Читать книгу: «Geliebter Wächter 2: Wolfsherz», страница 3

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Kapitel 4

Es war der Geruch, der ihn letztlich aus der tiefen Schwärze zog. Ein Geruch, der ihm eigentlich fremd war und doch eine zutiefst vertraute Note transportierte, die in seine Nase stieg, um all seine Sinne zu wecken. Das erste, was er fühlte, war Sehnsucht und Traurigkeit, die ihn so heftig wie ein Wirbelsturm überkam und ihn stöhnen ließ. Für einen Moment kam er sich wie in der Zeit zurückversetzt vor. Dieser Geruch… er war so vertraut und löste das höchste allen Sehnens in ihm aus. Sein Herz war hin- und hergerissen zwischen freudiger Aufregung und schmerzhaftem Zerreißen.

Er spürte, wie sich sein Körper von selbst auf den Rücken drehte, der Boden war hart und seine Kleidung fühlte sich nass und klebrig an. Blinzelnd versuchte er, die Augen zu öffnen, warmer Sonnenschein stach ihm in die Pupillen und seine schwarzen Wimpern waren verklebt. Etwas lief ihm in die Augen und er schloss sie wieder schmerzvoll. Stöhnend rieb er mit Daumen und Zeigefinger die brennende Flüssigkeit von seinen Lidern.

Als nächstes nahm er neben dem Geruch auch Geräusche wahr. Ein pfeifender Wind, wie er nur auf einem Berggipfel wütend zischen konnte, und leises Stimmengewirr, das nach und nach immer lauter wurde, weil er immer mehr Bewusstsein erlangte.

Ein Schatten fiel über ihn und er zwang die Augen auf, während er in seinem langsam erwachenden Verstand nach Erinnerungen wühlte.

Das Gesicht, das über ihm schwebte, klärte sich nach einigem Blinzeln. Und es war ihm nicht fremd, ganz und gar nicht. Der andere legte den Kopf schief und lächelte zurückhaltend, als sei er ein verängstigtes Kind, das er nicht verschrecken wollte.

»Ich muss tot sein«, sagte Desiderius rau und streckte seine Hand nach dem Gesicht aus, um es sanft zu berühren. Beinahe wäre er zusammengezuckt, als er die lebendige Haut unter seinen Fingerspitzen spüren konnte. Fassungslos strich er über die Wange zu dem warmen Mund, über den lebendiger Atem floss. Das konnte nicht wirklich sein!

»Du bist nicht tot«, antwortete Cohen, der quick lebendig über ihm hockte und das Gesicht unter einem schwarzen Umhang vor dem hellen Tageslicht schützte. Nun strich er ihm mit zwei Fingern das nasse, klebrige Haar aus der Stirn. »Aber du wurdest gerade buchstäblich ausgekotzt und bist etwas … vollgesabbert. Kein Wunder, dass du durcheinander bist.«

Desiderius hörte nicht die Worte aus Cohens Mund, er starrte ihn einfach an und versuchte zu begreifen, dass er nicht nur einen sehr intensiven Traum hatte.

Das Letzte, woran er sich erinnerte, war das Maul des Drachen, danach war es sehr schwarz geworden und durch den schwefelhaltigen Atem im Mund des Tieres hatte er schnell das Bewusstsein verloren.

Und im nächsten Moment öffnete er die Augen und sah Cohens Gesicht über sich schweben. So, wie er es kannte, eine verboten süße Mischung aus Jugend und markanter Männlichkeit.

»Du … du … lebst?«, raunte er und sperrte den Mund auf.

Cohens Mimik nahm etwas Bedauerndes an. »Nicht ganz. Aber das ist eine lange Geschichte, ich …«

Weiter kam er nicht, Desiderius hatte bereits sein Gesicht gepackt und ihn zu seinem Mund herabgezogen. Ihre Lippen lagen übereinander und Desiderius saugte intensiv an Cohens bittersüßem Mund, Tränen brannten in seinen Augen, Tränen der ungläubigen Freude, ebenso wurde ihm der Hals verräterisch eng.

Nur am Rande bekam er mit, dass Cohens Kuss nur zurückhaltend war, regelrecht notgedrungen. Seine Lippen waren hart und wollten sich nicht so recht verführen lassen. Doch das war Desiderius im Moment gänzlich gleich. Er küsste Cohen voller Inbrunst und konnte ein überschwängliches Lachen nicht zurückhalten, wobei sein Verstand noch immer nicht begreifen konnte, wie verflucht noch mal Cohen hier sein konnte. Bei ihm. Warm und lebendig und …

Verdammt, er würde sicher gleich aufwachen und feststellen, dass er nur geträumt hatte. Deshalb hielt er Cohens Mund umso entschlossener fest auf seinem.

