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II. Modernisierung – ein Paradigmenwechsel
Zerfallserscheinungen

Der Friedensvertrag von Küçük Kaynarca, unterzeichnet 1774 nach der verheerenden Niederlage der Osmanen gegen die russische Armee Katharinas der Großen, leitete eine neue Epoche in der osmanischen Geschichte ein. Der Vertrag beendete die osmanische Kontrolle über das Schwarze Meer, öffnete es für russische Handelsschiffe und zwang den Sultan dazu, die Halbinsel Krim abzutreten. Weiterreichende Folgen sollte vor allem jene Bestimmung des Vertrages haben, die Russland die Funktion einer Schutzmacht über die christlich-orthodoxen Subjekte des Sultans einräumte.

Damit wurde nicht nur die Souveränität des Sultans über einen Teil seiner Untertanen eingeschränkt, sondern zudem einer ausländischen Macht völkerrechtlich die Möglichkeit eingeräumt, zum Wohl der christlich-orthodoxen Gruppen zu intervenieren und damit in die internen Angelegenheiten eines anderen Landes einzugreifen. Der Vertrag von Küçük Kaynarca schuf damit einen Präzedenzfall. In den folgenden Jahren sollten mit der zunehmenden Schwäche des Reiches auch andere europäische Großmächte die Rolle einer Schutzmacht über einzelne nicht-muslimische Gruppen, die Bürger des Reiches waren, übernehmen.2

Die Lage der nicht-muslimischen Gruppen im Reich, ihr rechtlicher und politischer Status sowie ihr Schutz und ihre Sicherheit begannen

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seit Küçük Kaynarca verstärkt die Außenbeziehungen des Reiches mit den europäischen Großmächten zu dominieren.

Die europäische Öffentlichkeit begann in der Formulierung der Außenpolitik eine wachsende Bedeutung zu spielen. Ein wachsendes liberales Bildungsbürgertum interessierte sich vermehrt für Weltpolitik und begann sich außenpolitisch zu engagieren. Als Beispiel dafür gelten die philhellenischen Gruppen und deren Einfluss auf die Haltung der Großmächte in der Frage des Unabhängigkeitskampfes der Griechen.

In Folge der Aufklärung war es zu einer gewissen „Neuentdeckung“ der großen antiken Denker wie Aristoteles, Platon und Sokrates gekommen. Goethe, Schiller und Hegel und später Victor Hugo und Lord Byron hatten sich in ihren Werken mit dem antiken Griechenland auseinandergesetzt. Für die liberalen Denker, Philosophen und Dichter waren das antike Athen und die griechische Demokratie idealisierte Modelle. Griechenland wurde als die Wiege der europäischen Kultur und die griechische Demokratie als ein Ideal, zu dem es zurückzufinden galt, wahrgenommen. Obwohl nur die wenigsten Griechenland bereisten, kam es zu einer Sensibilisierung der europäischen Öffentlichkeit für die griechische Freiheitsbewegung. In den einzelnen europäischen Städten bildeten sich starke philhellenische Bewegungen. Der Ausbruch des griechischen Aufstandes gegen die Osmanen im Jahr 1821 führte zu einer Welle der Solidarität mit den Aufständischen. Einzelne philhellenische Vereine, die sich in den verschiedenen Städten gebildet hatten, sammelten Geld für die Rebellen und mobilisierten die Öffentlichkeit. Es galt, die griechische Freiheitsbewegung, ein Produkt des intellektuellen Gärungsprozesses Europas im 18. Jahrhundert und stark beeinflusst durch den französischen republikanischen Nationalismus, gegen den „despotischen“ osmanischen Staat, der jegliche individuelle Freiheit und Autonomie zu unterdrücken schien, zu unterstützen. (Vgl. Grigoriadis, 2011: 168) Einer der prominentesten Philhellenen, der sich aktiv am Kampf gegen die Osmanen beteiligte, war Lord Byron. Byron starb 1824 in Griechenland an Sumpffieber.

