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Die Reformen, deren ideelle Grundlagen unter dem Einfluss der europäischen Aufklärung standen, verfolgten aber nicht das Ziel der Etablierung einer bürgerlichen Gesellschaft, sondern sie betrachteten die Institutionen und das System, die durch eine bürgerliche Gesellschaft geschaffen worden waren, als notwendige Bestandteile für die Konstruktion eines modernen und starken Staates. Angesichts des drohenden Niederganges des Reiches lag der Fokus der bürokratischen Eliten daher nicht auf der Übernahme der gesellschaftlichen Ideale von Freiheit und Gleichheit, sondern auf der Übernahme der modernen Institutionen, die die Modernisierung und Zentralisierung des Staatswesens gewährleisten sollten.

In diesem Sinne sind die Bestrebungen der Modernisierer vom Wesen her als staatsorientiert und konservativ zu bewerten. (Vgl. Trimberger, 1978: 88)

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Im Laufe der Zeit drängte die auf den neuen Verwaltungs- und Militär­akademien nach westlichen Maßstäben ausgebildete neue Elite die absolute Macht des Herrschers zurück. Die Schaffung von Institutionen wie eines Schatzamtes führte dazu, dass Steuereinnahmen nicht mehr direkt dem Sultan zustanden, sondern vielmehr wurden sie nun von der neuen Bürokratie eingehoben und verwaltet und dem Sultan wurde eine festgelegte Apanage zugewiesen. Für die Angehörigen der neuen Elite ersetzte das Konzept des Staates und der Nation immer mehr den Sultan als zentralen Referenzpunkt der Gesellschaft.

Die Reformen führten zu einer überdimensionalen Stärkung der Macht der neuen bürokratischen Eliten im Zentrum. Damit führten die Reformen zwar zur Einschränkung der Allmacht des Herrschers, aber es kam dadurch nicht zu einer Demokratisierung, vielmehr erfolgte eine Machtverschiebung innerhalb des Zentrums vom Sultan in Richtung hoher Bürokratie. Damit wanderte mit den Tanzimat-Reformen das Machtzentrum vom Sultanspalast zur Hohen Pforte, dem Sitz des Großwesirs, dem Chef der osmanischen Regierung und Verwaltung. Es kam zur Gründung mehrerer Ministerien und zum Aufbau der dazu gehörigen Beamtenschaft.Ministerien mit einem Tross an Beamten ersetzen die traditionellen Haushalte. Sie übernahmen die patrimonialen Funktionen dieser und bedienten die klientalistischen Netzwerke weiter. Eine der wichtigsten Rollen spielte das Außenministerium, das nicht nur die Außenbeziehungen definierte, sondern auch in der Definition und Ausarbeitung der Reformen im Inneren eine wichtige Rolle spielte.

Aufgrund der außenpolitischen Implikationen der Minderheitenfrage konnte sich unter der bürokratischen Elite des Reiches kaum ein Vertrauen in die Angehörigen der nicht-muslimischen Minderheiten entwickeln. Vielmehr wurden sie oft als verlängerte Arme der imperialistischen Großmächte betrachtet und es wurde ihnen Misstrauen entgegengebracht. Die neue Bürokratie blieb daher im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten, in denen Nicht-Muslime, die sich dem Sultan gegenüber loyal verhielten, in hohe Posten des Staates hatten aufsteigen können – obwohl die Reformen auf diesem Gebiet nun die gesetzlichen Grundlagen lieferten – beinahe ausschließlich muslimisch dominiert.

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Der Modernisierungsprozess förderte einen gewissen Elitismus. Die neuen Machteliten im Zentrum begründeten ihre Stellung auf dem Zugang zu Bildung nach westlichen Methoden und Maßstäben. Die neuen Eliten waren nicht nur Fremdsprachen, wie meist des Franzö­sischen, mächtig, sie waren vor allem auch in europäischer Literatur und in Naturwissenschaften bewandert. Die neuen Tanzimat-Eliten verdrängten erfolgreich die traditionellen Eliten im Zentrum des Reiches. Zu diesen gehörten neben den im Jahr 1826 aufgelösten Janitscharen auch die ulema, die hohe Geistlichkeit.