Es war kein Kuss der Leidenschaft, sondern ein Kuss der puren, fassungslosen Freude, die ihm auch letztlich ein paar Tränen bescherte.

Er wollte nie wieder aus diesem schönen Traum aufwachen. Nie wieder.

Doch da legte ihm Cohen eine Hand auf die Brust und drückte ihn ziemlich nachdrücklich auf den Boden, um sich von ihm lösen zu können. Er keuchte, als hätte ihn eine heftige Erregung ergriffen und atmete daraufhin schwer. »Langsam, ich muss vorsichtig mit … sterblichem Kontakt umgehen.«

Verwirrt blinzelte Desiderius zu ihm auf, doch als Cohens Gesicht nicht wie ein Traumgebilde einfach verschwand, konnte nichts seine Freude trüben.

»Es ist kein Traum«, flüsterte er rau und lachte dann ziemlich dümmlich auf, sodass Cohen über ihn schmunzeln musste. Verdammt, dieses schöne, schüchterne Schmunzeln, das er so sehr vermisst hatte. »Du lebst! Das ist kein Traum, du bist wirklich hier!« Desiderius wollte Cohens Umhang lüften, aber dieser hinderte ihn sofort daran und drückte ihm die Hände auf die Brust. Desiderius machte sich frei und griff stattdessen wieder nach Cohens Gesicht, musste es in seine Finger nehmen, es fühlen, es begutachten und streicheln. Cohen ließ ihn mit einem nachsichtigen Blick gewähren.

Da fiel es ihm auf und seine Mimik verzog sich zu einem tiefen Grübeln. »Was ist damit passiert?«, fragte er und tippte unter Cohens verbliebenes Auge. Er hatte dieses große, rehbraune Auge so sehr geliebt, dass es ihm jetzt regelrecht einen Stich versetzte, weil es blutrot schimmerte.

Etwas stimmte hier nicht. Und zwar gewaltig.

Cohen senkte den Blick und legte eine Hand um Desiderius` Arm, um sich aus dessen Griff zu befreien. »Eine lange, nicht ganz so amüsante Geschichte.«

Desiderius brauchte keine Erklärung, er wusste, was dieses Auge bedeutete, und als es ihm klar wurde, konnte er es auch spüren. Sein göttlicher Sinn verriet ihm alles, was er wissen musste.

Mit steinharter Miene presste er durch die Lippen: »Du bist ein Dämon!«

Cohen sah ihn nicht an, sein Mund war ein schmaler, zusammengepetzter Strich, während er lediglich bejahend nickte.

Desiderius schlug die Faust in den Boden und versuchte, sich aufzurichten. »Wo ist er?« Er hatte nur noch einen Gedanken. »Wo ist der Mistkerl, ich bring ihn um! Ich bring ihn um, das schwöre ich, dieses Mal bring ich ihn um!«

Etwas stieß ihm hart gegen die Brust und katapultierte ihn wieder auf den Rücken. Verwundert blinzelte er, als Cohen ihn entschlossen ansah.

»Das wirst du nicht!«, knurrte sein einstmals Geliebter.

Desiderius schnaubte. »Ich kann mir denken, wem du dieses Dasein verdankst…«

»Ich wäre jetzt nicht mehr hier, wäre ich kein Dämon«, verkündete Cohen sehr ernst und brachte Desiderius damit zum Schweigen. »Ich wäre nirgendwo mehr. Es ist nicht das, was ich mir nach meinem Tod vorgestellt hätte, aber es ist bestimmt nicht so, wie du denkst. Keine Folter machte mich zum Dämon, sondern ein großes Opfer, für das ich sehr dankbar bin. Bilde dir kein vorschnelles Urteil, Desiderius M`Shier, das war schon immer deine größte Schwäche.«

Noch immer argwöhnisch betrachtete er Cohens Gesicht, doch er zügelte sein Temperament, denn er konnte im Moment ohnehin noch nicht so recht begreifen, wie das alles möglich sein konnte.

Cohen war ja nicht erst seit gestern fort, er war sehr, sehr lange tot gewesen, und sie hatten viele Jahre gehabt, um sich damit abzufinden. Doch jetzt, nach all der Zeit, saß er wieder vor ihm und starrte ganz lebendig auf ihn herab. Zwar als Dämon, aber dennoch war er Cohen. Sein Cohen.

