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9
Mathildes Abschied von den Böhmischen

»Gib mich die Kette noch, die ich dich gegeben, wie du kamst, Kind«, sagte die dunkle Narbige.

Und Mathilde öffnete noch einmal ihren Schub, ehe ihn der Dienstmann holen sollte. Sie kniete davor, sie weinte. Es hatte ein Zusetzen gegeben im ganzen Hause. Denn alle empfanden es fast wie eine Beleidigung: alle empfanden, als wenn die stolze, harte Miene, die immer mehr in Mathilde in jenem Hause aufgewachsen war, ihnen und dem Leben im Schnapsgeruch und unter lotterigen Mannsleuten, die nachts betrunken heimkamen und mit ihren Weibern stritten, gegolten hätte. Als wenn Mathilde mit ihrem Hinausausdemhaus offen und unverschleiert sagen wollte: »Ich bin nur froh, dass ich fortkomme, ich verachte euch.« Und alle hatten sich zusammen getan, da es Sonntag ganz früh im Herbst war. Die Weiber standen auf den Treppen und raunten und sagten untereinander: »So ein Luder – die kann's ni aushalen.« Und die Böhmischen traten hinzu, entrüstet und sagten: »Diese undankbare Kröte, was hab ich nicht gegeben alles diesem Kinde. Nun hat sie eingeheimst – nun ist sie grob und will allein sein.« Und sie waren hineingerannt, und es hatte einen Streit gegeben, denn die Böhmischen sagten auch Gemeines, sie verdächtigten sie. »Willst wohl allein sein – wie die Bezahlten –«, sagte die Dunkle, und der Schlosser sah in die offene Tür und schrie lachend: »Ju, ju, die is ei a besten Juhren, mit der gefällt's jedem, hahaha.« Sie war in einer unsinnigen Aufregung, Mathilde und weinte; und es waren wieder die Tränen, die heiß und unbändig und unbegreiflich rannen, als wenn sie plötzlich über alles weinte, was sie umgab, und was sie zu leben bestimmt war. Sie hatte ihre Sachen sorgfältig eingepackt, ohne groß darauf zu sehen. Sie kniete am Schube und auch an ihrem Korbe, denn sie hatte schon manches gute Stück. Aber alles schwamm in Tränen, wie unsicher, und sie hatte kein Stück mehr recht angesehen. Es war ihr alles gleichgültig, und wie wenn eine Folterstunde vorüber müsste, so hielt sie sich, ohne ein Wort hinzuzutun, und hastete. Im Grunde hätte sie allen an die Gurgel springen mögen, aber was um Himmels willen wäre es gewesen. Und man hörte den Schlosser noch einmal auf der Treppe lachen: »Wenn se alleene wohnt, verdient se au' mehr«, so dass es bis in die Stube klang, und sie an diesem Tage sich gar nicht mehr raffen konnte. »Nur hinaus – nur hinaus.« Es kam ihr die Nacht im Gemeindehause ein, wo sie auch gedacht hatte: »Nur hinaus! hinaus! aus der Schande und dem Unleben.« Und sie weinte und hastete, wobei die Narbigen zornig im Zimmer umhergingen und die eigenen Sachen kontrollierten und zählten, wie um ihr zu zeigen, dass sie ja nichts etwa ihnen noch entwenden sollte.

»Was haben wir dem Dinge alles in'n Rachen gestoppt«, sagte die eine und sah verächtlich wieder auf die Kniende. Der Herbst war schön und im Hofe der Kirschbaum sah aus wie ein Bukett aus Karmoisin.

»Alles! – Was sind wir dumm«, gab die andere zurück.

»Hier habt'r euern Dreck«, sagte Mathilde, und jetzt waren ihre Mienen auch trocken. Und sie begann einige Sachen wieder aus dem Koffer hervorzuwühlen und sie ihnen verächtlich aufs Bett zu werfen.

»Das Kleid, was soll uns das,« sagte die Dunkle, »ich brauche nichts von dich!«

»Ich au ni – ich verdien mir genung – ich brauch au nischt.«

Aber die andere Narbige ging, und sah und befühlte es.

»Du lässt's liegen«, sagte die Dunkle und die Böhmischen schwiegen eine Weile, obgleich Verachtung aus ihren Leibern ausging und innere Wut, dass sie die Junge im Stolze so übertraf. »Du lässt es liegen«, sagte dann die Dunkle noch einmal, als es die andere doch noch besehen und befühlen wollte.