Die Säkularisierung des Bildungs- und Rechtssystems im Zuge der Reformen beraubte nun die ulema, die seit der verstärkten Hinwendung zum Westen ohnehin an Ansehen und Status eingebüßt hatte, nun auch wichtiger gesellschaftlicher und rechtlicher Funktionen. Ubicini weist in seinen Briefen darauf hin, dass durch die Trennung von religiösen und weltlichen Funktionen die ulema auch ihrer finanziellen Einnahmen beraubt wurde. (Vgl. Ubicini, 1853: 93) In weiterer Folge sollte die ulema zu einem wichtigen Zentrum des Widerstands gegen die Bewegung der Verwestlichung werden.

Die islamischen Gelehrten, die als die Hüter des überlieferten islamischen Wissens gegolten hatten, nahmen angesichts der rasanten gesellschaftlichen Veränderungen eine immer konservativere Stellung ein. Immer wieder stellten sich hohe Würdenträger gegen Neuerungen. Als Beispiel dafür kann die Geschichte der unterirdischen Bahn, die das Hafenviertel von Karaköy an der Galatabrücke mit Pera verbindet, erwähnt werden. Dieses frühe Beispiel einer kurzen Untergrundbahn wurde durch ausländische Anleihen finanziert und sollte die beschwerliche Verbindung zwischen den zwei Bezirken, die bis dahin nur über eine Stiege und einen steilen Weg möglich war, erleichtern. Als die Bahn allerdings im Jahr 1875 fertig gestellt wurde, erließ der Seyh-ül Islam eine Fetwa, die besagte, dass der Transport von Menschen unter der Erde aus religiöser Sicht nicht erlaubt sei. Daraufhin wurden mit der Bahn in der ersten Zeit nur Tiere und Waren befördert. Erst als sich der Transport als ungefährlich erwies, änderte der Seyh-ül Islam seine Fetwa und öffnete den Betrieb auch für den Personenverkehr.

Solche Beispiele für konservative Entscheidungen der ulema führten dazu, dass sich unter den Reformern immer mehr die Idee durchzusetzen

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begann, dass die Religionsgelehrten ein Hindernis für den Fortschritt darstellten. Diese kritische bis ablehnende Haltung gegenüber der Funktion von Religion sollte sich vor allem später in der frühen republika­nischen Ära niederschlagen.

Während die Geistlichkeit dadurch in den Augen der Reformer immer mehr an Ansehen verlor und sich verstärkt in einen gegen den Modernisierungsprozess gerichteten Konservativismus flüchtete, wurden die in westlichen Wissenschaften und Techniken ausgebildeten neuen Eliten zu einem Motor für weitere Modernisierungsmaßnahmen. Die Reformen brachten weitere Reformen hervor.

Die Reformer definierten die Moderne als ein allumfassendes universelles zivilisatorisches Konzept, das dadurch auch universelle Gültigkeit habe und das es ohne Wenn und Aber zu übernehmen galt. Aufgrund der Universalität der westlichen Moderne sahen die Reformer auch keine Unvereinbarkeit mit der islamischen Religion. Die Übernahme westlicher Konzepte, Normen, Kleider, Stile, Verhaltensweisen und Gewohnheiten wurde daher als eine Notwendigkeit der Modernisierung betrachtet. Nicht-westliches Verhalten galt zunehmend als unmodern und sogar rückständig. Es galt also, sich zu verwestlichen (batililasmak) und dadurch modern zu sein.