Er war nur erleichtert, dass dessen Seele nicht Jahre lang gefoltert worden war, um dann als geschwärztes, dunkles Wesen wiedergeboren zu werden. Er hätte es nicht ertragen, zu wissen, dass Cohen all die Jahre gelitten hatte, während er die Zeit voller Liebe und Frieden genossen hatte.

Ein Räuspern erklang hinter Cohen, der sich sofort über die Schulter sah. Und da war er, der Übeltäter, dem Cohen sein neues Leben verdankte, dachte Desiderius zynisch, während er zwischen den beiden hin und her sah.

»Ich trübe die Wiedersehensfreude nur ungern, aber…«

»Leck mich.«

Bellzazar grinste kühl. »Ich liebe dich auch, Bruder. Aber können wir die Feier dieser Wiedergeburt und euer unverhofftes Wiedersehen auf einen anderen Zeitpunkt verlegen?«, fragte er regelrecht vor Sarkasmus triefend. »Sagen wir, sobald wir dringendere Probleme, wie den drohenden Weltuntergang, besprochen haben, und an einem weniger gefährlichen Ort sind, vorzugsweise in der netten Stadt da unten mit den hohen Mauern und bemannten Türmen, die dein Sprössling so vortrefflich verwüstet hat, ja?« Er deutete mit dem Daumen hinter sich und knirschte mit den Zähnen. »Du solltest dir besser anhören, was wir alle zu erzählen haben, Bruder, denn ob es dir gefällt oder nicht, wir stecken alle bis zum Hals in Scheiße. Und in keiner normalen, braunen Scheiße, sondern in grüner, warmer Neugeborenenkacke.« Er ließ den Arm fallen und sah Cohen ins Gesicht, während er matt anfügte: »Danach könnt ihr zwei euch immer noch euer Leid klagen und euch heulend in die Arme fallen, um euch abzulecken.«

Desiderius stutzte, er hatte seinen Bruder ja schon in allen möglichen Momenten erlebt, aber er war immer aalglatt gewesen, doch nun schlich sich so etwas wie Verbitterung in seine Züge und Worte, die ihm ganz gewiss nicht eigen waren. Argwöhnisch verengte er die Augen und durchbohrte Bellzazar mit Blicken. Ein ganz schlechtes Gefühl überkam ihn. Ganz, ganz schlecht.

Er konnte aber nicht weiter darüber nachdenken, denn als Cohen aufstand und an Bellzazars Seite trat – sie sahen sich ins Gesicht, und Desiderius konnte den Blick seines Bruders nicht recht deuten – da schlug ihm plötzlich der Wind ins Gesicht und mit ihm der Geruch, der ihm zugleich fremd und vertraut vorkam.

Mit einem Ruck saß er aufrecht und durchlebte einen Sturm der Gefühle. Alles andere war vergessen. Da fiel es ihm wieder ein. Dieser Geruch, das war nicht Cohen gewesen, es war ein Geruch, den er viel länger nicht wahrgenommen hatte. Männlich, würzig, herb – Freiheit und unbändige Liebe.

Er blinzelte zu der Gruppe Männer, die sich an einer alten Wachturmruine tummelte. Es waren viele, aber er beachtete nur das eine Paar Augen, das genauso intensiv und gefangen zu ihm herüberblickte, wie er zur Ruine starrte.

Ich weiß, wer du bist, sagte sein Blick. Natürlich wusste er es. Sein Herz wusste es sofort, als er ihn in Menschengestalt erblickte, obwohl er sein Antlitz unter einem Umhang und einer weißen Halbmaske verbarg. Er wusste, wer er war, ohne seinen Namen zu kennen. Sie kannten sich, ohne sich je begegnet zu sein.

Wie in Trance kam Desiderius auf die Beine, war sich überhaupt nicht richtig bewusst, dass er sich bewegte, auf einmal machte sich sein Körper selbstständig und war wie befreit von irdischer Schwere. Auch der andere rührte sich, setzte sich von den anderen ab, und als ob sie sich ein Zeichen gegeben hätten, gingen sie in den Wald, der vertraute Fremde mit den honigfarbenen Augen lief voran, Desiderius starrte auf dessen breiten, seltsam vertrauten Rücken, während sie die Gruppe verließen.

»Ich weiß, wer du bist«, raunte Desiderius, als sie vom lichten Bergwald am Rande der Ruine verschluckt wurden.