»Lusst's liegen oder nee, mir gehiert's ni mehr«, sagte Mathilde und kramte und wühlte weiter. Sie brachte auch zwei Hemden heraus.

»Das ha ich au vo euch, hie!« und sie warf es auf den Tisch – »und hie – die Strimpe, die ha ich au vo euch – und das Büchel – nee – das kann ich euch ni gähn – ich war euch ees keefen. Ich hab was nei geschrieben.«

»Ich brauche nichts von dich!« sagte noch einmal die Dunkle.

Aber Mathilde ließ sich nicht stören. Sie hatte in der Tat vieles von den Böhmischen. Und sie kramte und sie wühlte alles herbei, kleine, liebe Dinge aus dem Schube, einen kleinen Spiegel, den ihr die Dunkle mit lustigen Worten und in Liebe geschenkt, dass sich die Alte plötzlich an alles erinnerte, wie es gewesen war, und wie sie an dem kräftigen, kernigen Mädel wirklich gehangen – und sie begann auf einmal in Wut zu weinen und zu schreien, dass Mathilde eine Undankbare wäre, dass sie sie gehalten hätte wie ein Kind, dass sie ihr alles gern gegeben hätte und mit Liebe, und dass es gar nicht hübsch wäre – wenn sie sie nun plötzlich um eines solchen krummen Kerles willen missachtete; und sie fing an, in sie auch sogleich fast hündisch hineinzubitten: »überleg' dir doch, Kind – der Kerl wird dich nicht erhalten!«

»Mich braucht kees erhalten«, sagte Mathilde. »Was ich brauch, verdien ich.«

Und die Dunkle bat und fragte wieder: »Warum willst du denn fürt?«

»Mach dich nicht lächerlich,« sagte die andere steif, die nicht so weich und zerrissen war, »das Mädel wird dich zu Gefallen hierbleiben! Die – die müsste nicht Hochmut haben bis hierher.«

»Nee, ich bleibe au ni – und wenn ihr tut, wie die Verwirrten«, sagte Mathilde ganz rücksichtslos und sie warf noch eine kleine Schachtel auf den Tisch, in der eine niedliche Brosche lag.

»So,« sagte jetzt sofort die dunkle Narbige, die eben noch geweint hatte – »so? – also, du bleibst nicht, und wenn ich auch noch so verwirrt tu – du« – und sie war ganz nahe an sie herangetreten und ihre Augen fingen an, Hass zu sprühen.

»Kumm mir ni nahnde«, sagte Mathilde gelassen.

»Kumm mir ni nahnde«, fieberte die Dunkle.

»Luss sie – gutt, wenn sie furt ist«, sagte nun die andere.

»Gib unsre Sachen heraus!« schrie jetzt auf einmal die Dunkle, »gib unsre Sachen heraus!« – schrie sie noch einmal und war in sinnloser Erregung zur Tür gerannt, als wenn sie plötzlich noch Hilfe brauchte – und es guckten auch gleich einige Frauen herein, die im Hause gelauscht hatten. Und sie schrie noch einmal, wie Mathilde über dem Korbe gebückt gesessen und überlegt hatte – »gib alles, es ist noch nicht alles! – Hier seht einmal – das – das« – und sie hob Stück für Stück, um es denen draußen zu zeigen und schrie dazu – »seht das – das – das – das alles hat dieses Luder von uns und verachtet uns, dieses Weibsstück.« Und sie nahm das Kleid, das sie den Frauen draußen an der Tür hinhielt, dass sie es befühlen konnten, und dass sie gewichtige Gesichter machten, erstaunt und zustimmend, was der Narbigen noch mehr Mut gab. »Gib die Sachen heraus – alles!« – schrie sie noch einmal wütend Mathilde an, die immer noch sann: »Ich wiss nee.«

»Du weißt nicht. Sie weiß nicht – die Tück'sche weiß nicht, was sie sich nehmen will. Gib auch die Kette!« schrie sie.

»Jeses, die Kette – richtig – hie –« Mathilde wühlte.

»Und den Ring!« schrie die Dunkle.