Das Konzept der Verwestlichung war nicht das Ergebnis diesbezüglicher Forderungen aus der breiten Bevölkerung, sondern vielmehr war es das Resultat des Despotismus der in westlichen Wissenschaften und Literatur ausgebildeten neuen Eliten, die ihre eigene, weitgehend bäuerliche Gesellschaft als rückständig und ungebildet betrachteten. Folglich ist es nicht verwunderlich, dass die Reformbewegung einen autoritären Charakter annahm.

Während der Islam und die islamische Tradition eine Verbindung zwischen der höfischen osmanischen Elitenkultur, die sich durch Sprache, Kleidung, Bildung, Lebensweise, ja sogar Musik und Speisen von jener der Untertanen unterschied, zumindest formal herstellen konnte, vertiefte die Übernahme westlicher Kleidung, Lebensweisen und Verhaltenscodices durch die neuen Eliten und ihre Abweichung von der islamischen Tradition die kulturelle Kluft zwischen diesen und der breiten muslimischen Bevölkerung, deren Alltagsleben durch islamisch geprägte Traditionen bestimmt war.

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Die Vewestlichung veränderte nicht nur die intellektuelle Ausrichtung und Denkkonzepte, sondern betraf auch die Einrichtung, die Verhaltensweisen, das Vergnügen und die Mode der Eliten. Neben dem Fes und dem modernen Gehrock, dem Markenzeichen der neuen bürokratischen Eliten, änderte sich vor allem die Frauenmode in wohlhabenden Kreisen. In der städtischen Gesellschaft wurden traditionelle Kleidervorschriften, die das Tragen bestimmter Stoffe, Muster und Modelle bestimmten Ständen bzw. konfessionellen Gruppen vorbehielten, immer mehr zu Gunsten der angesagten Modetrends aus Paris und London vernachlässigt. Kleider der damaligen internationalen Mode ersetzten zunehmend die tradi­tionelle Bekleidung wohlhabender Frauen im städtischen Umfeld. Unter den Damen der neuen Eliten verkümmerte der Schleier oft zu einem Tüll, der mehr modischen als religiösen Zwecken zu dienen schien. Auch klassische europäische Musik fand immer mehr Eingang in die Kreise der höheren städtischen Bürokratie. All dies blieb nicht ohne Auswirkungen auf den Palast selbst. Das öffentliche Auftreten und Verhalten der Sultane ähnelte immer mehr jenen europäischer Monarchen. Plötzlich begannen sich die osmanischen Sultane bewusst ihrem Volk zu zeigen. So unternahm z. B. Sultan Abdülmecit (Reg. 1839 –1861) mehrere Reisen quer durch sein Reich, um den Stand der Provinzreform vor Ort zu inspizieren. Sein Bruder und Nachfolger Abdülaziz (Reg. 1861 –1876) unternahm sogar mehrere Reisen nach Europa, bei denen er mit europäischen Monarchen zusammen kam.

Die Verwestlichung spiegelte sich nicht nur in der Kleidung und dem Verhalten der Oberschicht, sondern auch in der Architektur wider. Vor allem in den von Angehörigen der Minderheiten, sowie ausländischen Diplomaten und Kaufleuten bewohnten Istanbuler Bezirken Galata und Pera entstanden in dieser Zeit moderne Stadthäuser, Geschäftspassagen und Theater, die sich am französischen Baustil der Zeit orientierten. Vor allem Cafés und Restaurants nach europäischem Vorbild veränderten nachhaltig den öffentlichen Raum, da sie von Männern und Frauen gleichzeitig frequentiert wurden. Allerdings blieben solche Einrichtungen, ebenso wie Theater und Geschäftspassagen fast ausschließlich auf die sogenannten europäischen Bezirke der Hauptstadt beschränkt. Damit blieben die Umwälzungen im Zuge der Verwestlichung weitgehend auf

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das Zentrum und die Angehörigen der Staatseliten und auf die durch Nicht-Muslime dominierte Handelsbourgeoisie beschränkt. Modernisierung durch Verwestlichung war ein Konzept, das von den neuen Eliten im Staat vertreten wurde; es handelte sich damit um einen Ansatz, der von oben her, von den höchsten staatlichen Organen ausging, die Auswirkungen auf die einfache Bevölkerung der Peripherie blieben bescheiden.

