abdülhamids als unzeitgemäß und unmodern ab und sprachen dem Sultan die Fähigkeit ab, das Reich aus seiner Krise zu führen. Ihre Loyalität galt nicht dem Sultan, sondern dem osmanischen Staat. Sie waren damit Patrioten des osmanischen ­Staates, die sich der Mission des Erhalts dieses Staates verpflichtet fühlten.

Ebenso wie ihre Vorgänger waren auch die Jungtürken keine demokratische Bewegung, vielmehr glaubten sie an eine Modernisierung der Gesellschaft von oben herab. Als eine reformistische Bewegung, die von den Staatseliten ausging machten sie keine Anstrengungen, um die Gesellschaft zu verändern, vielmehr war auch für die Jungtürken der Staat selbst das Ziel der Modernisierung. Sie beschäftig­ten sich kaum mit sozialen oder gar klassentheoretischen Fragen.

Sie standen damit zwar in der Tradition der Jungosmanen sowie der Tanzimat-Reformer, im Gegensatz zu diesen waren sie aber weit besser mit Fremdsprachen, europäischer Literatur sowie den neuesten Errungenschaften auf dem Gebiet der Naturwissenschaften vertraut. Sie waren in diesem Sinne stärker als ihre Vorgänger durch westliche Diskurse geprägt. Die Naturwissenschaften und ihre Erkenntnisse stellten einen zentralen Bestandteil ihrer Überlegungen und Ansätze dar. Geprägt durch den französischen Positivismus standen sie der Religion und ihrer sozialen Rolle gegenüber weit kritischer als die Jungosmanen.

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Die Umsetzung der Ideen der Aufklärung war für sie weniger Bestandteil einer ideologischen Anschauung als vielmehr eine notwendige Voraussetzung für die Rettung des Staates. Nach Ellen Trimberger verfolgten die Jungtürken weder eine bestimmte Ideologie noch ein bestimmtes politisches Programm. Das wesentliche Ziel war es, das multi-ethnische Reich ihrer Vorfahren – wenn auch in einer etwas liberalen Ausformung – zu bewahren. (Vgl. Trimberger, 1978: 88)

Der Verlust der Insel Kreta an Griechenland im Jahr 1897 stellte ein einschneidendes Ereignis dar. Griechenland hatte bewaffnete Gruppen zur Unterstützung von Aufständischen auf Kreta, das zum Osmanischen Reich gehörte, entsandt. Die Osmanen erklärten daraufhin Griechenland den Krieg. Die osmanischen Streitkräfte erzielten rasch einen Sieg über die Griechen. Auf Intervention der Großmächte mussten die Osmanen aber auf Gebietsgewinne ebenso verzichten wie auch auf Kreta, das zwar formell unter osmanischer Herrschaft blieb, aber einen Autonomie­status erhielt. Die Großmächte setzten zudem den griechischen König als Kommissär ein. Der Umstand, dass selbst militärische Erfolge durch die Großmächte zunichte gemacht wurden, hinterließ tiefe Spuren bei den jungen Kadern. (Vgl. Mango, 1999: 42f) Für die meisten stellte das Ereignis ein weiteres Beispiel für die Schwäche des Reiches und die schlechte Regierung durch Sultan Abdülhamid dar. Der Verlust Kretas trotz erfolgreicher militärischer Operation auf dem Verhandlungstisch stärkte das Gefühl unter den jungen Offizieren, den europäischen Machenschaften ausgeliefert zu sein.

Der Sieg Japans über Russland in Port Arthur im russisch-japanischen Krieg im Jahr 1905 hinterließ einen großen Eindruck bei den jungen Militärs. Dies war schließlich das erste Beispiel dafür, dass eine asiatische Macht wie Japan nach einer umfassenden Modernisierung eine europäische Macht wie Russland mit den Waffen des Westens hatte schlagen können. Auch die Einführung des Konstitutionalismus in einer traditionellen Gesellschaft wie Russland war mit Interesse verfolgt worden. Diese Erfahrungen und Ereignisse auf nationaler und internationaler Ebene führten dazu, dass die Ideen der Jungtürken auf wachsendes Interesse stießen. Insbesondere in Militär und Verwaltung sollten sich trotz strenger Überwachung durch das Agentennetz des Sultans jungtürkische Zirkel verbreiten. Die Städte Saloniki und Damaskus entwickelten sich zu

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richtiggehenden Zentren der jungtürkischen Opposition. Die Vertreter der Jungtürken in Saloniki, der wichtigsten Stadt der Provinz Mazedonien sollten in weiterer Folge eine wichtige Rolle spielen.