Der Fremde drehte sich nicht um, blieb aber ebenfalls zwischen zwei Bäumen stehen, das Sonnenlicht malte helle Punkte und Streifen auf seinen Umhang und Schultern. »Und ich weiß, wer Ihr seid«, erwiderte er mit einer Stimme, die Desiderius eine Gänsehaut eintrug.

Es war Rahffs dunkle, melodische Stimme.

Desiderius schüttelte ungläubig den Kopf. »Wie … kann das sein? Ich meine, ich weiß, dass es wahr ist und wie … es dazu kam. Aber … wie … wie kann es wahr sein? All die Jahre… dachte ich …«

»Suto wäre mit Eurem Drachenei auf See ertrunken?« Nun drehte der Fremde sich doch um, es lag keinerlei Groll noch Vorwurf in seiner dunklen Stimme. Er zuckte mit den Schultern. »Ja, ich weiß. Der alte Vogel hat mir alles erzählt. Ich weiß, dass einer meiner Väter nichts von mir wusste … weil sich niemand sicher war, wie dieser damit umgeht.« Geradezu forschend betrachtete er ihn, eine gewisse Vorsicht lag in seinen ungewöhnlichen Augen.

Desiderius war es, als würde der Boden unter seinen Füßen wegbrechen. Er schwankte etwas und stützte einen Arm gegen einen Baum. »Ich war nie sicher, ob er wirklich ein Ei … und ich war jung und …« Er geriet bei seiner Erklärung ins Stocken, denn er wusste, dass sie fadenscheinig wirken würde, auch wenn sie der Wahrheit entsprach. Manchmal war jedes Wort, das falsche Wort. Er sah auf und den Fremden an, und alles, was er in diesem Moment noch wusste, war: »Du bist ein Teil von mir.«

Der Fremde sah ihn einfach an, ruhig und unbewegt, vollkommen im Reinen mit sich und der Welt.

Desiderius schaute ihn durchdringend an. »Lüfte deine Maske.«

Für einen Moment rührte sich nichts, nicht einmal ein Muskel in ihren Zügen oder der Wind in ihrem Haar. Doch dann atmete der Fremde vernehmbar aus, senkte den Kopf und hob seine Hände. Erst zog er die Kapuze ab, dann löste er die Maske.

Desiderius atmete bebend aus, als er das gewellte, schulterlange Haar erblickte, das kantige Kinn und den dichten Bartschatten. Er schüttelte den Kopf und musste blinzeln. »Du siehst wie dein Vater aus.«

Das war nicht gelogen, er war Rahffs Ebenbild, von Kopf bis Fuß. Desiderius schmerzte das Herz in der Brust so sehr, dass er beinahe in die Knie gegangen wäre. Er holte vernehmbar Luft, doch ihm war, als füllte sie nicht seine Lungen.

Ein trauriges Lächeln geisterte über die Lippen des Fremden, dann sah er Desiderius wieder an. »Ich hatte nicht nur einen Vater«, erwiderte er bestimmt und sah Desiderius bedeutsam an.

*~*~*~*

»Sollten wir ihnen nicht nachgehen?« Cohen stützte die Schulter an den Baum, an dem Bellzazar mit dem Rücken lehnte, und starrte auf das kleine Waldpfädchen, auf dem Desiderius und dieser Fremde verschwunden waren. Er machte sich Sorgen.

Doch Bellzazar schüttelte den Kopf. »Gib ihnen etwas Zeit.«

Cohen hob den Blick und betrachtete Bellzazars angespanntes Profil. Irgendetwas in seinem Inneren wollte die Hand heben und es berühren, aber er hielt sich zurück. »Warum hast du nie etwas gesagt?«, fragte er stattdessen. »Über diesen Fremden. Über …«

»Ich wusste es bis vor Kurzem nicht«, gestand Bellzazar, was ihm sichtlich unbehaglich war. »Er wurde von Mächten geschützt, die älter sind als ich. Von Waldgeistern, die schon lange vor mir existierten. Ich wusste von diesem Vogel, diesem Hermaphroditen, dem Desiderius und Rahff begegnet waren, aber ich dachte, genau wie sie, er sei samt Ei auf hoher See ertrunken, als er versuchte, in seine Heimat zu fliehen.« Er drehte den Kopf und sah Cohen an, wobei seine schwarzen Iriden blau zu schimmern anfingen. »Korah hat ihn entdeckt, als er sich unerlaubt auf Expedition in die sterbliche Welt begab.«

Cohen dachte einen Moment darüber nach und sah wieder hinüber zu dem Wald, wo Desiderius gerade vor eine weitere schockierende Neuigkeit gestellt wurde. Erst Cohens mehr oder weniger Wiederauferstehung, dann ein verloren geglaubter Sohn, der aus einem Ei geschlüpft war. Wäre Desiderius nicht selbst ein Halbgott und hätte sich nicht einst in einen Drachen verwandelt, wäre das alles gewiss zu viel für seinen Verstand gewesen. Zu viel auf einmal, um es wirklich zu begreifen. Für Cohen war es fast zu viel, dabei betraf es ihn nicht.