Trotz des Versuches, auch im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich einen Modernisierungsschub zu erzeugen, hatte die Tanzimat-Ära keine industrialisierte Wirtschaft hervorbringen können. Die sich am Freihandel orientierende, offene und vom Wirtschaftsliberalismus geprägte Wirtschaftspolitik lieferte das Reich durch Handelserleichterungen, niedrige Tarife und Zölle weitgehend den Interessen des westlichen Imperialismus aus. Vor allem das mit Großbritannien im Jahr 1838 abgeschlossene Freihandelsabkommen lieferte die auf traditionellen Herstellungsmethoden beruhende Wirtschaft schutzlos der Konkurrenz mit britischen Industriegütern aus. Dies hatte verheerende Folgen für die Produktion im Reich. Da man mit den Preisen der industriell produzierten europäischen Massenwaren nicht mithalten konnte, wurde das Reich immer mehr zu einem Lieferanten für Naturgüter, die in Europa verarbeitet und deren Produkte wieder ins Reich zurück exportiert wurden. Dadurch vergrößerte sich das Handelsdefizit und es wuchs die Abhängigkeit von den europäischen Märkten.

Das Osmanische Reich gelangte dadurch im Laufe des 19. Jahrhunderts in eine semi-koloniale Abhängigkeit, die sich insbesondere durch eine wirtschaftliche und finanzielle Schwäche manifestierte. Unter diesen Bedingungen blieb der Grad der Industrialisierung gering. Selbst lebenswichtige und strategisch bedeutende Bereiche wie das Postwesen wurden von ausländischen Gesellschaften betrieben. Es waren auch hauptsächlich europäische Ausländer, die die leitenden Positionen in wichtigen Unternehmen innehatten.

Gleichzeitig dazu verlangten die Umstellung des Rechtswesens, der Verwaltung und der Armee nach immer größeren Finanzmitteln. Die osmanische Regierung konnte kaum die Effizienz im Steuerbereich in dem notwendigen Ausmaß anheben. Stattdessen griff man auf ein altbewährtes Mittel, die Verringerung des Silbergehalts in den osmanischen

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Münzen, zurück; das führte wiederum zu einer steigenden Inflation. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts musste das Reich Auslandsanleihen aufnehmen. Der Staat verschuldete sich in einem solchen Ausmaß, dass er im Jahr 1875 Zahlungsunfähigkeit anmelden musste. Im Jahr 1881 wurde die Administration de la Dette Publique Ottomane gegründet, eine Institution, die unter britisch-französischer Kontrolle die Überwachung der osmanischen Staatsfinanzen übernahm, wodurch das Reich in noch größere Abhängigkeit von den Großmächten und deren wirtschaftlichen und politischen Interessen geriet.

Die Jungosmanen

Die Tanzimat-Reformen hatten die Macht der zentralen Bürokratie weiter gestärkt. Dies war zu Lasten des Hofes und des Sultans geschehen. Die Macht wanderte in dieser Ära vom Palast zur Hohen Pforte, dem Sitz des Großwesirs. Ministerien mit einem Tross an Beamten ersetzen die Haushalte. Sie übernahmen ihre patrimonialen Funktionen und bedienten die klientalistischen Netzwerke. Es etablierte sich ein aufgeklärter Absolutismus der hohen Bürokratie. Die wichtigsten Vertreter des Tanzimat-Regimes waren Mehmet Emin Ali und Mehmet Fuat Pascha (Keçecizade), sie regierten autoritär und eisern. Es gab kaum Opposition aus der Bevölkerung.