Das Ende des Reiches zeichnete sich in Mazedonien ab. In Saloniki, einer Stadt mit einer besonderen kosmopolitischen Tradition, die die Vielfältigkeit des Reiches widerspiegelte, waren zur Jahrhundertwende die sich gegenseitig ausschließenden Nationalismen und deren Bedrohung für den Fortbestand des Reiches besonders stark zu spüren. Es ist daher kein Zufall, dass hier die jungtürkische Bewegung, die sich für den Fortbestand des Reiches einsetzte, großen Zulauf durch Offiziere, Offiziersanwärter, Kadetten und Beamte erfuhr.

Zunächst gab es eine Vielzahl an Zellen, die unabhängig voneinander von unterschiedlichen Personen gegründet worden waren. Auch Mustafa Kemal und Enver, die beide die Militärschule von Manastir (heute Bitola in Mazedonien) besucht hatten, waren voraussichtlich schon während ihrer Schulzeit mit einer der vielen jungtürkischen Gruppen in Kontakt gekommen. (Vgl. Mango, 1999: 42)

1906 gründete der ehemalige Post- und Telegraphenbeamte Talat in Saloniki die osmanische Gesellschaft für Freiheit (Osmanli ­Hürriyet ­Cemiyeti). So wie die von Talat in Saloniki gegründete osmanische Gesellschaft für Freiheit hatten sich in den osmanischen Provinzen mehr oder weniger zeitgleich verschiedene jungtürkische Organisationen etabliert, die größtenteils unabhängig voneinander das selbe Ziel verfolgten: Den Umsturz des hamidischen Regimes. Auf einem Kongress in Paris im Jahr 1907 schlossen sich die einzelnen oppositionellen Gruppen unter dem Dach des Komitees für Einheit und Fortschritt (Ittihat ve Terakki ­Cemiyeti) zusammen. Der Name der Organisation verband die wichtigsten Ideale der Bewegung: die Einheit des osmanischen Vaterlandes sowie den Glauben an den Fortschritt. Am Kongress nahmen auch Vertreter der oppositionellen armenischen revolutionären Föderation der Dashnak teil.

Die Vertreter des Komitees für Einheit und Fortschritt vernetzten sich nun immer stärker in der Armee und Bürokratie. Die mazedonische Frage entwickelte sich immer mehr zu einem Pulverfass für die gesamte Balkanregion und beschäftigte auch die Großmächte. Im Mai 1908 entschloss sich das Komitee dazu, aus dem Untergrund zu treten und die

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Dinge in die Hand zu nehmen. In einer öffentlichen Erklärung wandte sich das Komitee direkt an die Großmächte und forderte diese auf, sich aus Mazedonien herauszuhalten. (Vgl. Ahmad, 1969: 3)

Ein Treffen zwischen dem britischen Monarchen und dem russischen Zar und die Gespräche, die dort zur Lösung der mazedonischen Frage geführt wurden, beflügelten im Reich Gerüchte, die besagten, dass sich Russland und Großbritannien über die Aufteilung des Reiches geeinigt hätten. Dies bot den Anlassfall für das Komitee, aktiv zu werden. Im Juni 1908 kam es zu einem Aufstand in den makedonischen Einheiten. Da sich die eilig zur Niederschlagung entsandten Truppen mit den Aufständischen solidarisierten, rückten die Einheiten unter der Führung des Komitees für Einheit und Fortschritt schnell in die Hauptstadt vor. Das vorrangige Ziel der Jungtürken war die Wiederherstellung der Verfassung und die Wiedereinsetzung des Parlaments. Sultan Abdülhamid war gezwungen, einzulenken.