Mathilde war fast verlegen, so tat es ihr leid, dass sie sich nicht gleich erinnert hatte, und es mischte sich auch ein Gefühl der Verwunderung hinzu, wieviel ihr die Narbigen zuerst gegeben und liebevoll beigestanden, und es war ihr, als wenn etwas Freundliches in ihr aufleuchte, dass sie jetzt von neuem bitterlich zu weinen anfing und ihren Ring abstreifte und hinlegte. Und wie Mathilde noch einmal weinte, wurde es stille. Denn auch den andern war es peinlich, dass die Weiber noch immer hereinsahen, neugierig und dreist, und die Dunkle sagte:

»Es ist alles, – lusst sie in Ruh.«

»Ich will nischt mitnahma vo euch« – weinte Mathilde und sah ihre Sachen an.

»Es ist alles, – lusst sie in Ruh.«

Und die Dunkle begann ruhig zu werden, und die Böhmischen sahen einander an, die eine mit Zorn fast, dass die Dunkle ganz schwieg, und dass die Weiber in der Tür auch sofort sich langsam zu rühren und zu verschwinden begannen. Es war eine Stille eingetreten. Mathilde weinte – der Dienstmann polterte die Treppe empor, und Mathilde sagte noch einmal, indem sie sich die Nase putzte und erschrocken umsah:

»Sagt, ob ich noch was ha'!«

»Es ist alles –« sagte die Dunkle wütend, aber verhalten.

Und Mathilde schloss den Korb und den Schub und blickte sich noch einmal um und sah nur noch, dass die Dunkle sich vor der andern fürchtete und nichts zu sagen, auch keinen verächtlichen Blick mehr nach ihr zu werfen wagte. Und sie half dem Packträger den Korb auf die Schulter heben und griff selbst am Schube an, um ihn die Treppe mit hinunter zu tragen. So zog sie, verfolgt von manchem Auge, um unklarer Gefühle willen, die ihr Hinausfliehen erregte, um Neid, weil sie frei und hart lebte, um Eifersucht, weil sie reinlich und jung und voll Kraft war. Es war Sonntag Morgen, es trieben sich Hemdärmlige lässig auf den Treppen herum, standen im Hausflur und sahen nach ihr, die hinaustrat, von Saleck erwartet.

Zweites Buch
10
Sie wohnt bei frommen Alten

Das Stübel, das sie gemietet hatte, lag ziemlich entfernt von der Fabrik. Sie musste zwanzig Minuten laufen. Es lag in einem Neubau im Nachbardorfe, oben unter Dach. Das Haus war reinlich, und sie empfand ein Vergnügen, dort drin im schmalen Stübel ganz allein zu wohnen. Ein Schauer überlief sie, wenn sie dachte, dass sie nicht gemerkt hatte, mit wem sie es in ihrer alten Wohnung zu tun gehabt. Hier oben in der kleinen Dachwohnung, den Blick frei über die Felder, dass nur die Fabrik von der Ferne noch dämmerte, das gefiel ihr. Und Saleck gefiel es auch. Saleck hatte schon seit Frühling hier in dem kleinen Orte gewohnt. Er wusste, wie gut es tat, wenn man erst noch einsam durch die Felder gehen konnte, unbehelligt von seinesgleichen, sich umblicken konnte weit in der Runde. Nun gar Sommer gewesen, zwischen reifem Korn auf blumigem Raine hinschreiten, wenn die Lerche im Äther sich aufschwingt und ihr Lied jubelt. Er wusste, wie gut es tat, so hinschreiten, ehe man in das große Tor eintritt und das Ungeheuer Fabrik einen aufnimmt, mit all den schweißigen, geschäftigen und ganz nur von liebloser Aufmerksamkeit erfüllten Arbeitsgesichtern. Nun sah sie es und erlebte es an jedem Morgen neu, wenn sie beide hinüberzogen, während herbstliche Nebel in Wiesen, und Schemen um den Fluss spannen. dass sie sich an jedem Spinnengewebe freuten, wie an einem diamantenbesäten Netze. Und in jedem Sonnenstrahl, der blitzend und zückend sich durch die dunklen Tannen stahl, die, ein kleiner Hain auf ihrem Wege, sie einige Minuten begleiteten. Oh – Mathilde hatte früher so etwas gar nicht gesehen. Sie hatte gar nicht gesehen, wie schön die Welt ist. Sie hatte niemals ein Spinnennetz angesehen. »Pfui – an Spinne!« schrieen die Leute im Armenhaus. Sie dachte gar nicht, was für ein Wunderwerk da bereitet war. Wie aus Silber lagen sie in den Tannenzweigen, eins neben dem andern, kleine und große – und in dem tauigen Grase glänzten sie. »Sieh ock«, sagte Saleck und wies auf diese Schleier aus Silberfäden, in denen die blinkenden, blau und rot funkelnden Tautropfen wie Diamanten hingen – dass Mathilde gar nicht üble Lust bekam, wie ein Kind zu spielen, sich selbst, was sie niemals im Leben gedacht hätte, zu schmücken. Aber die Tautropfen fielen nieder, und die feinen Silbernetze waren nicht für ihre derbe Arbeitshand, und sie war fast erschrocken, und dann wurde sie ausgelassen und sprengte das Nasse ihm in seine Augen, dass er auch lachte. So gingen sie.