Kritik am Despotismus der Tanzimat-Reformer wuchs vor allem aus den Reihen der Reformer selbst. Es waren jene Vertreter der aufgeklärten Bildungseliten, denen meist aufgrund ihrer Herkunft, der Aufstieg in die Machtzirkel verwehrt blieb. (Vgl. Zürcher, 2004: 66ff) Der Absolutismus der Reformer hatte einen gewissen Nepotismus gefördert. Es waren meist die Angehörigen, Verwandten und Protegées eines kleinen Zirkels um den Hof und die hohe Tanzimat-Bürokratie, die bevorzugt wurden und in wichtige Posten kamen. Die Söhne von Angehörigen des Haushaltes des Sultans und prominenter Funktionäre hatten einen privilegierten Status und wurden bei Beförderungen gegenüber Studenten, die aus der Bevölkerung rekrutiert worden waren und durch ein Stipendium an die Akademien gelangten, bevorzugt. (Vgl. Göcek, 1996: 77) Jene Vertreter

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der Bildungseliten, denen aufgrund ihrer Herkunft der Aufstieg in die Machtzirkel verwehrt blieb, besetzten entweder die niedrigeren Ränge in der Bürokratie oder sie betätigten sich als Journalisten.

In Folge der Öffnung zum Westen hatte sich erstmals ein reges Presse­wesen herausgebildet, das nicht nur eine Chronik der Ereignisse wieder­gab, sondern in dem auch vermehrt regierungskritische Kommentare Platz fanden. Damit übernahm die Presse in gewisser Weise mangels anderer Möglichkeiten der politischen Meinungsäußerung die Funktion einer liberalen Opposition zu den autokratisch regierenden Tanzimat-Reformern. Die Leserschaft der neuen Blätter blieb allerdings aufgrund des hohen Analphabetismus auf den zwar wichtigen, aber zahlenmäßig kleinen Kreis der städtischen Bildungseliten beschränkt.

Die Ereignisse um die bürgerlichen Revolutionen des Jahres 1848, in denen das Bürgertum in den einzelnen europäischen Staaten gegen die nach der Restauration entstandenen aufgeklärten absolutistischen Regimes revoltierte, hatte einen großen Einfluss auf die unzufriedenen Vertreter der Bildungseliten gehabt. (Vgl. Zürcher, 2004: 67) Anders als in den west- und mitteleuropäischen Staaten sollten die liberalen Forderungen nach Konstitutionalismus und Parlamentarismus nicht von einem aufstrebenden Bürgertum, sondern von den von der Macht ausgeschlossenen Vertretern derbürokratischen Eliten getragen werden. Die Zeitungen und Journale, die neu entstanden waren und die liberalen Vertretern der bürokratischen Eliten ein Betätigungsfeld geboten hatten, sollten eine wichtige Rolle bei der Verbreitung dieser Ideen spielen. Seit seiner Entstehung sollte das türkische Pressewesen eher durch politischen Liberalismus geprägt sein und nicht nur ein Betätigungsfeld für kritische und oppositionelle Intellektuelle bieten, sondern auch ein wichtiger Vermittler liberaler Werte und Diskurse sein.

Die Opposition zum aufgeklärten Absolutismus der Tanzimat-Reformer sammelte sich in der Bewegung der Jungosmanen. Die Jungosmanen waren keine homogene, bzw. organisierte Bewegung, vielmehr handelte es sich um eine lose Vereinigung junger Intellektueller unterschiedlichster Herkunft und Ansichten. Was sie vereinte war die Opposition gegen den Despotismus und Nepotismus des Tanzimat-Regimes und die Forderung nach einer Verfassung und einem Parlament. Damit

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knüpfte die jungosmanische Bewegung an die freiheitlichen Ideen und Ziele der 1848er Bewegungen in Europa an. Zudem verband sie der Umstand, dass ihnen der Aufstieg in die höchsten Spitzen des Staates verwehrt geblieben war.