Der heldenhafte Kampf der Griechen wurde von einem wachsenden europäischen Bildungsbürgertum aufmerksam mitverfolgt und sollte die Wahrnehmung des Osmanischen Reiches und die Politik der Großmächte

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gegenüber diesem langfristig prägen. Die Großmächte sollten im Laufe des 19. Jahrhunderts mehrmals nicht nur zur Unterstützung der Griechen, sondern auch anderer christlicher Volksgruppen, die unter osmanischer Herrschaft lebten, eingreifen. Auch wenn diese Interventionen meist für sich beanspruchten, im Namen der Verteidigung der Menschenrechte zu erfolgen, betrafen sie zum einen meist nur christliche Subjekte des Reiches und waren zum anderen von einer Ausweitung bzw. Festigung des Einflusses der Großmächte begleitet.

Die offensichtliche militärische, politische und wirtschaftliche Schwäche des Reiches gegenüber dem europäischen Imperialismus führte dazu, dass das agrarisch geprägte Reich für das jahrhundertelang Expansion und Beute wichtige wirtschaftliche Faktoren dargestellt hatten, zunehmend in eine semi-koloniale Abhängigkeit gegenüber dem europäischen Westen geriet. Handwerklich hergestellte Produkte konnten dem Preisdruck durch europäische Industriegüter kaum standhalten. Zusehends ent­wickelte sich das Reich zu einem Absatzmarkt für europäische Industrie- und Textilgüter und zu einem Exporteur von Rohstoffen. Parallel zur wirtschaftlichen Integration erfolgte auch eine schrittweise intellektuelle und kulturelle Öffnung und Neuorientierung. Auch wenn einige Bewegungen eine Stärkung durch eine Rückkehr bzw. Rückbesinnung zu den islamischen Wurzeln propagierten, sollte sich unter den Eliten eine starke Reformbewegung durchsetzen, die den Ausweg aus der Krise in einer weitgehenden Anpassung an eine als universell betrachtete Moderne sah. Demnach galt es den scheinbar unaufhaltsamen Niedergang des Reiches und damit der islamischen Kultur durch Modernisierung im Sinne der Anpassung und der Kopie des Westens aufzuhalten.

Damit wandelte sich das Bild vom „Westen“ von dem eines Ortes, den es zu erobern galt, in den einer Inspirationsquelle, eines Modells und Vorbilds, das es in immer mehr Teilbereichen zu kopieren und imitieren galt.

Wie weiter unten näher erläutert, wollten die osmanischen Reformer die Ergebnisse des Modernisierungsprozesses aus Europa importieren. Sie waren weniger an den gesellschaftlichen, sozialen und politischen Prozessen, die hinter der Moderne steckten interessiert. Was sie interessierte, waren jene modernen Institutionen, Strukturen und Organisationsformen, die in Folge der Moderne entstanden waren und die zur globalen

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Hegemonie des europäischen Westens geführt hatten. Die Reformer betrachteten daher die durch sie eingeleitete Modernisierung zunächst eher als einen technischen Prozess. Sie übersahen dabei den Einfluss, den dieser Prozess auf die eigene Kultur wie Mode, Musik, Literatur, Alltagsleben und sogar Verhaltens- und Wertenormen haben würde.

Die Bemühungen von Generationen an osmanischen Reformern hatten das Ziel, das letzte islamische Großreich zu erhalten. Es galt, ein mittelalterliches Staatswesen, in dem Macht, Status und Privilegien alleine vom Herrscher verliehen wurden und in dem es kein Staatsbürgerschaftswesen gab, sondern Rechte und Pflichten vielmehr auf reli­giöser Zugehörigkeit basierten, in einen starken Staat nach dem Vorbild der europäischen Großmächte wie Frankreich oder Großbritannien umzuwandeln. Das Konzept des westfälischen Staates, der sich auf das Territo­rialitätsprinzip bezieht, der über starke zentralstaatliche Institutionen, ein absolutes Machtmonopol, Steuerhoheit und volle Souveränität nach innen und nach außen verfügt, stellte dabei ein Ideal dar.