Und es warteten noch weitere schicksalshafte Botschaften auf die Herrscher des Westens. Cohens Blick wanderte hinüber zur Ruine, wo ein großer, drahtiger Mann mit dunkler Haut, angespitzten Ohren und buttergelben, mandelförmigen Augen stand, an dessen Arm sich ein verunsicherter Bursche klammerte, der Wexmells unehelicher Sohn hätte sein können. Nur einige Schritte entfernt saßen Levi und zu seinen Füßen der gefesselte Wächter Place gemeinsam mit Korah – Bellzazars Schöpfung und irgendwie somit Desiderius` unverhoffter Neffe – der sich erhob, sobald er Cohens Blick bemerkte, und langsam auf sie zukam.

Die Welt war ein einziges Chaos, dachte er und schüttelte den Kopf, ein Scherbenhaufen, den kaum jemand vermochte, so zusammenzusetzen, dass er einen klaren Sinn ergab.

Es geschah zu viel auf einmal, dachte er. Und doch schien es richtig, hier zu sein. Dass sie alle hier waren, genau jetzt, hier und heute zu diesem Zeitpunkt. Alles lief hier zusammen, alle losen Fäden schienen endlich zu einem Punkt verknotet. Doch … wohin würde das alles führen?

Zwei Finger legten sich um Cohens Kinn und zogen ihn zu Bellzazars Gesicht herum. Sie waren sich so nahe, dass sich fast ihre Lippen berührten, was Cohen beinahe einen wohligen Seufzer entlockte, doch er hielt sich zurück.

»He«, Bellzazar lächelte schief, »nicht wieder so viel nachdenken. Wir lassen einfach alles auf uns zukommen. Derius wird’s schon verkraften.« Doch in seinen Augen stand Zweifel.

Cohen erwiderte: »Du solltest es ihm sagen. Dass du es nicht wusstest, meine ich. Du solltest wirklich mit ihm reden, bevor er dir die Schuld gibt.«

Bellzazar wandte den Blick ab und ließ Cohens Kinn los, was dieser sehr bedauerte, und durch die plötzliche fehlende Berührung wäre er beinahe gegen Bellzazar gefallen, weil er das Kinn auf dessen Hand gestützt hatte.

»Das ist erstmal nicht wichtig«, blockte Bellzazar ab, »was er von mir hält, ist nie wichtig, er muss einfach nur verstehen. Und wenn es ihm leichter fällt, jemandem die Schuld für irgendetwas zu geben, dann ist das eben so. Lieber soll er mich hassen, weil er denkt, ich hätte ihm etwas verschwiegen, als in Selbstmitleid zu baden, weil er schuld daran ist, dass er nie nach diesem Ei gesucht hat.«

Cohen verzog die Lippen wehmütig und legte Bellzazar eine Hand auf den steinharten, muskulösen Oberarm. »Unverbesserlicher Märtyrer«, murmelte er und legte den Kopf auf Bellzazars Schulter.

Korah kam mit eingezogenem, demütig hängendem Kopf auf sie zu geschlurft und hielt die Arme vor der flachen, knabenhaften Brust verschränkt.

»Es tut mir leid«, Reue ließ seine schöne Alabasterhaut grau erscheinen, »es ist meine Schuld, dass er sich in einen Drachen verwandelte, er wollte seinen Schützling retten. Wenn ich ihn nicht darauf aufmerksam gemacht hätte, dann …«

»Schon gut«, unterbrach Bellzazar ihn scheinbar genervt und verdrehte die Augen. »Ist ja nichts passiert. Und genau genommen ist das hier doch besser als erwartet. So können wir Desiderius alles schonend beibringen und ihn von der Dringlichkeit unserer Probleme überzeugen.« Dabei sah er hinüber zu Place.

Korah seufzte erleichtert darüber, dass Bellzazar ihm nicht böse war, und trat auf diesen zu. Er lehnte sich aufdringlich an Bellzazars freie Seite und schmiegte die Wange an seine andere Schulter.