Die als jungtürkische Revolution geschilderten Ereignisse waren im Wesentlichen keine Revolution im klassischen Sinn, da jegliche Beteiligung durch die Bevölkerung fehlte, vielmehr kann sie als ein Putsch durch die konstitutionalistische Bewegung bezeichnet werden, der mit dem Umsturz der autokratischen Herrschaft des Sultans endete und mit der Inkraftsetzung des Kanun-i Esas (der Verfassung) am 23. Juli 1908 die zweite konstitutionelle Ära einläutete.

Die zweite Verfassungsperiode

Obwohl den jungtürkischen Revolutionären nun scheinbar Tür und Tor zur Macht offen standen, schreckten sie in dieser Phase davor zurück, die Zügel selbst in die Hand zu nehmen. Die Jungtürken setzten weder den verhassten Sultan ab, noch besetzten sie die Regierungsämter selbst. Die Revolutionäre waren keine ranghohen Offiziere, noch fanden sich Generäle unter ihnen. Sie kamen von den mittleren und niedrigeren Rängen innerhalb der Armeerangordnung und die meisten von ihnen waren noch relativ jung. Vor allem das junge Alter bedeutete einen klaren Nachteil im türkischen gesellschaftlichen System, das

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dem Alter traditionell Ansehen und Ehrerbietung entgegenbrachte. (Vgl. Zürcher, 2004: 93ff.)

Anstatt selbst politische Posten zu besetzten, beschränkte man sich deshalb darauf, die Regierungsgeschäfte von hinter den Kulissen aus zu beeinflussen, was folglich das Aufkommen von Spannungen und politischen Krisen förderte. Vorrangiges Ziel des Komitees für Einheit und Fortschritt war es, das Parlament wiedereinzusetzen. Man hoffte, durch die Wiederbelebung des Parlamentarismus dem Auflösungsprozess des Staates entgegenzusteuern.

Dafür wurden relativ schnell Wahlen abgehalten und am 17. Dezember 1908, nur fünf Monate nach der Revolution, konstituierte sich das Parlament zu seiner ersten Sitzung. Nach mehr als 30 Jahren absolutistischer Herrschaft trat damit im Osmanischen Reich wieder der Parlamentarismus in Kraft. Wenn auch dieses osmanische Parlament die ethnische Vielfalt im Reich widerzuspiegeln versuchte, so waren nun doch mit mehr als 50 % die türkisch-stämmigen Abgeordneten eindeutig in der Überzahl. Die Vertreter des Komitees für Einheit und Fortschritt, mehrheitlich Angehörige der türkischen Volksgruppe, stellten eine überwältigende Mehrheit. (Vgl. Zürcher, 2004: 95) In realpolitischer Hinsicht litt das Komitee darunter, dass es sich nicht in eine politische Partei verwandelt hatte. Vielmehr gab es nun eine Zweiteilung in eine parlamentarische Fraktion sowie eine weiterhin in Armee und Verwaltung verankerte Geheimorganisation. Außerdem fehlte innerhalb der Parlamentsfraktion der Zusammenhalt. Schließlich war der Aufbau einer umfassenden Parteiorganisation recht schnell erfolgt, vor allem in den asiatischen Provinzen des Reiches. Dort hatte man sich vielerorts auf rasch geknüpfte Interessenkoalitionen verlassen müssen. So saßen nun mehrfach Clanführer oder andere lokale Autoritäten, die man als Unterstützer bzw. als Vertreter des Komitees gewinnen hatte können, als Abgeordnete des Komitees für Einheit und Fortschritt im Parlament. (Vgl. Zürcher, 2004: 95) Überhaupt stellte sich relativ rasch nach der Revolution heraus, dass innerhalb der jungtür­kischen Bewegung ziemlich unterschiedliche politische Ideen und Vorstellungen existierten.