Die Reformen sollten, so hoffte man, indem sie die staatliche Autorität stärkten, einerseits dem europäischen Imperialismus und Kolonialismus entgegenwirken und damit die Einflussnahme externer Akteure einschränken und andererseits auch dezentralistischen, sezessionistischen Kräften innerhalb des Reiches entgegenarbeiten.

Neben den enormen Anstrengungen, die mit diesem Modernisierungsprozess verbunden waren, war dies zudem ein teures Unterfangen, das mit hohen finanziellen Kosten verbunden war. Die Modernisierung von Verwaltung und Militär sowie das zunehmende Interesse an europäischen Waren verschlangen Unsummen. Das traditionelle Steuer- und Verwaltungssystem verhinderte eine effiziente Steuereintreibung. Weil die Einkünfte aus Tributzahlungen, von Beutezügen und ähnlichem stetig zurückgingen und auch die Steuereinnahmen bei weitem nicht die hohen Kosten der Modernisierung decken konnten, nahm der osma­nische Staat Kredite bei europäischen Staaten und Banken auf. Die zum Teil äußerst ungünstigen Kreditbedingungen sowie die anhaltende militärische Schwäche und der damit verbundene Bedarf nach mehr Geld führten dazu, dass das Reich in eine Schuldenspirale gelangte, die es sogar zum Staatsbankrott führen sollte.

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Lokale Machtfaktoren

Aufgrund der wachsenden Schwäche der Zentralmacht, der damit einhergehenden Schwäche der zentralstaatlichen Strukturen, dem Fehlen einer modernen Verwaltung, mangelnden modernen Verkehrsverbindungen sowie einer nicht bestehenden einheitlichen Finanz- und Wirtschaftspolitik mangelte es dem Hof auch zunehmend an Durchsetzungskraft gegenüber seinen Untertanen. Es wurde für den Sultan immer schwieriger, seinen Willen auch in den weitläufigen Provinzen des Reiches durchzusetzen. Es mangelte im Reich nicht nur an gut ausgebauten Verkehrsverbindungen, sondern auch an modernen Kommunikationsmitteln, die für eine moderne Verwaltung unerlässlich geworden waren. Zudem war es im Laufe der Zeit zu einem Verfall der staatlichen Insti­tutionen gekommen. Ämterkauf, Korruption und Bestechung waren an der Tagesordnung. Der Absolutismus des Sultans, sowie die starke Ausrichtung des politischen Systems auf den Hof und auf seine Angehörigen begünstigten die Günstlingswirtschaft.

Während der Hof von Intrigen und Seilschaften geprägt war und all zu oft mit sich selbst, bzw. mit der Frage der Rettung des Reiches beschäftigt war, konnten angesichts der schwindenden Durchsetzungskraft des Zentrums in mehreren Regionen des Reiches lokale Notabeln, meist Großgrundbesitzer, ihren wirtschaftlichen und politischen Einfluss auf regionaler Ebene ausbauen. Diese sogenannten ayan waren Familien, die sich zu lokalen Macht- und Wirtschaftsfaktoren entwickelt hatten und die autonom vom osmanischen Staat, respektive dem Sultan Macht über die lokale Bauernschaft ausübten.

Einige ayan-Familien wurden so über Generationen hinweg zu einem Machtfaktor, den es zu berücksichtigen galt. Immer wieder kam es dazu, dass einige ayans auch militärischen Widerstand gegen den Sultan leisteten.

Das Ziel der meisten ayans war es, ihren Besitz, ihren Status und ihre Macht zu festigen und über Generationen hinweg für ihre Nachkommen zu sichern. So sehr sich auch einige von ihnen lokal zu wichtigen Machtzentren entwickelt hatten, benötigten sie dafür die Anerkennung durch den Hof. Es etablierte sich dadurch auf lokaler Ebene, ganz entgegen der osmanischen Tradition eine Art erblicher Landadel.

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Der Hof und damit die Zentralmacht waren stets bestrebt, diesen Tendenzen entgegenzuwirken. Die Reformen, die im Zuge des 19. Jahrhunderts eingeleitet werden sollten, sollten auch das Ziel der Re-Zentralisierung der Macht und der Entmachtung der ayan verfolgen.