Cohen musste Schmunzeln, als Bellzazar es mit einem Grollen zuließ und dann sogar die Nase im schwarzen Haar seiner Schöpfung vergrub.

Cohen wurde ganz warm ums Herz, während er die beiden betrachtete. Bis er Bellzazars tief grübelnden Blick bemerkte.

»Was ist los?«, hakte er leise nach, obwohl er eine Ahnung hatte, und hob den Kopf von Bellzazars Schulter.

Sein Fürst zuckte nur mit den Schultern. »Nichts, was soll sein? Ich denke über unsere Möglichkeiten nach, diese göttliche Dirne kalt zu machen.«

Cohen runzelte die Stirn. »Nein, das ist es nicht«, sagte er einfühlsam, »du wirkst angefressen.«

Bellzazar wandte ihm das Gesicht zu. »Angefressen?«

»Ja«, Cohen zuckte mit den Achseln, »verstimmt, miesmutig, wütend…«

»Ich weiß, was angefressen bedeutet«, knirschte er und starrte mit eng verschränkten Armen vor sich hin. »Es ist nichts!«

Dieser Sturkopf. Cohen schnaubte und schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, dass du gesehen hast, wie er mich küsste.« Er wusste doch, was los war, Bellzazar konnte ihm nichts vormachen.

Aber er zuckte nur mit den Schultern. »Ist mir gleich. Ich wusste, dass er das tun würde.« Nun sah er Cohen ins Gesicht und lächelte kalt und aufgesetzt. »Mir war bewusst, dass unsere Liaison nicht von Dauer sein konnte, vor allem seit er dich wieder sehen kann.«

Cohen legte bedauernd den Kopf schief. »Bell…«

»Nein, kein Mitleid«, unterbrach Bellzazar ihn und wirkte gleichgültig, »es ist, wie es ist. Du hast Nähe gebraucht, um dich an etwas klammern zu können, und ich war verfügbar. Jetzt kannst du dich wieder an die unglückliche Liebe zu meinem Bruder klammern.« Er wandte den Blick mit einer endgültigen Geste ab.

Cohen wollte noch etwas sagen, wusste aber gar nicht, was. Er wusste ja noch nicht einmal so recht, was er fühlte. Sein Herz frohlockte, weil er wieder bei Desiderius sein konnte, trotzdem zog es ihn weiter zu Bellzazar hin. Und es schmerzte ihn, dass sein Fürst ihn von sich stoßen wollte.

»Er ist eifersüchtig«, murmelte Korah plötzlich mit einem Grinsen in der Stimme und legte seinem Schöpfer eine Hand auf die Brust, »er platzt gleich vor Zorn.«

Bellzazar presste die Lippen zusammen und konterte mühsam beherrscht: »Halt den vorlauten Schnabel, oder ich schmeiß dich vom Gipfel.«

Cohen schmunzelte verstohlen und lehnte sich wieder an Bellzazar, der keine Anstalten machte, irgendeine körperliche Zuneigung zu ihm zu bekunden. »Er kommt eindeutig nach dir«, neckte Cohen ihn.

Und Bellzazar schnaubte, legte aber die Wange auf Korahs Scheitel, wie es nur ein liebender Vater tun würde.

*~*~*~*

»Mein Name ist Doragon. In der Sprache unserer Stämme bedeutet es Drache. Es tut mir leid, dass ich nach Euch geschnappt habe, aber Ihr standet zwischen mir und meinem Schützling. Ich schwor ihm bei meinem Leben die Treue – und ihr wart mir im Weg. Aber ich habe Euch nicht runtergeschluckt, Eure Gefährten übertreiben etwas.«

Desiderius stieg schmunzelnd durch das Unterholz, Doragon wollte ihm etwas zeigen, von dem er glaubte, Desiderius würde es nur glauben, wenn er es selbst sähe. »Ich mache dir keinen Vorwurf, ich war der Dummkopf, der sich vor das Maul eines Drachen warf. Genauso gut hätte ich mich mit ein paar Gewürzen garnieren können.«

»Davon muss ich immer niesen.«

Sie lachten beide. Unsicher und noch etwas verkrampft, aber sie lachten. Und es war befreiend, zu spüren, dass keinerlei Groll ihr Aufeinandertreffen verdüsterte. Ragon hatte glücklicherweise Rahffs frühere Besonnenheit geerbt, von Desiderius` übergroßem Stolz hatte er nichts abbekommen, dafür aber den Drachen in sich.