Die Jungosmanen waren in dem Sinn keine Revolutionäre, die den islamischen Charakter des Staates oder gar die Autorität oder Legitimität der osmanischen Dynastie in Frage stellten, vielmehr wollten sie diesen Staat retten. Auch sie betrachteten Reformen als unausweichlich. Anders als die Tanzimat-Eliten, die sie des Despotismus und der unkritischen Übernahme westlicher Institutionen beschuldigten, versuchten sie aber liberale Konzepte wie Konstitutionalismus und Parlamentarismus und ein Staatsbürgerschaftswesen mit der osmanisch-islamischen Tradition des Staates zu verbinden. Die Tanzimat-Reformer kritisierten sie vor allem dafür dass sie das Reich politisch und wirtschaftlich an die europäischen Großmächte auslieferten und dass sie vom Westen nicht etwa liberale Konzepte wie den Konstitutionalismus oder die Pressefreiheit übernommen hatten, sondern so oberflächliche Aspekte der europäischen Kultur wie Theater, Tanzsäle oder die Benutzung von europäischen Toiletten mit Verwestlichung verwechselt hätten, wobei diese noch dazu schwer mit den islamischen Moralvorstellungen der osmanischen Gesellschaft zu vereinbaren wären. (Vgl. Mardin, 2000: 115ff.)

Die Werte der Aufklärung wie Fortschritt, Wissen und Wissenschaft betrachteten sie nicht als spezifisch westliche Errungenschaften, sondern als universelle Werte, die es, um gegenüber dem Westen aufholen zu können, zu übernehmen und sich anzueignen galt. Dies sollte aber nicht mit einer kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Auslieferung oder Selbstaufgabe einhergehen. Vielmehr sollten kulturelle Eigenheiten bewahrt werden. Sitten, Traditionen, sowie moralische Normen würden nämlich keinem Universalismus unterliegen. Der islamische Charakter der Kultur sowie die eigenen Wertvorstellungen sollten bewahrt und gegen Angriffe von außen beschützt werden. Japan, das es geschafft hatte, trotz technischer Modernisierung und Industrialisierung seine eigenen Werte und Traditionen aufrechtzuerhalten, galt den Jungosmanen als ein Vorbild für die Modernisierung des Osmanischen Reiches. Die Jung­osmanen waren laut Zürcher liberale Intellektuelle, gläubige Muslime

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und osmanische Patrioten, die an die goldene Ära des Osmanischen Reiches anknüpfen wollten. (Vgl. Zürcher, 2004: 68)

Ähnlich wie die islamischen Reformer des 19. Jahrhunderts glaubten sie in der Frühzeit des Islam Beispiele für ihre liberalen Ansätze zu finden. Gamalettin al-Afghani und Muhammad Abduh, die prominen­testen Vertreter der islamischen Reformer, wollten den Islam durch eine Rückbesinnung auf seine ursprüngliche pure Form in der Zeit des Propheten und seiner vier Nachfolger reformieren und eine Renaissance einleiten. Es galt, die Religion von dem Ballast der sich über die Jahrhunderte angehäuft hatte, zu befreien und zu den Wurzeln des Islam zurückzufinden. In der frühen islamischen Gesellschaft von Medina, glaubten sie Pendants für liberale demokratische Institutionen zu finden. So vertrat Abduh zusammen mit anderen die Wiedereinführung der Shura, eines Rats der Gläubigen, der dem Herrscher beratend zur Seite stehen sollte. Die Shura war zwar ein Gremium, das unter der Herrschaft des Propheten Mohammed Anwendung gefunden hatte, das dann aber durch autokratische Herrscher abgeschafft worden war. Demnach sahen sie den Parlamentarismus nicht als eine Errungenschaft des Westens, sondern in Form der Shura als eine bereits im ursprünglichen Islam verankerte Institution, die es wiederzubeleben galt. (Vgl. Günay, 2008: 216ff)