In der Fabrik waren jetzt die Leute daran gewöhnt, dass sie miteinander kamen. Und wenn sich höhnische Worte und Blicke hervorwagten – es machte ihnen gar nichts, sie waren fleißig, und Werkmeister und Herren achteten sie, weil sie willig waren und still und nicht von der Arbeit aufblickten, um zu verdienen. Mathilde wie immer, denn es war ihre Art, dass sie versank in das, was sie tat, und Saleck, weil er Mathilde liebte und ans Sparen dachte. So war auch er nun ein ganz besonderer Arbeitsmann. Sie gingen und kamen, es war eine gute Zeit für sie, und wohnten drüben in dem kleinen Nachbardorf, sie oben in der Dachwohnung bei ein paar alten Leuten. Und wenn Feierabend kam, und Mathilde sich sauber gewaschen hatte, trat der kleine Huckige bei ihr ein, ohne ein Wort fast, sie wusste es schon. Er saß dann immer in ihrem Zimmerchen, und sie sorgte für ihn. Sie machte auf ihrem kleinen Eisenofen an der Tür die Abendsuppe, und er hatte aus den Läden etwas eingekauft und steckte ihr beim Eintreten unversehens eine Süßigkeit in ihren frischen Mund, während sie emsig ins Brodeln des Wassers oder ins Aufwallen der Suppe hineinstarrte. Es war still und traulich. Sie wehrte sich gleich, weil sie erschrocken war, sie dachte, er wolle sie necken oder sie küssen. Und das litt sie nur selten. Aber eine Süßigkeit, da lachte sie und verzehrte sie mit gutem Gesichte, wobei sie ihm einen Blick zuwandte und lange auf ihm ruhen ließ. Und wie Weihnachten näher kam, hörten sie oben in ihrer Dachstube manchmal Weihnachtsgesänge. Seltsame alte Stimmen kamen aus dem Nebenraum. Sie wohnte bei einem alten Paar, das sie beide kaum kannten. Es waren alte Tischlersleute. Fromme Leute mussten es sein. Mathilde machte sich eine ganz steife, fast unheimliche Vorstellung, wie es Saleck sagte. Sie dachte fast, als wenn sie Scheu haben müsste vor ihnen. »Fromme« – nun ja, fromm war ihr im Leben nicht groß vorgekommen. Der Heintke im Gemeindehause und die Mutter, die sich mit der alten Schwiegermutter ewig zankte, die wussten nichts davon. Auch in der Fabrik kam nichts Frommes weiter vor. Weder unter den Jungen noch Alten, weder unter den Werkmeistern noch unter denen, die als Herren oder als Portier hindurchgingen. Alle dachten nur, wie sorge ich am besten, dass viel gearbeitet und noch mehr verdient wird. Von Frommheit war da gar nicht die Rede. Mathilde hatte eine ganz drückende Vorstellung. Sie dachte schließlich, dass fromm die Leute wären, die wie der Pastor gegen Unsitte und Rohheit sprächen, oder die wie der Kantor mit ernstem Gesicht und vorwurfsvollen Worten schalten, wenn man ein paar Sprüche aus der Bibel nicht wörtlich herbeten, oder gar den Anfang eines Gesangbuchverses nicht finden konnte. So ungefähr fiel es Mathilde ein, wie Saleck sagte, dass die Leute fromm wären, bei denen sie Quartier hatte. Die beiden Alten aber waren wirklich fromm, das konnte man an der stillen Feier hören, die in das Stübel aus der benachbarten Dachwohnung herüberklang, wie Weihnachten sich nahte. Man musste an ganz versunkene selige Mienen denken. Und wenn der dunkle, zitternde Bass verklang und sich die sanfte Stimme der Frau hinzudrängte, da wurden Mathilde fast die Augen nass, so war sie im Augenblick überrascht und hingenommen. Und fast verlegen, wenn es Saleck zufällig gesehen hatte. Fromme Leute. Es war ihr plötzlich ein reines Staunen. –