Es war verrückt, absolut unglaublich, dass er existierte und sie sich unterhielten. Desiderius konnte das alles noch gar nicht so richtig begreifen, er wusste auch gar nicht ob er sich fürchtete oder sich freute. Man stand ja nicht alle Tage vor einem verlorenen Sohn, der aus einem Ei geschlüpft war, und den man mit einem anderen Mann geschaffen hatte. Einem Mann, den man einst wegen Verrats gerichtet hatte.

Schuldbewusst griff sich Desiderius an die Brust und umfasste Nebelkralles alte Kette und die Ringe, die Rahff für sie angefertigt, ihm aber nie gegeben hatte. Trauer und Wut überkamen ihn, aber er zügelte seinen Zorn auf sich und die Welt.

Was war er doch dumm gewesen, zu glauben, Suto und das Ei wären einfach so aus der Welt. Er hätte nach beiden suchen müssen! Doch damals war es einfach, daran zu glauben, Suto sei gestorben. Er hatte es sich eingeredet, um nie wieder daran denken zu müssen.

»Es tut mir leid, dass ich nie nachgeforscht habe, was aus euch geworden ist«, hörte er sich sagen, ohne sich bewusst gewesen zu sein, dass er es hatte sagen wollen. Aber er meinte es ehrlich, heute bedauerte er es zutiefst, vor allem wenn er sich ansah, was für ein stattlicher Mann vor ihm stand, in dessen Augen eine Erfahrung innewohnte, die ihn sogar ein wenig einschüchterte.

Doragon ging um eine Tanne herum, blieb dann stehen und wandte Desiderius das Gesicht zu. Er hatte die Maske nicht wieder übergestreift und in seinem Blick stand Vergebung. »Ihr habt es selbst gesagt, Ihr wart jung – und es gingen schreckliche Dinge in Eurem Königreich vor, von denen wir sogar bis nach Zadest hörten. Ihr hattet ein Schicksal zu erfüllen.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin nicht verbittert, König Desiderius. Das heißt, ich war es, aber das ist lange her. Heute bin ich erwachsen und habe meinen Frieden damit gemacht. Ich wollte nie Teil Eures Lebens sein. Ich fragte mich immer, wer Ihr wohl seid und was für ein Mann aus Euch geworden ist, was Ihr wohl zu mir gesagt hättet. Aber ich wollte nie …« Er brach ab und schüttelte seufzend den Kopf. »Ich hatte ein Leben, ein eigenes Leben. Zadest war meine Heimat und die Tiermenschen waren mein Volk. Und ihretwegen bin ich hier. Nicht, um irgendetwas von Euch für mich selbst zu erbitten, nicht einmal, um Euch zu treffen. Nur um den Westen um Hilfe zu ersuchen. Nicht für mich, sondern für die Völker meiner Heimat. Und wir brauchen den gesamten Westen, nicht Euch im Einzelnen.«

Desiderius hätte von den Worten vielleicht gekränkt sein sollen, aber das war er nicht, er lächelte lediglich und reckte das Kinn ein wenig vor. »Jetzt ist es fast, als stünde dein Vater vor mir, Doragon.«

»Ragon«, korrigierte er und neigte leicht das Haupt, »wenn Ihr wünscht, mein König.«

»Nennen deine Stammesbrüder dich so?«, fragte Desiderius interessiert.

»Ähm ja… aber den Namen gab ich mir selbst.«

»Oh. Ach so?«

»Ja…« Nun wirkte Doragon doch tatsächlich ein wenig schüchtern, als er sich im Nacken kratzte. »Wisst Ihr… Ragon. Rahff. Das klang ein wenig ähnlich…« Er räusperte sich unbehaglich und zuckte mit den Schultern. »R.A. Es war das Einzige, was irgendwie von ihm blieb, oder? Na ja, ich und diese beiden Buchstaben. Damals war es einem ruhelosen Jungen wichtig, und heute ist Ragon einfach mein Name.«

Neugierig legte Desiderius den Kopf schief. »Und welchen Familiennamen bevorzugst du?«

»Keinen, mein König. Ich bin einfach Ragon, schon mein ganzes Leben.«

Desiderius schnaubte amüsiert. »Also schön. Ragon. In Ordnung. Aber lass den Quatsch mit dem Verbeugen und diesem Königs-Ding. Du hast es selbst gesagt, deine Heimat ist Zadest, und dein Volk ist dein Stamm – ich bin nicht dein König, Ragon, ich will es auch nicht sein.«

Das brachte Doragon – Ragon dazu, die Augen zu verengen, aber er nickte einmal knapp.