Bald wuchs vor allem unter der Bevölkerung der Hauptstadt der Unmut über das Komitee. Dazu trug neben einer rasant galoppierenden Inflation

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auch der Umstand bei, dass die Jungtürken viele Angehörige der Armee, die sogenannten alayli, die nicht Absolventen der Militärakademie waren und die in der hamidischen Ära befördert worden waren, entließen. Ähnlich erging es Tausenden von Agenten, die im hamidischen System einen Teil des umfassenden Spitzel- und Sicherheits­systems gebildet hatten.

Am 12. April 1909 (31. März 1325 nach islamischer Zeitrechnung) brach die aufgestaute Angst und Wut gegenüber dem jungtürkischen Regime in voller Wucht aus. Eingeleitet wurde der Aufstand durch den Aufmarsch von durch die Regierung entlassenen Unteroffizieren, die Seriat isteriz! („Wir wollen die Scharia!“) skandierten. Die Aufständischen forderten die Abschaffung des säkularen Schulsystems sowie die Wiederaufnahme der Unteroffiziere in die Armee. Der Aufstand wandte sich vor allem gegen das Komitee für Einheit und Fortschritt, getragen wurde er von islamistischen Motiven. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Ittihad-i Muhammedi, die erste organisierte islamistische Partei in der türkisch-osmanischen Geschichte.

Der gemeinsame Nenner von Protestbewegungen, die sich auf den Islam beriefen, wie auch schon zuvor der Kuleli-Vorfall oder der Kabakçi-Aufstand, kann auf den Wunsch zur Rückkehr zu einer alten, als gerechter empfundenen Ordnung reduziert werden. Allerdings handelte es sich dabei um keine organisierten bzw. ideologischen Bewegungen, vielmehr bedienten sich soziale Protestbewegungen mangels anderer Muster und Symbole islamischer Motive. Die Proteste richteten sich gegen die Modernisierungspolitik der Bildungs­eliten, die von wirtschaftsliberalen Maßnahmen begleitet wurden und die sich zum Nachteil der wenig gebildeten sozialen Schichten auswirkten. Die Forderung nach der Scharia kam der Forderung nach Gerechtigkeit, vor allem sozialer Gerechtigkeit gleich. Das säkulare Schulwesen und andere institutionelle Neuerungen, die im Zuge der Reformen eingeführt worden waren, galten als Symbole dieses ungerechten und damit unislamischen Systems.

Die islamischen Muster des Aufstandes vom 31. März konnten jene sozialen Schichten mobilisieren, die ebenfalls von wirtschaftlichem und sozialem Statusverlust bedroht waren. Dadurch breitete sich der Aufstand bald aus und fand die Unterstützung breiterer Bevölkerungsteile, wie von Studenten der religiösen Schulen, weiterer Angehöriger der Armee,

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sowie von Vertretern der ulema. Neben der Ittihad-i Muhammedi wurde auch Sultan Abdülhamid, der durch den Putsch der Jungtürken in seiner Macht eingeschränkt war, beschuldigt, mit den Konterrevolutionären zu sympathisieren. Hinter dem Aufstand vom 31. März steckte damit eine Koalition bestehend aus den sozial und wirtschaftlich benachteiligten Schichten und jenen traditionalistischen Kreisen, die während der hamidischen Ära mächtig waren und die durch die jungtürkische Revolution entmachtet worden waren.

Der Aufstand konnte schließlich nur mit Hilfe von eilig aus Mazedonien herbeigerufenen, den Jungtürken loyalen Truppen niedergeschlagen werden. Danach wurde Sultan Abdülhamid II. abgesetzt und statt ihm sein Bruder Mehmet V. eingesetzt. In Folge der Ereignisse vom 31. März wurden in der Verfassung radikale Veränderungen vorgenommen. So wurden die politischen Handlungsmöglichkeiten des Sultans auf eine rein symbolische Rolle reduziert. Das Recht des Sultans, das Parlament nach Belieben aufzulösen, wurde stark eingeschränkt. Minister waren fortan nicht mehr gegenüber dem Sultan, sondern gegenüber dem Parlament verantwortlich.