Der Hof war allerdings dabei in seinen Möglichkeiten eingeschränkt. Es fehlte angesichts der permanenten externen Bedrohung nicht nur an freien militärischen Kapazitäten, sondern man war auch abhängig von den Steuerabgaben, die die ayans einsammelten und ablieferten. Ebenso benötigten die Sultane die lokalen Machthaber dazu, um Soldaten zu rekrutieren, Einheiten aufzustellen und die lokale öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten.

Als Beispiele für ayans, die zu erheblicher Macht gelangen konnten, gelten die Karaosmanoglu Familie, die sich in Westanatolien eine Machtbasis schuf, bzw. Ali Pascha von Yanina, dessen praktische Herrschaft sich über ein Territorium erstreckte, das ganz Albanien und das heutige Nordgriechenland einschloss. Ali Pascha agierte selbstbewusst und eigenständig von der osmanischen Staatsmacht. Ali Pascha trat sogar unter Umgehung des Sultans in direkte diplomatische Verhandlungen mit ausländischen Mächten ein.

In den Balkanprovinzen hatten die Osmanen weitgehend auf die Unterstützung durch die Bauernschaft bauen können. Das Osmanische Reich hatte die Region stabilisiert und den Bauern Schutz und Sicherheit vor lokalen Machtfaktoren geboten. Aufgrund der anhaltenden Schwäche des Reiches konnte die osmanische Staatsmacht dieser Verpflichtung nicht mehr zur Genüge nachkommen. Die Bauernschaft war in Folge der Schwäche der osmanischen Staatsmacht zunehmend dem Druck und der Willkür der lokalen Großgrundbesitzer ausgesetzt. Es war wiederum die Ausbeutung und der wirtschaftliche Druck, der von diesen lokalen Eliten ausging, der die Bauernschaft dazu verleitete, sich gegen das Osmanische Reich zu stellen. Aufstände in den Balkanprovinzen des Reiches, wie der serbische Aufstand, gingen nicht von den städtischen Eliten aus, sondern wurden im Wesentlichen von der Bauernschaft getragen. (Vgl. Inalcik & Seyitdanlioglu, 2006: 26)

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Die ersten Zeichen der Öffnung

Seit Beginn des 18. Jahrhunderts drehten sich die Gedanken und Ansätze der osmanischen Staatsklasse vermehrt um die Frage der Abwendung des militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Niedergangs des Reiches. Während die islamischen Gelehrten die Niederlagen als Folgen der Entfernung von den Prinzipien des Islams interpretierten und für ein strengeres Islamverständnis eintraten, setzte sich unter den weltlichen Vertretern der Staatseliten eher die Überzeugung durch, dass es die technische Überlegenheit des Westens war, die zum territorialen Rückgang des Reiches geführt hatte. Aus heutiger Sicht kann dabei festgestellt werden, dass zu diesem frühen Zeitpunkt noch kaum die Mängel des osmanischen Systems als Gründe für die eigene Schwäche hinterfragt und analysiert wurden. Vielmehr wurde technischer Fortschritt nicht unbedingt als eine westliche Errungenschaft, sondern als ein universelles Produkt, das mehr oder weniger zufällig aus dem Westen kam, betrachtet. Es galt, diese Technologie zu adaptieren und umzusetzen.

Es sollte sich jedoch relativ bald erweisen, dass die bloße Übernahme von Technologie die eigene Schwäche nicht überbrücken konnte. Ab dem 18. Jahrhundert sollte die Frage, wie weit auch Institutionen, Konzepte, Denk- und Handlungsweisen, Kleidung, Verhalten, Musik und Lebensweisen zu übernehmen oder anzupassen seien, eine zentrale Rolle in den Überlegungen der osmanischen Eliten spielen. Die Frage der Anpassung an die westliche Zivilisation sollte weit über die Zeit des Osmanischen Reiches hinaus einen zentraler Punkt des politischen Diskurses darstellen.