Natürlich herrschte noch gesunder Argwohn auf beiden Seiten, immerhin waren sie sich trotz allem gänzlich fremd. Und es hatte eine Zeit gegeben, da hätte Desiderius nicht einmal seinem eigenen Schatten vertraut, geschweige denn einem Verwandten. Doch Wexmell hatte ihn gelehrt, auch mal auf sein Herz zu vertrauen, darauf, was es ihm sagte, und dieses wollte sich gegenüber diesem Fremden regelrecht öffnen. Es war so seltsam, als würde er wieder vor dem jungen Rahff stehen, und natürlich kamen dabei allerlei Gefühle auf.

»Wir sollten weiter gehen«, schlug Ragon vor. Desiderius nickte und bedeutete ihm, voran zu gehen. Ragon drehte sich um und kämpfte sich weiter gewissenhaft durch das Unterholz, wobei er sich weniger einen Weg bahnte, als vielmehr trotz massigem, riesigem Körper der Umgebung anpasste. Selten knickte ein Zweig oder auch nur ein Blatt ab, wenn er durch den Wald schlich.

All das nahm Desiderius ganz deutlich wahr, er beobachtete den Fremden ganz genau, um ihn kennen zu lernen. Ragon wusste, sich durch den Wald zu bewegen, sogar noch besser als er. Er war wie ein schleichender Bär, der immer darauf achtete, Mutternatur nicht zu schaden. Er respektierte den Wald, vom kleinsten Grashalm bis zum größten Baum, liebte ihn wie eine Mutter, das sah man auf den ersten Blick. Ein Mann, der eindeutig im Dschungel und unter Völkern aufgewachsen war, deren Gott und deren Glaube die Wälder waren.

Aber nicht nur das fiel Desiderius auf, auch bei ihrem Gespräch achtete er ganz genau auf Ragons Worte und auf das, was sie beinhalteten. Er war zurückhaltend, vorsichtig – aber nicht verschlossen. Er wollte Desiderius` Vertrauen gewinnen, erzählte persönliche Dinge von sich und antwortete ohne zu zögern auf alle Fragen, wobei er ehrlich blieb, selbst wenn die Antwort Desiderius vielleicht nicht gefiel, jedoch war er dabei immer höflich.

Klug. Das war er. Sehr klug. Und er schien mit Königen, die nicht die seinen waren, Erfahrung zu haben. Er benahm sich vorbildlich distanziert, aber offen, und das obwohl er vermutlich jeden Grund hätte, Desiderius etliche Vorwürfe zu machen.

Des Weiteren ging er voraus und drehte Desiderius ohne zu zögern den Rücken zu. Er war ein wenig angespannt dabei, drehte sich aber niemals nervös zu ihm um, als wollte er ihm zeigen, dass er ihm vertraute, und Desiderius auch ihm vertrauen konnte. Er trug auch keine Waffen, die hatte er bei der Ruine gelassen.

Der Wald wurde wieder lichter und Desiderius holte auf, nebeneinander gingen sie weiter. Herabgefallene, trockene Äste knackten unter ihren Schritten, es wurde wärmer, der Morgen ging in den Mittag über, und er fragte sich, ob es Wexmell gut ging.

Mir geht es gut, Liebster, sagte er in Gedanken und hoffte, sie würden seinen Prinzen erreichen. Ich komme zurück zu dir. Ich. Komme. Immer. Wieder. Zurück. Zu. Dir.

Erst an zweiter Stelle trat die Sorge an seine Kinder, die vermutlich umkamen vor Angst um ihn.

Er dachte immer zuerst an Wex, so war das leider. Sie liebten ihre Kinder ohne Grenzen, aber die Liebe zu einander war schon immer die stärkste Macht gewesen.

Und jetzt war Cohen wieder da. Das änderte natürlich nichts zwischen ihm und Wexmell, rein gar nichts. Aber … es war seltsam. Einfach seltsam. Er könnte nicht glücklicher sein, und doch wusste er, dass es nichts ändern würde, außer einem Ende der Schuld, weil Cohen für ihn gestorben war, und ein Ende der Trauer.

Was Wex wohl sagen wird, wenn er Cohen sieht?

Desiderius vertrieb die Gedanken, er würde es auf sich zukommen lassen. Wexmell würde Cohen vermutlich umarmen, so war er eben einfach. Aber gerade war Desiderius sogar froh, dass Ragon ihn von Cohen ablenkte.

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