Und die alte Frau, die klein und behaglich und gütig war, war auch einmal zu ihr hereingekommen, einmal und noch einmal und hatte mit Mathilde freundliche Worte gemacht. Sie hatte sie gelobt, dass es immer ordentlich und still in ihrem Stübel wäre: »Wir sind Alte und haben die Jugend gern,« hatte sie gesagt, »und es freut uns, dass Sie arbeitsam und fleißig sind, und Friede und Stille bei Ihnen wohnt.« Mathilde war ganz verlegen geworden, wie es die Alte sagte, dass sie erst nachträglich sich erinnerte, wie die ergraute Frau im reinlichen Häubchen hinzugesetzt: »Mein Mann kann nur noch auf dem Sofa sitzen, er ist schon fünfundachtzig Jahre alt.« Das hatte Mathilde nie erfahren, dass man sie um der Arbeitsamkeit willen lobte. Sie war ganz verlegen. Sie stand ganz andächtig vor der alten Tischlersfrau, vor der alten Frau Weber, und dachte im stillen auch daran, dass es dieselbe Alte wäre, die immer in den Bass einfiel mit so lauter, zarter, hoher Stimme, dass sie Tränen bekam und konnte gar nicht recht denken, dass solche Andacht und solche Freude unter den grauen Scheiteln und unter den tiefen Runzeln wohnen könnte. Dann war ihr den ganzen Abend weihevoll. Und wie Saleck kam, erzählte sie es ihm fast aufgeregt, und sagte jetzt auch, es sind fromme Leute, wobei sie schon viel mehr begriff, ganz nur voll Liebe es sagte, mit einer sanften Entzückung, die sie gar nicht vorher gekannt hatte, auch alles erzählte und wiederholte, was Frau Weber ihr flüchtig angedeutet: dass Webers Kinder alle in der Ferne wären, dass der Mann nur noch auf dem Sofa sitzen könnte, aber im Leben fleißig und sparsam gelebt und gesund geblieben wäre, bis zum fast fünfundachtzigsten Jahre, wobei sie vor allem nicht vergaß, zu sagen, dass die Alte ihr den hellen Scheitel gestreichelt, gesagt hätte, dass sie die Jugend liebte, und dass sie sich gar freuten, beide – auch der Alte –, wie stille, arbeitsame Leute sie, Mathilde und der Krumme wären. Ein seltsames Bewegen und Erregen war plötzlich in Mathilde gekommen, als wenn sie auf einmal wie einen Vater und eine Mutter fühlte, die sie gar nicht gekannt, und die sie heimlich liebevoll, fast durch die Wände sähen und ihr zuhorchten. Und sie begriff nun noch mehr, wenn sie fromm sagte, wenn sie von frommen Leuten sprach und hatte ihren Pastor, der immer Worte und Regeln gab, die man lernen musste, und gar ihren Lehrer, der mit dem Rohrstock in der Hand erwartete, dass man sie hersagen und nicht stottern oder stammeln müsste, ganz vergessen.