Die zweite Verfassungsperiode war eine für das Entstehen verschiedener politischer Parteien, Interessensvertretungen und Frauenorganisa­tionen sowie die Entwicklung eines Pressewesens fruchtbare Ära. Unter anderem entstand in dieser Zeit auch die zuvor erwähnte erste islamistische Partei des Landes, die Ittihad-i Muhammedi Firkasi, die Partei der Union Mohammeds. Bemerkenswert dabei ist, dass im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern der islamischen Welt das Entstehen einer islamistischen Bewegung als das Ergebnis des Konstitutionalismus und Parlamentarismus und als eine Reaktion auf die durch die eigenen Eliten betriebene Verwest­lichung zu betrachten ist.

Mehr als eine klassische politische Partei betrachtete sich die Union Mohammeds als die Partei des Propheten. Eine zentrale Frage stellte, wie auch bei den übrigen politischen Bewegungen, die Rettung des Osmanischen Reiches dar. Dabei war für die Union Mohammeds der islamische Charakter des Reiches von herausragender Bedeutung. Die Kritik der Partei richtete sich nicht nur gegen die Regierung, sondern gegen alles, was sich ihrer Meinung nach der Scharia entgegensetzte. Die Partei

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kritisierte die Verbreitung westlicher Sitten und Gewohnheiten wie das Trinken von Alkohol sowie die Laxheit städtischer Frauen in den Fragen der islamischen Kleidungsvorschriften. Als Alternative vertraten sie die Idee eines Staates der von der ulema geführt werden sollte. (Vgl. Günay, 2008: 68) Es ist daher kaum verwunderlich, dass sich besonders Mitglieder der ulema, der hohen Geistlichkeit, von der Bewegung angesprochen fühlten. Schließlich hatte die ulema durch die Reformen der vergangenen Jahrhunderte die Demontage ihres wirtschaftlichen und sozialen Status miterleben müssen. Das Wissen und Verständnis der islamischen Quellen und die Legitimität, diese zu interpretieren, hatten im Vergleich zu den Errungenschaften der westlichen Wissenschaften an Bedeutung und vor allem an Ansehen in der Gesellschaft verloren, was mit einem Statusverlust einherging.

Ein weiteres Charakteristikum dieser Periode war, dass das Militär aufgrund der Rolle, die es bei der Niederschlagung der Gegenrevolution gespielt hatte, und der starken Verflechtungen, die es zwischen Komitee und Armee gab, eine überdimensionale politische Funktion einnehmen konnte. Zeitweise saßen sogar aktive Armeeangehörige als Abgeordnete der Parlamentsfraktion im Parlament. Auch wenn sich die Parlamentsfraktion schließlich in eine politische Partei umwandelte, löste sich das Komitee, das im Grunde den Spielregeln der Demokratie misstraute, nicht auf, sondern bestand als Geheimorganisation mit weiten Armen, die bis tief in das Militär reichten, weiter. Gleichzeitig muss festgehalten werden, dass es gerade diese Verflechtung war, die die politische Position der Jungtürken stärkte und die Umsetzung weitreichender Reformen durch das Parlament ermöglichte.

Die Opposition, die sich aus Liberalen, Konservativen, Islamisten, Sozialisten und Abtrünnigen des Komitees zusammensetzte, vereinigte sich schließlich gegen das Komitee und schien die Dominanz der Jungtürken im Parlament herauszufordern. Um gerade diese Kontrolle über das Parlament zu garantieren, wandte das Komitee bei den Wahlen im Jahr 1912 Einschüchterung und Gewalt an, sodass diese Wahlen als sopali seçim (Stockwahlen) in die türkische Demokratiegeschichte eingingen. Dem Wahlsieg des Komitees fehlte dadurch jedoch die Legitimation. ­Schließlich kam es zur Gründung einer Einheitsregierung, deren vorrangiges Ziel

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es war, die Verflechtungen zwischen Armee und Politik aufzulösen. In diese Periode fiel allerdings auch der Ausbruch des Balkankrieges, der als der Anfang vom immer näher kommenden Ende des Osmanischen Reiches gesehen werden kann.

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