Im 19. Jahrhundert galt Japan, das sich mit ähnlichen Problemen konfrontiert sah, den konservativen und traditionalistischen Kreisen im Reich, aufgrund des Umstandes, dass Japan zwar westliche Technologie, Militärtechniken, Methoden und Konzepte übernahm, aber gleichzeitig eine kulturelle und moralische Annäherung an den Westen ablehnte als Vorbild.

Im Gegensatz zu Japan war aber das Osmanische Reich nicht geographisch isoliert, vielmehr stand es seit seinem Entstehen stets in regem wirtschaftlichen und auch kulturellen Austausch mit dem christ­lichen Kulturraum. Allerdings war dieser Austausch entweder aus einer

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Position der militärischen Überlegenheit oder zumindest Gleichwertigkeit heraus erfolgt. Die nun offensichtliche technische und wirtschaftliche Unterlegenheit gegenüber dem Westen und die Einsicht, dass die Übernahme westlicher Technologien, westlicher Militärkonzepte und Institutionen unumgänglich für den Erhalt des Reichs war, bedeutete für das Selbstverständnis der osmanischen Eliten, die Jahrhunderte lang den christlichen Westen als moralisch unterlegen und vor allem in Fragen der Hygiene als rückständig betrachtet hatten, einen dramatischen Paradigmenwechsel.

Der Eintritt des Reiches in das nach europäischen Maßstäben entstehende Völkerrechtssystem erfolgte durch die Aufnahme ständiger diplomatischer Beziehungen mit den europäischen Staaten. Das Reich entsandte Anfang des 18. Jahrhunderts Botschafter in die Hauptstädte der wichtigsten europäischen Staaten. Eine wichtige Aufgabe, die die osmanischen Vertretungen übernahmen, war es, neben den diploma­tischen Kontakten mit den Regierungen auch die Verhältnisse und Verwaltungssysteme der jeweiligen Staaten zu studieren und darüber Bericht zu erstatten. So wurde z. B. Mehmet Çelebi 1720 von Ahmed III. mit dem Auftrag nach Frankreich entsandt, dort „die Methoden der Verwaltung und Bildung zu studieren und über solche, die auch im Osmanischen Reich anwendbar wären, zu berichten.“ (Vgl. Mardin, 2000: 137)

Als eine Folge der Mission Mehmet Çelebis gelangte auch der Buchdruck in den 20er Jahren des 18. Jahrhunderts in das Osmanische Reich. Damit die Druckerei ihre Arbeit aufnehmen konnte, musste allerdings zunächst der Seyh-ül Islam, Abdullah Effendi, eine fetva (ein religiöses Urteil) aussprechen, das den Druck nicht-religiöser Schriften legitimierte.3 Der Druck von Büchern in türkischer Sprache ermöglichte es vor allem dem Hof, der höheren Bürokratie und dem Militär, ihre Kenntnisse über westliche Beispiele der Staatsführung und der militärischen Organisation zu erweitern.

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Die Herrschaft Ahmeds III. (1703 –1730) war gekennzeichnet durch einen wachsenden kulturellen Einfluss des Westens. Europäische Mode, Architektur, Geschmack und Lebensstil übten auf die Angehörigen der Staatselite eine Faszination aus. So galt es in den 20er Jahren des 18. Jahrhunderts unter den Angehörigen des Hofes als chic, europäische Manieren und Gewohnheiten nachzuahmen. Europäische Güter galten als Luxusgüter und signalisierten Wohlstand und Status. Vergnügen wie Ausflüge und Picknicks galten als Ausdruck des neuen Lebensgefühls der Staatseliten.

Diese Ära sollte wegen der Vorliebe für Tulpen, die auf das Reich aus Europa übergeschwappt war, als die „Tulpenära“ (Lale Devri) bezeichnet werden. Diese Periode wird im Nachhinein aufgrund der Zurschaustellung eines von Vergnügungssucht gekennzeichneten Lebensstils der höfischen Eliten und der durch Tulpen geprägten floralen Ornamente bei Bauten dieser Ära als türkisches Barock bezeichnet.