11
Das Weihnachtsfest

Nun war Weihnachten gekommen. Nun waren allerhand Verkaufsbuden in der Stadt am Markt aufgeschlagen, woran auch Mathilde neugierig und staunend stand. Nun ließ sie nicht locker abends, wenn sie aus der Fabrik entlassen waren, Saleck am Arme festzuhalten, bis er mit ihr durch die Straßen ging, die wie ein Fest-Haus erleuchtet waren, und im Schneeflockenfall selbst Strahlen und Glanz warfen. Nun stand sie und hatte großes, kindliches Staunen in ihren hellen Augen, wenn sie die blitzenden Kleinodien unten im Schaufenster des Juweliers anstarrte, oder vor den zarten Schleierroben stand, die der Konfektionär über Stöcke gezogen und in voller Figur ins Schaufenster gestellt hatte, von allen Seiten beleuchtet und glitzernd wie mit Tau besät. Sie lachte und freute sich, weil ihr auch die Spinnennetze einfielen, die in freier Wiese und am Waldrande gelegen – und »noch tausendmal schiener waren«, sagte sie. Und dann standen sie auch vor dem billigen Laden, und Saleck horchte, ob sich Mathilde nicht irgendwie verraten wollte. Denn er war ganz nur sie in allem. Und er wollte sie jetzt aushorchen, um ihr daheim im Stübel ein Tischchen zu decken.

»Hahaha, 'n Sonnenschirm wie den« – es war tiefer Winter. Wie Mathilde grade auf den Sonnenschirm kam, begriff er nicht. Es mochte ihr dünken, dass es besonders wertvolle Leute wären, die Zeit hatten, die Sonne abzuhalten, dass sie nicht die Haut zu sehr brenne. Sie dachte wohl auch an den feinen Wagen des Direktors, in dem junge Fräuleins in losen, heiteren Gewändern und mit seidenen, bunten Spitzenschirmen zurückgelehnt aus dem Parktor ausgefahren waren. Einen Sonnenschirm schien sie zu wollen, und Saleck war heimlich glücklich, dass er es wusste. Er nahm sich extra eine Freistunde vom Portier und kaufte ihn heimlich und ließ ihn dann in sein Stübel schicken. Ganz selbstbewusst sagte er: »Wenn ich noch nicht daheim bin, soll ihn die Wirtin in Empfang nehmen.« So ging es einige Male, wenn sie nun ihren Feierabend unter den Schaufensterschimmern in der Stadt umgingen, Schritt um Schritt in der Menge, gar nicht aus dem Staunen kommend, da und dort auch einen kindlichen Freudenruf ausstoßend.

Und heut war der Freitag – vor dem Feste –, der letzte Tag, denn auf Freitag fiel der heilige Abend. Die Fabrikherren hatten allen einen halben Tag Arbeit geschenkt und hatten schon um Mittag Schluss gemacht. Alles strömte heute aus den Toren heraus mit einem ganz anderen Gesichte. Mein Gott – wie ein heiteres Gefühl doch soviel Glück und Leuchten in die Augen und Wangen der Menschen bringen kann. Man sah fast gar keine Sorge mehr, gar keine Rohheit in jungen Gesichtern, die sonst frech und höhnisch miteinander sich trafen und mit gemeinen Worten nach einander warfen; gar kein Scheelsehen, wenn jetzt Mathilde froh und frei herbeischritt, und keinen Spottblick auf den Huckigen, der neben ihr ging, fast mit kürzeren Schritten. Gar nichts merkte man, dass die Arbeit eintönig und ermüdend gewesen, aus der sie kamen, als wenn alle eingeladen wären, festlich zu sein – und Freund und Bruder wären –, und nichts sich befehdete und beleidigte in ihren Seelen. Selbst der Portier gab allen einen freundlichen Gruß. Die Werkmeister standen schmunzelnd noch im Hof und reichten gar alten Arbeitern die Zigarren zum Anzünden und riefen sich Glücksworte zu, dass das Fest sollte ein Freudenfest sein. – Und der Herr kam auch und konnte nicht genug den Hut lüften vor jedermann, der vorbeischritt, und wie der Portier ihm zusprang, tat er es auch, als wenn er sagen wollte: »Oh, wie gerne – wie schön ist es« – und hatte ein freundliches Lachen im Gesicht, das jener ebenso erwiderte. Es war wirklich wie Weihnachten.