Ähnlich versuchten auch die Jungosmanen ihre liberalen Ideen, die von den bürgerlichen Revolutionen in Europa inspiriert waren, islamisch zu begründen und zu rechtfertigen. Die Jungosmanen setzten in ihrer Argumentation die Einführung eines konstitutionellen Systems der Wieder­herstellung der Rechtsstaatlichkeit gleich. Laut Jungosmanen hatte die ulema, als Verteidiger islamischer Prinzipien und Verfechter der Rechte der Muslime im osmanischen System ein Gegengewicht zu den realpolitischen Interessen der politischen Macht gebildet. Die Opposition der ulema zum kaiserlichen Privileg des Erlassens weltlicher Gesetze hätte demnach im Rahmen des traditionellen osmanischen Systems eine gewisse Rechtsstaatlichkeit bzw. Gewaltentrennung gewährleistet. Durch die weitgehende Entmachtung der ulema im Zuge des Modernisierungsprozesses wäre nun dieses traditionelle Gleichgewicht zerstört worden und den bürokratischen Eliten, die sämtliche Macht in ihren Händen vereinen konnten, stünde nun kein Gegengewicht mehr

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gegenüber. Demnach würden Verfassung und Parlament zur Aufhebung des Ungleichgewichts beitragen und damit die Wiederherstellung einer gerechten Ordnung im Sinne des islamischen Rechtssystems, der Scharia bedeuten. (Vgl. Mardin, 2000: 105ff)

Während die islamischen Reformer eine Renaissance der islamischen Religion einzuleiten hofften und damit einen eher theologischen Ansatz vertraten – sie waren islamische Gelehrte – waren die Jungosmanen zwar gläubige Muslime, Intellektuelle und Vertreter einer neuen Bildungselite, aber keine Religionsgelehrten. Im Gegensatz zu den islamischen Reformern drehten sich ihre Gedanken vornehmlich um die politische Frage, wie der Staat zu retten sei.

Serif Mardin meint, dass die Elemente der politischen Weltanschauung der Jungosmanen nur dann zu verstehen sind, wenn man diese Bewegung in den historischen Kontext der ehrlichen und allumfassenden Sorge um das Wohlergehen der islamischen Gemeinschaft setzt, einer Gemeinschaft, die als in ihrer Tradition sowie ihrem wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Fortbestehen als gefährdet wahrgenommenen wurde. Dieses Gefühl, so Mardin, hatte sich seit dem Aufstieg der Osmanen zur Führungsnation der islamischen Welt in eine Hingabe zum bzw. Sorge um den osmanischen Staat gewandelt, der sich als dar-ül islam, die Heimstätte des Islam, definierte. Die Sorge um das Wohlergehen der Gemeinschaft beinhaltete auch die Bereitschaft, die Interessen des Individuums unter jene des Staates unterzuordnen. Laut Mardin fand diese Haltung im weit verbreiteten Ausspruch Allah din-ü devlete zeval vermesin! („Gott möge Religion und Staat schützen!“) Ausdruck. ­Mardin weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass der Fokus auf den Vater Staat (devlet baba) auch eine Tradition des Gehorchens und das Fehlen von weithin akzeptierten Theorien des Widerstandes mit sich brachte. (Vgl. Mardin, 2000: 105ff)

Die Jungosmanen betrachteten den Nationalismus als größte Gefahr für den Fortbestand des Vielvölkerreiches. Namik Kemal, der Schriftsteller, Poet und Journalist und der wohl prominenteste Vertreter der Jung­osmanen, schrieb, dass sich kein Land seiner Zukunft sicher sein könne und dass jedes Land unterschiedlichen Schwierigkeiten und Gefahren entgegen blicke. Während es aber für Länder wie England die Angst vor

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dem irischen Separatismus, in Frankreich der Versuch, Ordnung und Freiheit unter einen Hut zu bringen, in Italien und Deutschland das Streben, die neu gewonnene Einheit zu halten, sei, fürchten wir aufgrund der Unterschiede in Rasse und Religion die totale Auflösung unseres Landes. (Vgl. Lewis, 2002: 338ff.)