Die Tulpenära wurde durch den sogenannten Patrona-Halil-Aufstand (1730) beendet.4 Der Aufstand, wurde von den Janitscharen, der einstigen Elitetruppe des Reiches initiiert und blieb im Wesentlichen auf die Hauptstadt beschränkt. Die Janitscharen gehörten zu jenen Gruppen im Reich, deren Einfluss und Stellung durch die Öffnung zum Westen und die damit einhergehende Modernisierungsbewegung bedroht war.

Im Patrona-Halil Aufstand verbündeten sich die Janitscharen mit anderen sozial benachteiligten Schichten in der Hauptstadt. Der Zorn dieser Menschen richtete sich vor allem gegen die eigene wirtschaftliche Misere. Die Übernahme europäischer Gepflogenheiten durch die Eliten und vor allem ihre Vergnügungssucht und ihr verschwenderischer Lebensstil wurde von jenen, deren Status und wirtschaftliche Basis bedroht war, als unmoralisch empfunden.

Damit stellt der Patrona-Halil-Aufstand das erste Beispiel einer wirtschaftlich-sozial motivierten reaktionären Bewegung dar, die von den ärmeren und benachteiligten Schichten getragen wurde und die sich gegen die wirtschaftlichen Umwälzungen richteten, die mit der Öffnung des Reiches zum europäischen Westen und der Übernahme westlicher

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Lebensstile durch die eigenen Eliten einher gingen und die sich kaum zum Wohl der breiten Bevölkerung auswirkt hatten. In den ­Janitscharen, die angesichts der Umwälzungen ihre Rolle und ihren Einfluss als gefährdet betrachteten, fanden sie einen Verbündeten zur Abwehr weiterer Veränderungen und zur Bewahrung des traditionellen sozialen Systems. Die Abweichung vom traditionellen System, sowie die Annäherung des Lebensstils und des Geschmacks der eigenen Eliten an jenen der Europäer wurden als unmoralisch und damit als eine Abweichung vom Islam empfunden. Mangels anderer bekannter politischer Konzepte und Ideen beriefen sich solche sozio-politisch motivierten spontanen Reaktionen auf den Islam, der als das wahre, überlieferte, moralische und gerechte System wahrgenommen wurde. Die eigene wirtschaftliche Misere, bzw. die herrschende soziale Ungerechtigkeit wurden damit mit einer Entfernung von diesem System gleichgesetzt.

Wallerstein weist in Anlehnung an Hodgson darauf hin, dass die ­Tulpenära auch eine neue Art von Zentralismus und Absolutismus begünstigte. Hodgson sieht in der Berufung auf den Islam einen wissentlichen Schlag gegen jene Handelsverbindungen mit dem Westen, die durch das verstärkte Interesse des Hofes an Luxusgütern entstanden waren und welche längerfristig die Macht des Hofes hätten vergrößern können. (Vgl. Wallerstein, 2004: 193) Weitere Beispiele von reaktionären Aufständen gegen die schleichende kulturelle Verwestlichung und die damit einhergehende Oligarchisierung des Systems durch die aufstrebenden bürokratischen Eliten, stellen später der Kabakçi-Aufstand im Jahr 1807, der Kuleli-Vorfall 1859 sowie die Vorkommnisse um den 31. März 1909 dar. (Vgl. Mardin, 2008)

Trotz der starken politischen Rolle, die der Religion dabei zugewiesen wurde, kann man hier allerdings noch nicht von einem ideologischen Islamismus sprechen. Viel mehr als um eine ideologische Bewegung handelte es sich dabei um spontane reaktionäre Ausbrüche von Wut und Enttäuschung durch jene gesellschaftlichen Schichten, die die Annäherung an den Westen bzw. das westliche System in ihrer wirtschaft­lichen und sozialen Stellung gefährdete. Die „Moralisierung“ sozialer und wirtschaftlicher Missstände sollte allerdings bis in die heutige Zeit einen Bestandteil des politischen Diskurses darstellen.

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