Mathilde war schon am Mittag heimgekommen und hatte Saleck ausdrücklich gesagt, dass er erst gegen Abend kommen dürfte. Sie wollte sich einmal gründlich reinigen. Sich und ihre Sachen ins Reine bringen, wenn nun Feiertage kämen. Und auch das Stübel reinigen, dass sie dann abends bei dem brodelnden Topfe sitzen könnten, und die gewaschene Ofenbank und der weiße Tisch, alles um sie auch reden sollte: heut ist ein Fest. An weiteres hatte sie nicht gedacht. dass dann Saleck kommen und ihr alles mögliche bringen würde, »oh, nee, mit keener Silbe!« – Zu wünschen war sie wohl kaum gewöhnt. Wenn sie ein Erstaunen hatte laut werden lassen, war es noch lange kein Wunsch gewesen – gar noch einer, der sich erfüllen sollte. Sie lachte ganz aus dem Grunde im Wesen, wie sie auch aus dem Wesensgrunde weinen konnte. Es war fast ein Leiden ihr Lachen, wie sie Saleck einen Augenblick, ja fast schließlich einen ganz unaushaltbaren Augenblick hinausgeschickt, um ihr Tischchen aufzubauen, worum er Reiser gelegt, und sie dann erstaunt eintrat –: als wenn sie einen Augenblick in ein Paradies hineinsähe, wo alles zu liegen schien, was ihr Herz begehren könnte – ein feiner Schirm sogar, ein Schirm und ein paar ganz feine Schlafschuhe, bunt innerlich und weich, »für Füßchen«, sagte sie ein über das andere Mal ganz ernst. – Und sie lachte, wie sie es anschaute, ohne es zu berühren, ganz erschrocken, fast so krampfhaft auf einmal, dass es ihr wie ein Bleichgewordensein plötzlich einen Strom von Tränen hervorpresste, solche Wundertränen, solche Freudentränen. Oh, sie liebte Saleck – sie liebte ihn. Solche Tränen waren ihr nie aus den Augen gesprungen. Und sie stand und starrte und umarmte ihn leise, fast wusste er nicht mehr, ob es im Leide war. Und sie trocknete sich die Tränen schnell und ging weg an den Herd und wagte nichts zu nehmen – bis ihre Bewegung langsam schwand. Dann erst schalt sie ihn leise und war zärtlich und sah alles nacheinander an und begriff noch immer wieder nicht, dass jemand ihr das brachte.

Und wie sie so stumm voreinander saßen, im Glück, kam Frau Weber, reinlich und sorglich gekleidet, und fragte, ob sie nicht hinüberkommen möchten, beide – denn Vater Weber hätte es gern, sie wären im Leben fromm gewesen und wollten heute mit den Jungen Weihnacht feiern. Da erhoben sie sich, so andächtig und feierlich wie nie im Leben. Es war fast ein Zittern in ihrer Brust, dass Mathilde sich hinter Saleck drückte und nicht recht atmen konnte, wie sie eintraten – wo der Alte – ein mächtiges graues Haupt noch voll von Haaren und einem grauen Kranz voll straffer Borsten um Wangen und Kehle, sonst runzlich – aber in seinen Augen auch jene Feierfreude, die in allen rätselhaft durchs ganze Land glänzte – wo der alte Mann, der sich nicht mehr erheben konnte, ihnen entgegenlachte, sie einzuladen.

»Kommen Sie«, sagte er. Mathilde trat ganz schüchtern ein – und Saleck sagte nur steif: »Schön guten Abend – stören wir nicht?«

»Oh«, sagte der Alte lachend – »ich bin fast fünfundachtzig, aber es ist ja Weihnachten – es ist ja heiliger Abend.«

Und Frau Weber rückte dem Alten die Lampe nahe vors Gesicht, der gleich ein großes Glas vors Auge genommen und ernst ins Bibelbuch hineingesehen – so dass Saleck und Mathilde auch ohne weitere Worte begriffen hatten, worum es sich handelte; und während sie zögernd Platz genommen, und Frau Weber einen kleinen Lichterbaum entzündete, der auf dem Schube zu strahlen begann, klangen des alten Weber Worte laut und mit zitternder Freude:

»Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot vom Kaiser Augustus ausging, dass alle Wett geschätzet würde. Und diese Schätzung war die allererste, und geschah zu der Zeit, Cyrenius Landpfleger in Syrien war. Und Jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seiner Stadt. Da machte sich auch auf Joseph aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum, dass er von dem Hause und Geschlechte Davids war, auf dass er sich schätzen ließe mit Maria, seiner Verlobten. Die war schwanger. Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn, und wickelte ihn in Windeln, und legte ihn in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge. Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden und hielten ihre Nachtwachen bei ihrer Herde. Und siehe, des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie, und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht, siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volke widerfahren wird; denn euch ist heute ein Heiland geboren, welches ist Christus der Herr in der Stadt Davids. Und dies ist das Zeichen für euch, ihr werdet finden ein Kind in Windeln gewickelt, und in einer Krippe liegend. Und aIsobald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott, und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen.«