Um dem entgegenzuwirken, propagierten Kemal und andere Vertreter der Jungosmanen einen osmanischen Patriotismus. Kemal entwickelte dazu sogar ein neues osmanisch-türkisches nationalistisches Vokabular, indem er alten Wörtern eine neue Bedeutung verlieh. So wandelte er z. B. das Wort Vatan, das im Arabischen Geburtsort bedeutet, in Heimat um. (Vgl. Zürcher, 2004: 68) Es galt die Idee eines osmanischen Vaterlandes zu etablieren, ein Konzept, das so bis dahin keinen Bestand gehabt hatte und für das es nicht einmal eine Terminologie gab. Ein osmanischer Patriotismus sollte die Kluft zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen überbrücken und dem ethnischen Nationalismus entgegenwirken, indem er die Menschen an die gemeinsame Heimat band. Allerdings wurden in Kemals Konzept eines osmanischen Vaterlandes osmanische Christen zwar toleriert, sie würden allerdings keinen konstituierenden Bestandteil der osmanischen Nation bilden. (Vgl. Grigoriadis, 2011: 174) Kemal gründete zu diesem Zweck zusammen mit anderen Jungosmanen 1865 die Geheimgesellschaft Ittifak-i Hamiyet, die Allianz für Patriotismus.

Es sollte sich allerdings erweisen, dass die Idee eines osmanischen Patriotismus zwar unter den liberalen Vertretern der bürokratischen Eliten Anklang fand, allerdings keine Konstruktion war, die den einzelnen nationalistischen Bewegungen, vor allem nicht jenen in den Balkanprovinzen, ernsthaft etwas entgegenhalten konnte. Dort waren es vor allem die wachsende Ineffizienz der lokalen osmanischen Behörden, die wachsende Steuerlast, sowie Korruption und Misswirtschaft, die den nationalistischen Bewegungen in die Hände arbeiteten.

Die im Jahr 1862 gegründete Zeitung Tasvir-i Efkar (Darstellung der Meinung) galt als ein Sprachrohr der jungosmanischen Bewegung. Namik Kemal hatte ihre Leitung übernommen. Über die Zeitung gelangten seine Ideen an eine breitere Öffentlichkeit.

Aufgrund des wachsenden politischen Drucks mussten die meisten prominenten Vertreter der Jungosmanen das Reich verlassen und ins

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europäische Exil gehen. Die meisten von ihnen fanden in Frankreich Zuflucht, wo sich bereits früher Mustafa Fazil Pascha, der Bruder des ägyptischen Khediven und ein prominenter Vertreter der Bewegung, niedergelassen hatte. Mustafa Fazil Pascha nahm eine wichtige Rolle bei der Finanzierung der oppositionellen Bewegung ein. Vom Exil aus veröffentlichten die Jungosmanen weiterhin ihre Schriften, die unter intellektuellen Kreisen Anklang fanden.

Nach dem Tod des Großwesirs Mehmet Emin Ali Pascha im Jahr 1871, der dominierenden Figur der Tanzimat-Ära, kehrten die meisten Vertreter der Jungosmanen wieder aus ihrem europäischen Exil zurück. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang war, dass die meisten der ehemaligen Exilanten nach ihrer Rückkehr Funktionen in der Verwaltung übernahmen und einige sogar in Ministerposten aufstiegen. Die Forderungen der Jungosmanen nach einer osmanischen Verfassung und einem Parlament konnten allerdings erst in Folge einer weiteren Verschlechterung der Sicherheitssituation des Reiches durchgesetzt werden. Damit war die Einführung des Parlamentarismus, ebenso wie auch frühere Reformen, deren Inhalt den Geist der Aufklärung widerspiegelten, nicht die Folge eines wachsenden Drucks aus der Bevölkerung, sondern eine Maßnahme, die den Druck, den die europäischen Großmächte auf das Reich ausübten, verringern sollte. Wieder einmal spielte in diesem Zusammenhang die Sorge der Großmächte um die Lage der christlichen Untertanen des Reiches eine Rolle.

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