Mathilde bebte. Sie wusste gar nicht, dass sie jemals diese Geschichte gehört hatte – solch ein Wunderbares klang eindringlich darin, solch eine Kraft lag in den Gesichtern, wie da die Hirten schlafen im weiten, einsamen Felde unter ihrer schlafenden Herde. Und aus der Nacht und dem Dunkel ein einziger Strahl herniederbricht zu den wenigen Wächtern, und ein Engel durch die Wolken licht herniedersteigt, der ihnen, den armen Hirten, verkündend sagt: »Fürchtet euch nicht. Ich verkündige euch große Freude.« Und Mathilde war es, als ob sie alles um sich vergessen hätte, und ihre Seele befreit würde von aller Furcht. Eine solche Hoheit umfloss sie aus jenen zitternden Freudenworten, die im Raume klangen, wo nur Frau Weber mit gefalteten Händen saß, wie mit weiten Augen in Licht sehend, und Saleck saß, der jede Silbe hastig von des alten mächtigen Tischlers Lippen sog –, der tief und voll zu reden fortfuhr. Er hatte jetzt die Bibel beiseite geschoben und begann, freie Worte zu machen, die klangen, als wenn sie von weit herkämen und nicht allein aus seinem Munde und Herzen, aus Tausenden und Millionen – durch alle Zeiten der Menschheit hindurch – und er sagte – immer noch, als wenn ein Funkeln Glückes und Staunens und seliger Dank aus seinen Augen und Mund empor ging, obwohl gar kein Lächeln seine Züge umspielte: »Das ist das Wunder, dass Christus ein Christkind ward. – Wie wundersam, dass Christus ein Kind ward, im Stalle geboren, und ein Stern aus der Höhe darüber leuchtete. Die Kindschaft Christi ist das wahre Wunder – und ewig auch daraus die Verheißung, dass wir zu Kindern werden müssen, um zu Gott zurückzukommen, dass ewig Gott zum Kinde wird. Alle Verheißung liegt im Kinde. Die Anbetung des Kindes: welche Schrecken erfassen mich, wenn ich an eine Familie denke, die in den Öden des Lebens hoffnungslos und heimatlos einhergeht, gescheucht und verarmt, zur Herberge in einem Stalle, und die nun anbetend kniet vor einem Kinde, über dem ein Stern aus der Höhe leuchtet. Es ist ein Fluch, wenn wir hart werden, starr werden, und wenn wir nicht immer wieder einmal werden wie die Kinder...« Und er wiederholte es, und alle empfanden das Wunder, dass wir noch immer an der Krippe stehen, wo ein armes Kind aus der Wiege blickt, die ewige Hoffnung. Und Mathilde begriff es ganz, was sie niemals begriffen. Es durchschauerte sie. Und Saleck dachte an Mathilde und sah, wie sie dasaß, als wenn tausendmal der Himmel geöffnet wäre und Hoffnungen, die sie nie gesehen, sich aufgetan. Ihr Herz war zum Springen. Sie lauschte demütig, und ihr Herz war zum Springen; und sah den Alten an und sog auch wie Saleck seine Worte vom Munde, – bis er schwieg – und alle lange schwiegen. Und »Stille Nacht« erklang es aus den verwelkten Lippen, worein auch wieder die zitternde, hohe Stimme der Alten einfiel –, fromm und zufrieden, dass selbst Saleck ganz erschüttert einzustimmen wagte, und Mathilde bebend sang, ohne noch zu weinen – und dann beide sich demütig, wie vor einem Vater und einer Mutter beugten und dankten, mit fast erstickten Worten.

Auch in Mathildes Träume klang es nach, dass sie im Traume so inbrünstig weinte vor Staunen und Freude, bis sie von ihren Tränen erwachte und – noch immer die Musik der himmlischen Heerscharen und die Verkündigung an die armen, einsamen Hirten im Grunde – froh und jubelnd ins Dunkle, Einsame emporsah. Denn da in der Tiefe auch des Armen leben alle Verkündigungen.

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9783955013622
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